Christen auf dem Egotrip
Der Individualismus in der Gemeinde

Stephan Holthaus

© Brunnen-Verlag, online seit: 17.07.2004, aktualisiert: 14.01.2018

Individualismus – ein Phänomen unserer Zeit

Der Individualismus der Moderne prägt uns alle, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. Er führte zu einer veränderten Gesellschaft: Nicht mehr die Gemeinschaft und die Traditionen bestimmen das Verhalten, sondern der Einzelne. Der Mensch hat sich an die Stelle Gottes gesetzt und regelt eigenmächtig sein Schicksal. (S. 71)

Gemeinde brauche ich nicht!

Einen zunehmenden Individualismus beobachtet man auch in Kirchen und Gemeinden. Auch hier zeigt sich die Tendenz, dass der Einzelne seine Autonomie fordert. Man lässt sich nicht mehr reinreden, möchte autonom entscheiden. Jeder lebt seinen Glauben nach der ihm eigenen Überzeugung. Auf die Frage, ob man auch ohne Kirche Christ sein könne, antworteten 1992 80% der Deutschen mit „Ja“ [Umfrageergebnisse „Was glauben die Deutschen“, Emnid-Institut, Bielefeld, 1992, S. 72]. Der Soziologe James Davison Hunter urteilt über den amerikanischen Evangelikalismus, dass er von einem individualisierten Konzept des Heils und einem subjektivistischen Glaubensbegriff geprägt sei, der sich frappant mit Entwicklungen der Gesellschaft deckt [James Davison Hunter, American Evangelicalism: Conservative Religion and the Quandary of Modernity, New Brunswick: Rutgers University Press, 1983, S. 8]. Man akzeptiere keine Autoritäten mehr. Deshalb sei der Evangelikalismus ohne eigentliche Führung und würde nur durch den Einfluss einiger Starprediger, Starevangelisten und überkonfessioneller Institutionen zusammengehalten.

Viele Christen schotten sich mittlerweile ab, bleiben unverbindlich, leben ihr religiöses „Cocooning“. Man möchte alles ausprobieren, aber für nichts haften. Christliche Gästehäuser müssen immer mehr Einzelzimmer bauen, denn niemand will mehr mit anderen das Zimmer teilen. Man zieht sich zurück, müde der vielen Belastungen des Alltags, schließt die Tür zu, will alleine sein. Individualisten sind lieber Beobachter, Zuschauer in der Gemeinde. Man hockt nur mit den Leuten zusammen, die auf der gleichen Wellenlänge liegen. Immer mehr Gemeinden klagen über die Unverbindlichkeit ihrer Mitglieder. Pflichtbewusstsein fehlt. Man macht nur noch, was Spaß macht oder was „mir etwas bringt“. Eingeladene Prediger oder Gruppen stehen unter der Woche vor leeren Rängen. Gemeindegruppen suchen händeringend Mitarbeiter. Manche Gemeinden haben viele Gottesdienstbesucher, aber wenig Mitglieder. Man hält sich mit verbindlichem Anschluss vornehm zurück, man beobachtet, konsumiert, hält sich sein Schäfchen im Trockenen. Nur keine Bindungen bitte, das engt mich ein. (S. 65–66)

Überhaupt gibt es kein Christsein ohne Gemeinde, ohne die geistliche Gemeinschaft der Gläubigen. Die Bibel spricht deutlich von der koinonia, der brüderlichen Gemeinschaft der Kinder Gottes. Christliche Existenz kann nicht im Eremitendasein geführt werden. Miegel und Wahl stellen mit Recht fest: „Religionen wirken gemeinschaftsbildend [Miegel/Wahl, S. 35].“ Anders kann christlicher Glaube nicht recht existieren. Aber es geht um richtige Gemeinschaft. Die Sehnsucht nach Sinn drückt sich in unserer Gesellschaft in der Sehnsucht nach Gemeinschaft aus. Wir haben ein Bedürfnis nach Nähe, Wärme, Liebe und Zärtlichkeit. Diese Bedürfnisse tragen viele Christen automatisch in die Gemeinde hinein. Hier verlangt man die Stillung der individuellen Sehnsüchte. Gemeinschaft ist deshalb in, aber ihre Motive sind wenig biblisch. Es geht um mich selbst, nicht um den anderen. (S. 77)

Mal schauen, welche Gemeinde mir gefällt

Gemeindetourismus ist in: heute hier, morgen woanders. Je nachdem, wo etwas los ist oder welche Gemeinde besser zu mir passt. Diese neue Spezies der „Zaunschleicher“ nimmt rapide zu. Die Bindungen an übergemeindliche Bünde lassen dagegen rapide nach. So schießen die unabhängigen Gemeinden wie Pilze aus dem Boden. Sie sind Ausdruck einer individualisierten Zeit, auch wenn sie sich noch so bibeltreu geben. Die traditionellen kirchlichen Strukturen sind unbeliebt und vielen in den Gemeinden unbekannt. Zu welcher Denomination gehöre ich überhaupt? Es gibt keine konfessionellen Identitäten mehr, auch nicht in den Freikirchen. Die konfessionelle Vielfalt und Unübersichtlichkeit sind Ausdruck des neuen religiösen Individualismus. (S. 66)

Horx spricht von einer „Egoisierung des Glaubens“ [Matthias Horx, Trendbüro, Trendbuch 2: Megatrends für die späten neunziger Jahre, Düsseldorf: Econ, 1995, S. 103]: „Statt in der Kirche vor dem Altar zu knien, bauen wir uns zu Hause eine Kultstätte. Statt der christlichen Bilder inszenieren wir eine private Ikonographie mit 'persönlichen Devotionalien'. Statt des 'einzigartigen Gottes' basteln wir uns einen Instant-Gott“ [ebd]. Oder noch besser, weil werbewirksam, das Zitat aus dem Benetton-Magazin: „Wenn Götter an unserem Leben teilnehmen wollen, müssen sie sich unserem Lebensrhythmus anpassen. (S. 67)

Was bringt mir der Glaube?

In unserer Zeit hat sich in evangelikalen Gemeinden der Glaube erheblich verändert. Glaube ist nicht mehr Vertrauen in historische Tatsachen, sondern praktische und effektive Lebenshilfe. Der Glaube hilft mir, ein glücklicher Mensch zu werden und ein glückliches Leben zu führen. Komm zu Jesus, und du wirst happy. Die Frage aller Fragen ist: Was bringt mir mein Glaube? Werde ich durch Jesus glücklich? Es geht nicht mehr um die Rechtfertigung, um die Versöhnung des Menschen mit Gott, sondern um mein persönliches Glück und meine Selbstverwirklichung. Der Glaube ist „mein“ Glaube, individuell gestaltet und zusammengestellt. (S. 67)

Der Herr hat mir klargemacht!

Die Betonung des persönlichen Glaubens hat zudem eine Subjektivierung der Heiligung zur Folge. Die individuelle Führung durch den Heiligen Geist wird betont, eine Überzeugung, die von anderen nicht hinterfragt werden kann. „Der Herr hat mir klargemacht“ ist eine Formulierung, die durch nichts und niemanden überprüft werden kann. Man akzeptiert persönliche Wegführung so, als ob es keine allgemeingültigen Pläne Gottes für alle Menschen gäbe. Man ist nicht mehr an der Weltregierung Gottes interessiert, denn man beschränkt sich auf die persönliche Gottesbeziehung. Der Kokon der persönlichen Frömmigkeit wird wie die letzte Bastion verteidigt, an die niemand herankommen darf. Der Glaube ist total individualisiert worden. (S. 67)

Im Hauskreis fühle ich mich aber wohl

Aber auch in anderen Bereichen zeigt sich eine zunehmende Individualisierung des Glaubens: Hauskreise, so notwendig und gut sie sind, stehen in der Gefahr, zu Clübchen von Individualisten zu werden. Man zieht sich mit seinen gleichgesinnten Freunden in die Kuschelwelt des Wohnzimmers zurück und will in Ruhe gelassen werden. Die Gemeindeleitung weiß oft nicht, was in den Hauskreisen läuft. Der Hauskreis wiederum kann auf Einwirkungen von außen gut verzichten. Als Außenstehender hat man sowieso kaum Chancen, in einen solchen Exklusivzirkel aufgenommen zu werden. So verselbständigen sich die Kleingruppen, werden zu einer Gemeinde in der Gemeinde und zu Treffpunkten des individualisierten Glaubens. Dabei ist gegen das Konzept des Hauskreises nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Die Vorteile der persönlichen Atmosphäre treffen die Sehnsucht der Menschen und sollten unbedingt genutzt werden. Aber Vorsicht: Der Rückzug in die eigene Innerlichkeit und die fehlende Verbindung zur Gesamtgemeinde sind eine große Gefahr. Die Wasserscheide ist schmal. (S. 67–68)

Gemeinden müssen sich in Zukunft auch gegen den frommen Gruppenindividualismus zur Wehr setzten. Hauskreise nutzen die familiäre Atmosphäre für missionarische Begegnungen, führen jedoch die Gläubig-Gewordenen zur Gesamtgemeinde und zur verbindlichen Mitarbeit, sonst haben sie ihren Sinn verfehlt. Eine Abschottung der Hauskreise muss verhindert werden. Gerhard Schmidtchen hat es in Bezug auf die Cliquen in der modernen Jugendkultur auf den Punkt gebracht: „Gruppen sind nicht generell ein Heilmittel für die Gesellschaft, garantieren nicht ihren Zusammenhang, sondern sie können auch Desintegration herbeiführen, sie können Konfliktherde bilden“ [Gerhard Schmidtchen, Wie weit ist der Weg nach Deutschland?: Sozialpsychologie der Jugend in der postsozialistischen Welt, 2. Aufl. Opladen: Leske und Budrich, 1997, S. 141]. Der Exklusivismus einer Gruppe kann zum Entstehen von Konflikten führen, die sich keine Gemeinde leisten kann. Wenn nach dem Gottesdienst doch immer nur die Klübchen der Gleichgesinnten zusammenstehen, wenn Ortsgemeinde am Ende doch bloß nur der gemeinsame Name für Dutzende von internen Subkulturen ist, haben wir den Sinn von Gemeinde nicht verstanden (S. 77).

Nimm mich nicht in die Pflicht!

Die Folgen des Rückzugs in die Innerlichkeit werden offenbar: Man kennt sich nicht mehr in der Gemeinde. Die Anonymität nimmt besonders bei Großstadtgemeinden zu. Man will sich auch nicht mehr kennen. Wie schwer fällt es uns, auf neue Leute im Gottesdienst zuzugehen. Wir haben Angst, dass wir in die Pflicht genommen werden. Am Ende muss man sich noch um diese Person kümmern – das engt ein und verpflichtet. Neuankömmlinge klagen, dass niemand sie in der Gemeinde begrüßt. Wir haben alle so viel mit uns selbst zu tun. (S. 68)

Dafür habe ich keine Gabe

Eine andere Facette des zunehmenden gemeindlichen Individualismus wird an der gabenorientierten Gemeindewachstumsbewegung deutlich. Immer mehr Gläubige beschäftigen sich mit ihren geistlichen Gaben. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn es ausgewogen geschieht. Die Bibel spricht klar und deutlich von individuellen Geistesgaben, die Gott den Gläubigen gegeben hat. Problematisch wird die Sachlage jedoch, wenn persönliche Gaben losgelöst von der Gesamtgemeinde und der Korrektur durch Mitchristen ins Spiel gebracht werden. Plötzlich werden Gabenträger zu unfehlbaren Amtsträgern, die ihre individualistischen Ziele und Projekte für die Gesamtgemeinde verbindlich machen möchten. „Der Herr hat mir die Gabe der Predigt gegeben, deshalb muss ich auf die Kanzel.“ Noch schlimmer wird es, wenn vorhandene Gaben als Ausrede und Vorwand genommen werden, sich anderen Aufgaben zu entziehen, die nicht den eigenen Gaben entsprechen. Da müssen unbedingt einige Reparaturen am Gemeindehaus getan werden. Kaum einer findet sich für diese Aufgaben, denn die meisten meinen, dass sie ja keine praktischen Gaben von Gott bekommen haben. Gleiches gilt für die Evangelisation: Eine Freiversammlung oder Tür-zu-Tür-Aktion bekommt kaum Zulauf, weil plötzlich alle meinen, keine evangelistische Gabe zu haben. Die individuelle Gabe wird dadurch vom Gesamtzusammenhang der Gemeinde und damit von ihrer Dienstfunktion gelöst. (S. 68–69)

Bei allen positiven Seiten der modernen Gabentheologie muss deshalb beachtet werden: Früher fragte man weniger nach den eigenen Gaben, sondern packte dort an, wo es nötig war. Vielleicht weniger professionell als heute, aber mit dem nötigen Elan und mit Bereitschaft. Heute spiegelt man erst seine Befindlichkeiten wider und tut nur das, wozu man meint, befähigt zu sein – sprich: Lust zu haben. Diese Einstellung hat aber mehr mit modernem Individualismus als mit gabenorientierter Gemeindearbeit zu tun. Ich befürchte deshalb, dass die ganze Gabentheologie der Moderne zu wenig den zersetzenden Einfluss des Individualismus berücksichtigt. (S. 69)

Bringt mir das Predigtthema etwas?

Die wachsende Individualisierung des Glaubens zeigt sich zudem in der Predigt. Die heutigen Predigten in evangelikalen Gemeinden drehen sich in erster Linie um Fragen des menschlichen Ichs. Immer wieder tauchen Themen auf wie „Beziehungen“, „Mann-Sein“, „Frau-Sein“, „Single und Christ“, „Konfliktbewältigung“, „Selbstbewusstsein“, „Selbstwertgefühl“ usw. Bei Evangelikalen sind die großen Themen die „Ich-Themen“: Erziehung, Männer, Frauen, Stille, Gott begegnen, Erfahrungen, Freundschaft und Spiritualität. Merken wir denn nicht, dass es bei all diesen Themen nur um uns Menschen geht? Zwar fromm eingekleidet, reden wir noch von Gott, aber wir meinen insgeheim uns selbst. (S. 69)

Was hat mir der Vortrag gebracht?

„Ihre Predigt hat mich angesprochen“ – wie oft höre ich diesen Satz an der Ausgangstür der Gemeinde. Wie gut tut das dem Prediger. Aber was bedeutet dieser Satz wirklich? Gerne würde ich einmal in solchen Momenten in die Gedanken dieser Person schlüpfen. Hat das Wort den Zuhörer nur bestätigt, oder hat es auch in Frage gestellt? Wäre auch eine Gerichtspredigt „ansprechend“? Welcher Maßstab wird hier angelegt? Einige behaupten, nur eine praktische Predigt, die in die konkrete Situation jedes einzelnen Zuhörers hineinspricht, sei eine gute Predigt. Muss jedoch jede Predigt jeden Zuhörer ansprechen? Reicht es nicht, wenn andere durch die Predigt gesegnet werden? Muss der Gottesdienst mir immer etwas bringen? Geht es nicht in erster Linie um Gott und seine Ehre? Ist der Gottesdienst Bedürfnisbefriedigung oder Dienst an und für Gott? (S. 69–70)

Diese Lieder gefallen mir

Die Ich-Mentalität zeigt sich auch in den neuen christlichen Liedern. Kein Wort kommt darin so oft vor wie das kleine Wörtchen „ich“ mit seinen Ableitungen. „Ich“ will mehr von Gott. „Ich“ will Erweckung. „Ich“ will mich bei Gott entspannen. Pausenlos bespiegeln wir in den Ohrwürmern der modernen Frömmigkeit unsere eigene Beziehung zu Gott. Wir drehen uns ständig um die eigene religiöse Achse – und fühlen uns dabei so wohl wie nie zuvor. (S. 70)

Meine Gefühle zu Gott sind blockiert

Ein Ausdruck der neuen Individualkultur ist auch die Seelsorgebewegung. Mir geht es dabei nicht um eine Polarisierung zwischen Psychologie und Seelsorge. Wichtiger ist etwas anderes: Warum beschäftigen wir uns denn überhaupt seit zehn Jahren so intensiv mit diesen Themen? Warum werden wir mit Tausenden von Büchern zum Thema Lebenshilfe überschüttet, auch in frommen Kreisen? Warum sprechen heute viele Christen von inneren Verwundungen und innerer Heilung? Warum gibt es eine Legion von“Ich-Büchern“ in christlichen Verlagen? Natürlich deshalb, weil der Mensch hier große Defizite hat, auch in christlichen Gemeinden. So schulen wir uns in Gesprächstherapie und machen ein zusätzliches Diplom in Seelsorge. Bei aller berechtigten Schulung auf diesem Gebiet besteht jedoch die große Gefahr: Wir kreisen dadurch noch mehr um uns selbst und geben den Notleidenden nur partielle Hilfen. Wir reden uns plötzlich Dinge ein, die überhaupt nicht da sind. Wir nehmen uns viel zu wichtig. Statt durch die Gottesbeziehung heil zu werden, flüchten wir in die menschliche Beziehung. Die Seelsorge wird zum Fetisch der subjektiven Frömmigkeit. (S. 70)

Überall geht es um mich, um meine Begegnung mit Gott. Überall thematisiert man persönlichste Gefühle, Erfahrungen, Erlebnisse, Eindrücke, Ängste, Spiritualität. Man darf sich „outen“. Wehe, wenn Christen nicht Schwachheit und Zerbruch erlebt haben – man bekommt ja fast ein schlechtes Gewissen. „Lass alles raus, deinen Frust, Ärger, alles was dich blockiert“, so heißt es. „Sei ehrlich zu dir selbst“, lautet die Parole. Aber es sind nicht die Gefühle Gottes, sondern die Gefühle des Menschen, die thematisiert werden. Es dreht sich um den Menschen, um die Beziehung des Menschen zu Gott statt um die Beziehung Gottes zum Menschen. Es geht immer nur um die Vertiefung des persönlichen Glaubens – gewiss eine positive Intention. Aber interessant: Die Dogmatik kommt zu kurz. Meint man denn wirklich, man könne das persönliche Glaubensleben transformieren, ohne biblische Lehre? Meint man denn wirklich, man könne Kampf und Auseinandersetzung außen vor lassen, um das Christsein zu vertiefen? (S. 70–71)

Beschäftigt sich das Buch mit meinen Problemen?

James D. Hunter untersuchte schon 1983 die acht bekanntesten evangelikalen Verlage Amerikas. Sein Ergebnis lautet: 87,8 % der Bücher beschäftigten sich mit dem menschlichen Selbst [Hunter, S. 175). Bücher zum Thema Lebenshilfe standen damals schon ganz oben auf der Beliebtheitsskala. Eine schnelle Durchsicht des deutschsprachigen christlichen Büchermarktes würde zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Beziehungsfragen, Erziehungsthemen, Unterhaltungsromane, Stories, Biographien etc. etc. Auch der Christ ist gefangen in der gesellschaftlichen Individualismusspirale. Sein Glaube ist an diesem Punkt nichts anderes als ein Zeitgeistglaube. (S. 71)

Ich und mein Gott

Diese Individualisierung des Glaubens ist nicht nur durch die Aufklärung, sondern auch durch den Pietismus und die Erweckungsbewegung vorangetrieben worden. Die Erweckungen haben immer betont, dass der Einzelne sich bekehren und eine persönliche Beziehung zu Gott bekommen muss. Aus dieser völlig richtigen biblischen Einsicht wurde jedoch in der Gegenwart eine Verdrehung: Der Einzelne entscheidet jetzt auch, wie seine Beziehung zu Gott auszusehen hat. Er bestimmt, wann er sich entscheidet, mit Gott anzufangen. „Ich habe mich bekehrt“ – so heißt es selbstbewusst am Ende des 20. Jahrhunderts. Nicht mehr die Versöhnungstat Christi und die Gnade Gottes sind die Träger und Fundamente des Heils, sondern meine individuelle Entscheidung für Gott. Fragt man Christen nach dem Grund ihrer Heilsgewissheit, geben viele ihr Bekehrungserlebnis an, statt auf Christi Versöhnungstat hinzuweisen. Der erlebte Glaube wird wichtiger als der historische Glaube. Die individuelle Gottesbeziehung siegt über Gottes universellen Heilsplan. Evangelikaler Glaube steht in der Gefahr, zum Individualismusglauben zu erstarren. „Ich und mein Gott“, heißt die Parole. (S. 76)

Noch einmal sei deutlich gesagt: Gott hat jeden Menschen originell und individuell geschaffen. Aber Christen sollen nicht individualistisch leben, sondern sich für andere einsetzen. Ihr Lebensstil ist von Pflichtbewusstsein und sozialem Handeln geprägt. Sie isolieren sich nicht, sondern stehen mit beiden Beinen in der Welt. Es geht ihnen nicht um sich, sondern um Gott und eine Ehre: „Er muss zunehmen, ich aber muss abnehmen“ (Joh 3,30) [Hervorhebung durch die Red.]. Evangelikale Christen leben keinen individualistischen Glauben. Ihr Glaube ist gegründet in historischen Heilstatsachen, nicht in persönlichen Erlebnissen. Glaubenszeugnisse sollen nicht mein religiöses Ich widerspiegeln, sondern sollen Christus verherrlichen und eine Größe und Güte deutlich machen. Gabenorientierte Gemeindearbeit hält die Balance zwischen individueller Gabe und kollektiver Pflicht. Beides ist nötig. (S. 76–77)

Wird mein persönliches Problem gelöst?

Es geht grundsätzlich in unserem Leben – auch in unserem Gemeindeleben – nicht um die Lösung persönlicher Probleme. Lawrence Crabb hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass es darum geht, Gott zu suchen, nicht uns selbst. Crabb kritisiert: „Es ist zur Hauptaufgabe der Gemeinde geworden, dem Menschen zu einem gesunden Selbstwertgefühl zu verhelfen. Wir lernen nicht mehr, Gott anzubeten, uns selbst zu verleugnen und uns den Dienst etwas kosten zu lassen, sondern wir lernen, das Kind in uns in den Arm zu nehmen, unsere Erinnerungen zu heilen, Abhängigkeiten zu überwinden, Depressionen zu lindern, unser Selbstbild zu verbessern, uns abzugrenzen, um unser Selbst zu schützen, Selbsthass gegen Selbstliebe auszutauschen und unsere Schamgefühle durch ein Gefühl der Selbstannahme zu ersetzen … Sich besser zu fühlen ist ein wichtigeres Ziel geworden, als Gott zu suchen. Und, schlimmer noch, wir meinen, dass Menschen, die Gott suchen, sich auch immer besser fühlen müssten“ [Lawrence J. Crabb, Glück suchen oder Gott finden? Unterscheidungshilfen in der Welt des Kuschelchristentums, Basel: Brunnen, 1996, S. 15]. (S. 78–79)

Christus – nicht ich!

In der Welt des Individualismus wird es deshalb zur entscheidenden Aufgabe werden, selbstlose biblische Gemeinschaft zu leben, Orte zu schaffen, an denen gesellschaftliche und gemeindliche Kommunikation stattfinden kann, wo sich Menschen zwanglos treffen und austauschen können, ohne sich selbst verwirklichen zu wollen. Wir müssen wieder lernen zuzuhören, aus selbstloser Agape-Liebe heraus das Wohl des anderen zu suchen. Wenn wir rückhaltlos nicht unsere Sympathie, sondern Gott in die Mitte unserer Gemeinschaft stellen, wird die Kirche Jesu Christi eine Kontrastgesellschaft werden. Die Basis und die Kraft dieser universalen Gemeinschaft ist Christus selbst, nicht unser Bedürfnis nach Geborgenheit (S. 79].


Mit freundlicher Genehmigung des Brunnen-Verlages
Auszüge aus dem Buch: Trends 2000 von Stephan Holthaus
Brunnen Verlag 2. Aufl. 1998, ISBN 3-7655-1141-2
(Überschriften eingefügt von der SoundWords-Redaktion)


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