Die Textgrundlage des Neuen Testaments (8)
D) Vergleichende Ausgaben

Martin Arhelger

© M. Arhelger, Online începând de la: 29.09.2006, Actualizat: 05.04.2021

Das Ergebnis der Untersuchung von Textus Receptus, Mehrheitstext und den wissenschaftlichen Ausgaben ist zunächst ernüchternd: Ihnen allen kann kein uneingeschränktes Vertrauen entgegengebracht werden. Das trifft auch auf die wissenschaftliche Ausgabe von Nestle-Aland zu, obwohl hier aus unserer Sicht und nach detaillierter Prüfung aller Stellen in vielen Fällen richtig entschieden wurde. Durch den umfangreichen Fußnotenapparat kann sich zudem jeder Interessierte oder auch wissenschaftliche Leser und Übersetzer selbst ein Bild machen.

Genau das muss die Konsequenz aus der bisherigen Betrachtung sein: Zur sicheren Gewinnung einer vertrauenswürdigen Textgrundlage des Neuen Testaments sollte man Nestle-Aland mit allen seinen aufgeführten Fußnoten zusammen mit anderen Textausgaben wie Textus Receptus und Mehrheitstext heranziehen. Jede Einzelausgabe hat, wie wir gezeigt haben, Schwachstellen und nachweisbare Fehler. Durch den Vergleich einzelner Stellen kann man jedoch feststellen, dass an Stellen, bei denen es um biblische Wahrheiten geht, in aller Regel die modernen wissenschaftlichen Ausgaben den besten Text bieten. Diese Grundregel darf jedoch nicht mechanisch Anwendung finden, da es auch hier Ausnahmen gibt.

Daher sind verantwortungsbewusste und ernsthafte Bibelübersetzer immer folgendermaßen vorgegangen: Sie haben an relevanten Stellen die gesamte Textbezeugung im Blick gehabt. Bei wichtigen Stellen sind dann aus inneren, inhaltlichen Gründen Entscheidungen getroffen worden. Viele Übersetzer und Ausleger haben Mangelhaftigkeit des Textus Receptus und junger Lesarten im Mehrheitstext erkannt. Daher haben sie die wissenschaftlichen Ausgaben ihrer Zeit zugrunde gelegt, ohne ihnen sklavisch zu folgen.

Elberfelder Version 2003

Die Überarbeiter der sogenannten „Elberfelder Bibel“ (Neues Testament) hatten genau dieses Ideal vor Augen. Angesichts der Schwachstellen und Mangelhaftigkeit von Textus Receptus und Mehrheitstext haben sie ihrer Überarbeitung die wissenschaftliche Ausgabe von Nestle-Aland zugrunde gelegt, ohne die beiden anderen Ausgaben zu ignorieren. Daher haben sie auch an ca. 700 Stellen andere Lesarten gewählt als Nestle-Aland. Den Text von Nestle-Aland haben sie dann in Fußnoten angegeben (an ca. 400 Stellen). Durch eckige Klammern im Text haben sie Stellen gekennzeichnet, die Nestle-Aland nicht im Text, sondern nur im Apparat verzeichnet.[1]

Der zuweilen gehörte Vorwurf, das Neue Testament der Elberfelder Version 2003 sei eine reine Nestle-Aland-Übersetzung, ist somit falsch. Zwar liegt dieser Version der Nestle-Aland-Text zugrunde. Die oben genannte Vielzahl an Stellen, in denen man vom Nestle-Aland abgewichen ist, machen deutlich, dass die Elberfelder Version 2003 als eine vergleichende Ausgabe eine echte Eigenständigkeit aufweist. Im Übrigen kann bestätigt werden, dass ausschließlich gläubige Übersetzer tätig waren, die alle Ansätze der Bibelkritik ablehnen, die die Inspiration und Autorität des Wortes Gottes und seine innere Einheit in Frage stellen.

Untersuchung von Einwänden gegen die Auswahl-Methode

Die oben dargestellte Methode wird hier und da kritisiert. Einige Einwände sollen kurz beleuchtet werden.

Manche Kritiker sagen: Wenn das Neue Testament die Grundlage der christlichen Lehre ist, dann kann man nicht die christliche Lehre verwenden, um den richtigen Grundtext herauszufinden – sonst würde man einem Zirkelschluss erliegen: Man würde das, was man erst beweisen möchte, schon als richtig voraussetzen.

Aber dieser Einwand ist nur sehr oberflächlich betrachtet stichhaltig. Bedeutende Lesartvarianten gibt es nämlich nur an relativ wenigen Stellen des Neuen Testaments. Daher kann die klare Lehre, die wir in den nicht von Lesartvarianten betroffenen Texten haben, benutzt werden, um bei zweifelhaften Lesarten die richtige herauszufinden: Wenn eine Lesart im Widerspruch zur sonstigen Lehre des Neuen Testaments steht, kann sie nicht die ursprüngliche sein. Eine Umkehrung gilt jedoch nicht: Eine Lesart mag zwar den Aussagen der Bibel nicht widersprechen, muss aber deshalb noch nicht ursprünglich sein. Manchmal ist eine Lesart zwar an sich richtig, gehört aber nicht in den Zusammenhang, in dem sie steht: Auch dann handelt es sich offenbar um eine spätere Ergänzung.

Es ist also nicht nur wichtig, irgendwelche Kriterien zur Beurteilung von Lesartvarianten zu haben, sondern solche zu wählen, die tatsächlich tauglich sind. Es gibt auch unbrauchbare Kriterien zur Beurteilung von Lesartvarianten; dazu seien zwei Beispiele genannt:

  1. Die theologische Richtigkeit einer Lesartvariante ist kein Beweis ihrer Ursprünglichkeit. Denn es wäre absurd anzunehmen, dass Abschreiber nur theologisch falsche Aussagen in ihre Abschriften eingebaut hätten. Umgekehrt gilt allerdings: Eine theologisch falsche Lesart kann für einen bibeltreuen Gläubigen niemals die richtige Lesart sein. Allerdings sollte man den Vorwurf, dass eine Lesart theologisch falsch ist, nicht vorschnell fällen. Es könnte nämlich sein, dass man den Text selbst nur für falsch hält, weil man ihn noch nicht richtig verstanden hat, und dass ein früher Abschreiber den Text aus denselben Gründen zu „verbessern“ suchte.[2]

  2. Auch ist die Lesart, die die scheinbar klarste Aussage macht, nicht notwendigerweise ursprünglich. Denn wir dürfen nicht menschliche Maßstäbe (was wir für „klar“ halten) für die Aussagen Gottes verwenden, sondern müssen die „Feder Gottes“ so akzeptieren, wie Er sie benutzt hat. Jeder Bibelleser weiß, dass das Wort Gottes für unsere Begriffe durchaus nicht immer einfach zu verstehen ist.

Ein ernsthaft und verantwortungsvoll arbeitender Übersetzer wird also die vorhandenen und bekannten Lesarten prüfen und eine Entscheidung über die richtige ursprüngliche Lesart treffen.

Ein anderer Kritikpunkt lautet, dass der Übersetzer durch seine Auswahl der Lesarten über die Bibel zu Gericht sitze.

Dieser Vorwurf ist jedoch nicht stichhaltig, da man sich kein Urteil über Gottes Wort anmaßt, wenn man die verschiedenen Lesarten vergleicht und sich für eine Variante entscheidet, die man nach Abwägung textkritischer Kriterien für die ursprüngliche halten muss. Nur eine von den zwei oder mehr Varianten ist ja tatsächlich Gottes Wort. Vielmehr wird der Versuch unternommen, (bewusste oder unbewusste) menschliche Veränderungen des Wortes Gottes einzuordnen, die zu den verschiedenen Lesarten geführt haben.

Vertreter des Textus Receptus vergessen bei ihrem Angriff gegen Vertreter der vergleichenden Methode, dass sie sich damit selbst als Erste verurteilen. Denn auch Verteidiger des Textus Receptus maßen sich die Verurteilung moderner Textausgaben an, obwohl diese zu mehr als 95 % mit dem von ihnen benutzten Text übereinstimmen.

Auch Verteidiger des Textus Receptus kommen nicht umhin, selber Textkritiker zu werden, da es ja den Textus Receptus nicht gibt, wie wir gezeigt haben. Daher müssen auch sie aus den verschiedenen Ausgaben des Textus Receptus denjenigen Text auswählen, der ihrer Meinung nach der ursprüngliche sein könnte. Das ist ebenfalls nichts anderes als Textkritik.[3]

Überhaupt ist es falsch zu meinen, ein Bibelübersetzer könne seinen Text neutral oder objektiv übersetzen, ohne eine Auswahl treffen zu müssen. Jeder Bibelübersetzer muss ständig Entscheidungen treffen: Er muss zum Beispiel entscheiden, welche der vielleicht fünf oder sechs möglichen Bedeutungen eines griechischen Wortes herangezogen werden soll an den Stellen, an denen es vorkommt. Auch Satzzeichen kannte man in früherer Zeit noch nicht, so dass der Übersetzer aus dem Zusammenhang entscheiden muss, wo ein Satz anfängt und aufhört, oder ob es eine Frage oder eine Aussage ist.

Fragen der Übersetzung sind für die Gesamtaussage einer Stelle oft viel bedeutsamer als Fragen der Textkritik. Für 1. Petrus 2,24 ist zum Beispiel die Lesart-Frage (ob es heißen muss, dass der Herr „unsere Sünden“ oder dass Er „eure Sünden“ trug) weniger bedeutsam als die Übersetzungs-Frage, ob man übersetzen soll, dass Er Sünden „am Kreuz“ oder „auf das Kreuz“ trug. Die Übersetzungsfrage entscheidet nämlich darüber, ob der Herr schon vor dem Kreuz Sündenträger war oder dazu erst am Kreuz wurde. Diese Frage richtig zu beantworten und dadurch zu einer verantwortungsvollen und richtigen Übersetzung zu gelangen, erfordert mindestens ebenso viel geistliches Verständnis und Entscheidungsfähigkeit wie die Antwort auf die Frage nach der richtigen Lesart. Das hat aber nichts mit einem Zu-Gericht-Sitzen über das Wort Gottes zu tun.

Es ist auch nicht wahr, wenn man der Textkritik generell den Vorwurf macht, dass sie intellektuelle Entscheidungen über Gottes Wort fällt, Gott könne aber damit, weil Er die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht hat, nicht einverstanden sein. Mit derselben Logik müsste man jeden Bibelübersetzer tadeln, der intensiv und mit wissenschaftlichen Hilfsmitteln die alten Sprachen der Bibel (Hebräisch, Aramäisch und Griechisch) erlernt und erforscht. Dabei sollten wir doch jedes Hilfsmittel begrüßen, das uns helfen kann, die ursprünglichen Sprachen der Bibel besser zu verstehen. Wir dürfen diese Hilfsmittel nur nicht unkritisch verwenden und müssen sie der gesunden Lehre des Wortes unterordnen.

Es ist auch unwahr, wenn man moderneren Textausgaben vorschnell den Vorwurf macht, durch ihre Textauswahl werde das unfehlbare Gotteswort der Willkür preisgegeben, weil jedes neuere Ergebnis der Text-Forschung zu einem veränderten Bibeltext führen könnte. Zunächst einmal sind unterschiedliche Lesarten an wirklich fraglichen Stellen insgesamt gesehen so selten, so dass von einem veränderten Bibeltext auch durch intensive Forschungen nicht ernsthaft die Rede sein kann.[4] Vor allem aber werden hier zwei Dinge verwechselt: Das Wort Gottes an sich ist immer dasselbe gewesen und wird immer dasselbe bleiben. Es steht in Ewigkeit fest in den Himmeln und wird nicht vergehen, auch wenn die Erde vergeht. Das gilt aber nicht von unserer Erkenntnis vom Wort Gottes. Sie ist immer bruchstückhaft und wächst mit zunehmender Klarheit, die Gott schenkt. Selbstverständlich kann ein Neubekehrter nicht so viel Kenntnis haben wie einer, der fünfzig Jahre lang gläubig ist und die Gedanken Gottes erforscht hat.[5] Auch bei Übersetzungen ist das so: Fehler in älteren Auflagen wird man in neueren Auflagen durch bessere Erkenntnis korrigieren.[6] Das liegt nicht daran, dass sich der Text an sich geändert hat, aber sehr wohl hat sich die Kenntnis der Übersetzer an einer solchen Stelle geändert.[7] Bei der zugrunde gelegten griechischen Textbasis ist es nicht anders: Auch hier können zugenommene Kenntnis und Erkenntnis vereinzelt zu einer geänderten Sicht über den wahren Grundtext führen. Das liegt nicht daran, dass sich der Grundtext ändert, sondern wir sehen in einem Punkt heute vielleicht besser und genauer als gestern. Die Textforschung, wie sie am neutestamentlichen Institut in Münster betrieben wird, kann dabei eine Hilfe sein, ihre Ergebnisse wird man aber immer wieder am Wort Gottes messen müssen.

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Anmerkungen

[1] Sie folgen damit dem ersten Haupt-Übersetzer der Elberfelder Bibel, John Nelson Darby. Dieser hat diese Methode Zeit seines Lebens immer angewendet – natürlich auf Basis der damalig verfügbaren wissenschaftlichen Ausgaben. Auch Männer wie W. Kelly, C.E. Stuart und andere sind so vorgegangen.

[2] Es muss betont werden, dass nicht alle Textkritiker davon überzeugt sind, dass die Bibel keine Widersprüche und Ungereimtheiten enthält. Diese Textkritiker können solche „inneren“ Kriterien natürlich nicht durchgehend anwenden. Bemerkenswert ist, dass Leute, die ausschließlich als Wissenschaftler versuchen, einen alten Text zu rekonstruieren, oft zu demselben Ergebnis kommen, wie Gläubige, die versuchen, anhand von geistlichen Kriterien die ursprüngliche Lesart herauszubekommen.

[3] Die Herausgeber der Schlachter Version 2000 Übersetzung sind zum Beispiel auch Textkritiker, denn sie folgen keiner der gedruckten Ausgaben des Textus Receptus ganz genau. Sie haben aus den vorhandenen Ausgaben des Textus Receptus eine eigene Auswahl getroffen. Schlachter Version 2000 folgt zum Beispiel in Mt 21,7; Mk 9,40; Lk 15,26; 17,36; Röm 12,11; 16,20 dem Text von Beza und Elzevir, liest dort aber anders als Stephanus; dagegen liest sie in Lk 10,22; Joh 16,33; Röm 7,6 wie Stephanus, aber anders als Beza und Elzevir; in Mk 8,14; Lk 1,35; Jak 2,18; 1Pet 1,4 ist der Text wie bei wie Stephanus und Elzevir, aber anders als Beza. In Lk 22,45 ist der Text wie bei Elzevir, aber anders als Stephanus und Beza. In Apg 21,8 liest der Text wie Elzevir, aber anders als bei Stephanus und Beza. Es ist nicht klar, nach welchem Kriterium die jeweilige Lesart ausgewählt wurde. Von einem Text, der exakt überliefert sein soll, kann bei dieser Übersetzung somit nicht die Rede sein.

[4] Davon kann sich jeder überzeugen, wenn er zum Beispiel die 4. und 5. Auflage der „Elberfelder“ miteinander vergleicht. In der 5. Auflage wurde „das ganze Neue Testament aufs Neue genau durchgesehen, und zwar diesmal unter besonderer Berücksichtigung der alten Sinaitischen Handschrift“, wie es im Vorwort der 5. Auflage heißt (S. XXI). Einen tiefgreifenden Unterschied wird der Leser jedoch vergeblich suchen.

[5] Die Bibel selbst spricht von solchen, die „der Zeit nach Lehrer“ sein sollten (Heb 5,12) und unterscheidet „Erwachsene“ und „Unmündige“ (Heb 5,14) usw.

[6] Das gilt für alle guten Übersetzungen. In Luthers erster Ausgabe des Neuen Testaments ist im Vergleich zu der letzten Ausgabe zu seinen Lebzeiten (aus dem Jahr 1545) fast kein Satz unverändert gelassen worden. Der große Reformator hat überall gefeilt und verbessert. Auch an der sogenannten „Elberfelder“ ist von Auflage zu Auflage stets verbessert und gearbeitet worden und erst in den 1930er Jahren ist durch die Zeitumstände eine vorläufige Unterbrechung dieser ständigen Revisionsarbeit eingetreten.

[7] Auch Übersetzer des Textus Receptus fallen unter diese Kategorie. Die Herausgeber der Schlachter 2000 – um nur ein Beispiel zu nennen – haben in ihrer 2. Auflage Fehler und Ungenauigkeiten aus der 1. Auflage berichtigt. Trotzdem wäre es absurd und ungerecht, wenn man ihnen den Vorwurf machen wollte, ihre Übersetzung wäre deshalb willkürlich.


Nota redacţiei:

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