Auf der Erde nicht zu Hause
„Wir sind nicht lang auf Erden, das Leben geht vorbei.“[1] Kann man das in der heutigen Zeit, in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts,[2] noch sagen? Passt das noch in unsere Zeit, in der die Welt uns so sehr in Anspruch nimmt, dass man als Christ fast in den Strudel der Dinge dieser Welt hineingezogen wird? Heute können wir nicht mehr mit Scheuklappen herumlaufen: Die Massenmedien bringen die Nachrichten brandaktuell in unsere Wohnzimmer. Streiks, Fußball, Theater, Politik, Geiselnahmen, Terror, Hungersnöte, Entwicklungshilfe, Lohnzurückhaltung, Radrennen, Wissenschaftsberichterstattung und noch viele andere Dinge kommen wie eine riesige Lawine auf uns zu. Die Welt hört nicht mehr an unserer Haustür auf. Ist es dann nicht eine fromme Illusion, wenn wir als Christen sagen, dass wir Pilger auf dieser Welt sind, Fremdlinge, die eigentlich nicht hierhergehören, sondern auf dem Weg in eine himmlische Heimat sind? Dürfen wir das noch sagen?
Wir dürfen das sagen. Wir müssen das sogar sagen. Was uns die Bibel über unsere Stellung auf der Erde sagt – nämlich dass wir Fremdlinge und Gäste sind –, können wir nicht einfach beiseiteschieben. Bevor wir jedoch näher untersuchen, was die Schrift über unser Pilgersein zu sagen hat, tun wir gut daran, zunächst den Zusammenhang mit dem vorherigen Thema zu erkennen: dem Reich Gottes. Denn die Verbindung zwischen diesen beiden Themen [Pilgersein und Reich Gottes] ist sehr eng.
Der König wurde verworfen
Als der angekündigte König kam der Herr Jesus zu seinem Volk – aber sie wollten Ihn nicht annehmen. Gab es denn kein Königreich? Doch, sehr wohl! Eines Tages wird Christus wiederkommen, um das Königreich in Macht und Herrlichkeit zu errichten; und auch in der Zwischenzeit gibt es das Königreich, aber es ist in dieser Zeit noch ein mehr oder weniger verborgenes, geistliches Königreich. Es ist das Herrschaftsgebiet des Herrn Jesus: Alle, die Ihn als Herrn bekennen wollen, gehören dazu.
Aber leider gibt es in dieser Welt nur wenige Jünger des Herrn Jesus. Sie leben inmitten von Tausenden, die nichts von Gott wissen und die Herrschaft Christi nicht anerkennen wollen. Diese Gläubigen sind eigentlich schon Teil der zukünftigen, neuen Welt – aber sie stehen noch in dieser Welt. Sie leben auf dieser Erde, aber sie sind hier nicht zu Hause. Sie sind Fremdlinge und Beisassen, Gäste, Pilger auf dem Weg zu einer himmlischen Heimat.
Das ist keine leichte Stellung. Sie bringt Leiden mit sich, wenn wir so in der Welt stehen. Barnabas und Paulus sprachen aus Erfahrung, als sie den Jüngern in Lystra, Ikonium und Antiochien das Reich Gottes verkündeten und ihnen sagten, dass wir zwar in Zukunft in das herrliche Reich Gottes eingehen werden, aber dass wir dafür in dieser Zeit „viele Trübsale“ erleben müssen (Apg 14,19-22).
Sicherlich werden wir einmal mit Christus herrschen – aber wir müssen noch mit Ihm leiden (Röm 8,17; 2Tim 2,12). So wie Joseph damals einen langen Leidensweg durchstehen musste, bevor er zum Oberhaupt über ganz Ägypten eingesetzt wurde, so musste auch der Herr Jesus zuerst von seinen Brüdern (Israel) verworfen werden, und so wartet Er noch, „bis seine Feinde hingelegt sind als Schemel seiner Füße“ (Heb 10,13). Wenn Er von der Welt verworfen wurde, können wir dann von der Welt angenommen werden? Wenn Er leiden musste, können seine Nachfolger dem dann entgehen? Vielleicht ist das Leiden an dem einen Ort schlimmer als an einem anderen – im kommunistischen Russland schlimmer als in unserem freien Westen –, aber als Christen müssen wir alle in dieser Welt auf die eine oder andere Weise Leiden erfahren.
Neben diesem negativen Aspekt gibt es auch eine positive Seite. Dazu müssen wir die beiden Briefe des Apostels Petrus aufschlagen.
Die Briefe des Petrus
Die beiden Briefe, die uns der Apostel Petrus hinterlassen hat, behandeln genau dieses Thema, und es ist nützlich, die Lehren, die wir daraus ziehen können, im Überblick zu betrachten.[3]
Vom Heiligen Geist inspiriert, erklärt uns Petrus, dass wir eine heilige Priesterschaft (1Pet 2,5) und eine königliche Priesterschaft sind (1Pet 2,9). Ein heilige Priesterschaft, um Gott geistliche Opfer darzubringen; eine königliche Priesterschaft, um die Tugenden dessen zu verkünden, der uns aus der Finsternis in sein wunderbares Licht berufen hat. Letzteres bedeutet im Prinzip, dass wir Könige sind und dass die Zeit kommt, in der wir mit Christus herrschen werden. Petrus spricht daher in seinem zweiten Brief besonders vom „Eingang in das ewige Reich unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus“ (2Pet 1,11) und von der „Macht und Ankunft unseres Herrn Jesus Christus“ (2Pet 1,16). Doch diese Zeit ist noch nicht gekommen. Das Erbe liegt noch in der Zukunft (1Pet 1,4-5). Was ist dann unsere Stellung in dieser Zeit? Der Apostel lässt uns darüber nicht im Unklaren:
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Einerseits müssen wir Leiden ertragen „um des Gewissens willen“ (1Pet 2,19), „Gutes tun“ und leiden (1Pet 3,17), kurz gesagt: an den Leiden Christi teilhaben, indem wir die Offenbarung seiner Herrlichkeit erwarten (1Pet 4,13).
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Andererseits wird von uns erwartet, dass wir in unserem täglichen Leben Gottes Namen verherrlichen. Wir leben als Fremdlinge und Beisassen inmitten der „Völker“, der Menschen um uns herum, und wir müssen uns von den fleischlichen Begierden fernhalten, die unsere Seele bedrohen, und uns stattdessen guten Werken widmen, damit wir ein gutes Zeugnis gegenüber den Menschen um uns herum ablegen. Das wird sich in unserer Haltung gegenüber den Behörden zeigen (1Pet 2,13-17), in unserem Arbeitsumfeld gegenüber unserem Arbeitgeber (1Pet 2,18-25), in unserer Familie (1Pet 3,1-7) und im Kreis der Gläubigen (1Pet 4,7-11; 5,1-7).
Zusammenfassend sagt der Apostel:
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1Pet 3,8-12: Endlich aber seid alle gleich gesinnt, mitleidig, voll brüderlicher Liebe, barmherzig, demütig, und vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern im Gegenteil segnet, weil ihr dazu berufen worden seid, dass ihr Segen erbt. „Denn wer das Leben lieben und gute Tage sehen will, der halte seine Zunge vom Bösen zurück und seine Lippen, dass sie nicht Trug reden; er wende sich aber ab vom Bösen und tue Gutes; er suche Frieden und jage ihm nach; denn die Augen des Herrn sind gerichtet auf die Gerechten, und seine Ohren auf ihr Flehen; das Angesicht des Herrn aber ist gegen die, die Böses tun.“
Ausblick auf die zukünftige Herrlichkeit
Im zweiten Brief wird uns ein starker Beweggrund gegeben, durchzuhalten, auch wenn wir es in dieser feindseligen Welt nicht leicht haben: In 2. Petrus 1 wird uns der Ausblick auf die „prachtvolle Herrlichkeit“ (2Pet 1,17) eröffnet. Petrus verweist auf die Verklärung Jesu auf dem Berg (Mt 17,1-13; Mk 9,2-13; Lk 9,28-36).
Glaubt nicht, dass wir euch Fabeln erzählen, sagt Petrus, wenn wir euch das zukünftige Reich verkünden, denn wir waren Augenzeugen der Herrlichkeit Christi (2Pet 1,16). Wie lebendig er sich noch daran erinnerte! Zusammen mit Jakobus und Johannes hatte der Herr Jesus ihn auf einen hohen Berg mitgenommen, und dort hatten sie ihren Meister gesehen, wie sie Ihn noch nie gesehen hatten: „Er wurde vor ihnen verwandelt; und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, seine Kleider aber wurden weiß wie das Licht“ (Mt 17,2).
Sie hatten die Stimme des Vaters gehört, der aus der glänzenden Herrlichkeit sprach: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe; ihn hört“ (Mt 17,5). Die drei Apostel hatten dieses Ereignis wie ein kostbares Geheimnis in ihren Herzen bewahrt. Vor der Auferstehung Christi durften sie nicht darüber sprechen, nun jedoch konnte Petrus seinen Lesern davon erzählen und sie dadurch daran erinnern, dass das prophetische Wort beständig und gewiss war (2Pet 1,19). Was für eine Ermutigung! Unser Kampf ist nicht vergeblich, unser Leiden ist nicht umsonst, und im Licht dieser Erwartung dürfen wir Mut fassen, um weiterzumachen.
Hatte nicht der Herr Jesus dies auch so beabsichtigt? Hatte Er nicht gerade deshalb seinen Jüngern diesen Vorgeschmack auf die kommende Herrlichkeit gegeben? In Matthäus 16 musste Er die Seinen darauf vorbereiten, „dass er nach Jerusalem hingehen müsse und von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten vieles leiden und getötet und am dritten Tag auferweckt werden müsse“ (Mt 16,21). Die gutgemeinte Reaktion des Petrus nötigte Ihn zu einer scharfen Antwort – es gab keinen anderen Weg als den des Kreuzes. Der Menschensohn war verworfen und vor Ihm lag ein Weg voller Leiden.
Und wenn jemand Ihm nachfolgen will? Dann gibt es auch für ihn keinen anderen Weg als den Weg des Leidens, der Selbstverleugnung, des Kreuzes:
- Mt 16,24-26: Wenn jemand mir nachkommen will, so verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf und folge mir nach. Denn wer irgend sein Leben erretten will, wird es verlieren; wer aber irgend sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden. Denn was wird es einem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber seine Seele einbüßt? Oder was wird ein Mensch als Lösegeld geben für seine Seele?
Aber der Herr wusste, dass es kein leichter Weg sein würde. Und wie Er um der Freude willen, die Ihm bevorstand, „das Kreuz erduldete“ und „die Schande nicht achtete“ (Heb 12,2), so wollte Er auch seinen Jüngern einen Vorgeschmack auf die Herrlichkeit des kommenden Reiches geben. Deshalb führte Er sie auf einen hohen, einsamen Berg und zeigte ihnen dort seine Herrlichkeit (Mt 17,1-8). Er wollte sie ermutigen und ihnen sozusagen den Rücken stärken.
Der zweite Brief des Petrus zeigt uns jedoch auch, auf welche Weise dieses Reich letztendlich errichtet werden wird. Nicht durch unsere Bemühungen, nicht durch eine fortschreitende Christianisierung der Welt, nicht durch irgendeine menschliche Aktivität wird das Reich kommen, sondern durch Gericht. Das Gericht hängt wie ein Damoklesschwert über dieser Welt (1Pet 4,5-7). Aber auch die Christenheit (1Pet 4,17) und insbesondere die „falschen Lehrer“, die inmitten der Christenheit auftreten (2Pet 2,1-3), erwartet das Gericht Gottes. Durch das Gericht wird die Erde vorbereitet, damit Gott sein Reich errichten kann.
Fremde und Mitbewohner
Als die Leser des ersten Briefes zu 1. Petrus 2,11 kamen, werden sie wahrscheinlich keinen Moment lang die Stirn gerunzelt haben, weil sie nicht verstanden hätten, was der Apostel meinte. Was „Fremdlinge und solche, die ohne Bürgerrecht sind“, waren, wussten sie nur zu gut. Sie waren Teil des alten Bundesvolkes; sie kannten das Alte Testament und wussten daher, worauf Petrus anspielte. Der Apostel führte keinen neuen Begriff ein. Er wandte lediglich einen Ausdruck, den sie sehr gut kannten, auf ihre Situation an. Wir tun daher gut daran, einmal klar zu definieren, in welchem Sinn die Bibel von „Fremdlingen und Beisassen“ spricht:
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Im wörtlichen Sinn ist ein Fremdling natürlich einfach jemand, der sich an einem Ort aufhält, an dem er nicht zu Hause ist. Die Ephraimiten, die in den Tagen Asas in Juda lebten, hielten sich dort als „Fremde“ auf; so sagt es das Hebräische wörtlich in 2. Chronika 15,9. Das gleiche hebräische Wort gur kommt in Jesaja 23,7 vor, wo es um die Kaufleute aus Tyrus geht, die ferne Länder besuchten und „in der Ferne weilten“. Die Sunamitin sollte sich aufmachen und sich aufhalten, wo sie bleiben konnte; sie hielt sich gleichsam in der Fremde auf, als sie mit ihrer Familie vorübergehend im Land der Philister wohnte (2Kön 8,1-2).[4]
Deshalb wird im hebräischen Alten Testament auch ein anderes Wort verwendet. Neben dem Wort ger („Fremder“) finden wir auch das Wort toschab („Beisasse“), zum Beispiel in 1. Mose 23,4. Toschab ist in etwa das hebräische Äquivalent zum griechischen paroikos, das in 1. Petrus 2,11 mit „Fremdling / Beisasse“ übersetzt wird (der Ausdruck „ohne Bürgerrecht“ im selben Text ist wiederum ein anderes Wort: nicht das übliche Wort xenos, sondern parepidemos, das sich in seiner Bedeutung nicht wesentlich von paroikos unterscheidet).
So lebten immer viele „Fremde“ in Israel (siehe z.B. 3Mo 25,47; 4Mo 35,15; Hes 14,7): Ausländer, die selbst nicht zum Bundesvolk gehörten.[5]
Menschen sind Teil von mindestens drei Gesellschaftsbeziehungen: ihrer Familie, ihrem Volk und der ganzen Welt. Man kann also gegenüber einem Volk (siehe oben) ein Fremder sein, aber auch gegenüber einer Familie. Wer nicht zur Priesterfamilie gehörte, war ein „Fremder“ (NBG: „Unbefugter“) und durfte sich dem Altar nicht nähern (siehe z.B. 4Mo 1,51; 3,10.38; 18,7). So lebte Jakob jahrelang als „Fremder“ bei Laban (1Mo 32,5).[6]
Schließlich kann man auch gegenüber der Welt ein Fremder sein; dazu siehe weiter unten.
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Nach dem Sündenfall wurde der Mensch aus dem Paradies vertrieben und verlor damit seinen eigenen Ruheort. Die Erde, die einst so wunderschön aus Gottes Hand hervorgegangen war, war zum Schauplatz von Sünde und Tod geworden. Die Nachkommen Kains durften sich dort zu Hause fühlen, eine Stadt bauen, Viehzucht betreiben, ein kulturelles Leben aufbauen und Industrie ansiedeln (1Mo 4,17-22), aber für die Gläubigen, die aus Gott lebten, war die Erde kein Ort, an dem sie Ruhe finden konnten. „Macht euch auf und zieht hin! Denn dieses Land ist der Ruheort nicht, um der Verunreinigung willen, die Verderben bringt, und zwar gewaltiges Verderben“ (Mich 2,10). Wenn Übermütige von Gottes Geboten abweichen und Gottlose das Gesetz Gottes verlassen, kann der Psalmist sich nur als Fremder auf Erden fühlen (Ps 119,19.53-54).
Wahrscheinlich kennt fast jeder Gläubige zumindest etwas von dieser Erfahrung, dass er sich in der Welt nicht zu Hause zu fühlt. So sagt auch Hebräer 11: „Diese alle [das bezieht sich auf Abel, Henoch, Noah, Abraham, Sara] sind im Glauben gestorben und haben die Verheißungen nicht empfangen, sondern sahen sie von fern und begrüßten sie und bekannten, dass sie Fremde und ohne Bürgerrecht auf der Erde seien. Denn die, die solches sagen, zeigen deutlich, dass sie ein Vaterland suchen. Und wenn sie an jenes gedacht hätten, von dem sie ausgegangen waren, so hätten sie Zeit gehabt, zurückzukehren. Jetzt aber trachten sie nach einem besseren, das ist himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott genannt zu werden, denn er hat ihnen eine Stadt bereitet“ (Heb 11,13-16).
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In dem obigen Zitat aus Hebräer 11 begegnen wir auch Abraham. Abraham war ein typischer Fremdling, der Fremdling schlechthin, aber er war ein Fremdling aufgrund einer Berufung. Gott hatte Abraham berufen, als er noch in Mesopotamien war (Apg 7,2; 1Mo 12,1), und ihm gesagt, er solle sein Land und seine Familie verlassen, um in ein Land zu ziehen, das Gott ihm zeigen werde. Abraham war vor seiner Berufung kein Fremdling; im Gegenteil, er fühlte sich möglicherweise bei seiner Familie, die Götzendienst trieb, sehr wohl (Jos 24,2). Aber Gottes Stimme kam zu Abraham, und indem Abraham dieser Stimme gehorchte, wurde er ein Fremdling, ein Pilger, ein Reisender in ein anderes Vaterland, von dem er während seines Lebens nie einen Fußbreit besaß. Die anderen Patriarchen, Isaak und Jakob, traten in dieser Hinsicht in seine Fußstapfen (1Mo 28,4; 37,1; 47,9). Ein Altar und ein Zelt waren alles, was Abraham hatte, und später kam noch ein Grab hinzu. „Ich bin ein Fremder und Beisasse bei euch“, sagte Abraham zu den Hethitern, „gebt mir ein Erbbegräbnis bei euch, dass ich meine Tote begrabe“ (1Mo 23,4).
Aus Hebräer 11 geht übrigens hervor, dass Abraham nicht nur an ein irdisches Vaterland dachte. Gott hatte ihm ausdrücklich „das Land der Verheißung“ versprochen, aber Abrahams Glaube verstand, dass es noch etwas Herrlicheres geben musste: Er erwartete „die Stadt, die Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist“ (Heb 11,10); er sehnte sich „nach einem besseren“, nämlich einem himmlischen Vaterland (Heb 11,16); und er durfte durch den Heiligen Geist sogar etwas von der Herrlichkeit des Herrn Jesus sehen (Joh 8,56).
Was für ein wunderbares Vorbild für uns! Man könnte sagen: Abraham war der Prototyp eines Fremden auf der Erde, ein Musterpilger. Mit Blick auf die Zukunft und das Herz auf die himmlischen Dinge ausgerichtet, ging Abraham seinen Weg, und so war diese Erde für ihn nur eine Durchgangsstation, ein Gebiet, das er durchqueren musste, um sein wahres Ziel zu erreichen.
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Wenn es ein Volk gibt, von dem wir sagen würden, dass es keine „Fremden“ auf Erden waren, dann ist es das Volk Israel. Waren die Israeliten nicht Gottes Volk auf der Erde? Hatte Gott ihnen nicht das Land Kanaan als Erbe gegeben? Das Land, in dem ihr Vater Abraham als Fremder gelebt hatte, besaßen sie als erblichen Besitz. Ja, dass sie in Ägypten als Fremde lebten, verstehen wir (1Mo 47,4; 3Mo 19,34; 5Mo 10,19; 23,7; 26,5; Ps 105,23; Jes 52,4; Hes 20,30), und dass sie im Exil Fremde waren, ist auch kein Wunder (Esra 1,4; Ps 120,5). Aber im Land …? Und doch heißt es in 3. Mose 25,23: „Mein ist das Land; denn Fremde und Beisassen seid ihr bei mir.“ Dieser Ausdruck „Fremder bei Gott“ oder „Beisasse bei Gott“ ist sehr besonders, und es lohnt sich, einen Moment darüber nachzudenken. Siehe zu solchen Ausdrücken Psalm 5,5; 15,1; 39,13; 61,5.[7] Was ist damit gemeint?
Um das zu verstehen, müssen wir die doppelte Bedeutung kennen, die dem Wort „Fremder“ in mehreren alten Sprachen gegeben wurde (das gilt sowohl für das hebräische ger als auch für das griechische xenos). Ein Fremder war in erster Linie ein Nichteinwohner, aber aufgrund der geltenden Gesetze der Gastfreundschaft ergab sich daraus, dass er auch ein Gast war (vgl. die bekannte Geschichte aus 1. Mose 18,1-15). Was Gott nun offenbar mit diesem Ausdruck den Israeliten sagen will, ist sozusagen: Ihr seid Gäste bei mir. Das Land gehört mir, aber ich werde euch gastfreundlich aufnehmen. – Daher verwendet David dieses Wort auch in Psalm 39,13 und Psalm 61,5. Er will damit sozusagen zu Gott sagen: Ich bin dein Gast, du hast doch versprochen, dass ich ein Fremder bei dir sein darf, dass ich bei dir „weilen“ und deine Gastfreundschaft genießen darf.
Andererseits gebietet Gott seinem Volk, den Fremden, die bei ihnen sind, ebenso Gastfreundschaft zu erweisen. „Dein Fremder“ steht wörtlich in 2. Mose 20,10; 5. Mose 5,14; 24,14 – das heißt: eure Gäste, denen ihr Gastfreundschaft gewähren sollt. Israel war also in einer ganz anderen Weise fremd als die Patriarchen. Dennoch galten auch sie als Fremde und Beisassen auf Erden.
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Als der Herr Jesus auf die Erde kam, konnte Er sich nicht seinem Volk anschließen. Inmitten seines abgefallenen, sündigen Volkes konnte Er nichts anderes sein als „ein Fremder im Land und wie ein Wanderer, der zum Übernachten eingekehrt ist“ (Jer 14,8). Unser Herr selbst sagt es in Matthäus 25,35.38.43: „Ich war Fremdling.“
War es ein Wunder, dass der Herr ein Fremdling war? Inmitten seines Volkes gab es niemand, dem Er sich anvertrauen konnte (Joh 2,24); auch seine eigene Familie verstand Ihn nicht, und selbst bei seinen Jüngern fand Er oft kein Verständnis. Schließlich kam der Moment, in dem die Feindseligkeit offen zum Ausdruck kam, in dem sich alles und jeder gegen Ihn wandte, in dem sogar seine vertrautesten Freunde Ihn verließen – einer verriet Ihn, ein anderer verleugnete Ihn –, und der Moment, in dem Er allein, ganz allein den einsamen Weg nach Golgatha gehen musste, wo Er schließlich sogar von Gott verlassen wurde, als Er das Urteil über die Sünden trug. Was für ein Heiland ist Er!
Wir können nicht anders, als Ihn zu bewundern, wenn wir Ihn so als Fremdling auf dieser Erde wandeln sehen. Er wandelte nicht „im Rat der Gottlosen“. Er stand nicht „auf dem Weg der Sünder“ (Ps 1,1). Er saß nicht im Kreis der Gottlosen. Und deshalb war Er einsam, einsamer, als ein Mensch jemals war. Er konnte keine Gemeinschaft mit uns Menschen haben, so wie wir waren. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein“ (Joh 12,24). Nur durch das Kreuz konnte der Herr als oberster Führer „viele Söhne zur Herrlichkeit bringen“, sie „heiligen“ und voller Freude ausrufen: „Siehe, ich und die Kinder, die Gott mir gegeben hat“ (Heb 2,10.13).
Doch in seinem Leben auf der Erde war Er allein, ein Fremdling. Wir teilen diese Position. Er war ein Fremder auf Erden – wir sind jetzt Fremde auf Erden. „Wie er ist, sind auch wir in dieser Welt“ (1Joh 4,17).
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Schließlich sind wir, die Gläubigen dieser Zeit, Fremdlinge und Beisassen aus einem ganz besonderen Grund: weil Christus verworfen ist. Wir haben darüber bereits ausführlich gesprochen, ausgehend von dem, was uns die beiden Briefe von Petrus lehren, und wir müssen darauf jetzt nicht sofort zurückkommen.
Die Welt ist eine Wüste
Im Alten Testament finden wir eine Illustration, die uns einen außerordentlich guten Einblick in unsere Stellung als Fremdlinge auf der Erde geben kann. Das ist die Geschichte der Reise des Volkes Israel aus Ägypten durch die Wüste nach Kanaan.
Dass diese Geschichte bestimmte Beispiele für uns bereithält, ist keine Phantasie eines überdrehten Bibelauslegers. Die Schrift selbst erteilt uns in 1. Korinther 10,1-13 praktische Lehren aus der Wüstenwanderung Israels. Alles, was ihnen widerfuhr, ist für uns ein Beispiel, und es ist alles in der Bibel aufgezeichnet worden als Warnung für uns, auf die das Ende der Zeitalter gekommen ist.
Das Volk Israel war aus Ägypten befreit worden. Die Israeliten hatten sich hinter dem Blut des Lammes verborgen und so war Gottes Gericht über Ägypten an ihnen vorübergegangen – das spricht zu uns von dem Werk, das Jesus Christus vollbracht hat: „In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen“ (Eph 1,7).
Dann waren die Israeliten durch das Rote Meer gezogen, einen Weg, den sie gehen mussten, weil der Pharao ihnen auf den Fersen war; einen Weg, der jedoch ihren Tod bedeutet hätte, wenn Gott nicht einen Weg durch die Wasser gebahnt hätte; einen Weg schließlich, auf dem Gott ihre Feinde in den Wellen des Roten Meeres umkommen ließ. Das spricht erneut vom Kreuz Christi, aber dann als Lösung für das Problem der Sünde, der Macht des Bösen, die in jedem von uns wohnt. „Also ist jetzt keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er, seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde in dem Fleisch verurteilte“ (Röm 8,1-3).
Da steht nun das Volk Israel in der Wüste. Ein erlöstes Volk! Das verheißene Land liegt vor ihnen; dorthin führt ihre Reise. Aber um dorthin zu gelangen, müssen sie durch die Wüste.
Genau so beschreibt der erste Brief des Petrus (in dem, wie wir gesehen haben, besonders unsere Stellung als Fremdlinge und Beisassen betont wird) unseren Platz auf der Erde. Wir sind erlöst; wir haben Zuflucht gefunden hinter „dem kostbaren Blut Christi als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken“ (1Pet 1,19). Wir stehen in der Welt und ziehen durch diese Welt, um das Endziel zu erreichen: das „unverwesliche und unbefleckte und unverwelkliche Erbteil, das in den Himmeln aufbewahrt ist für uns“ (1Pet 1,4). Eines Tages werden wir das Endziel erreichen und das Erbe in Besitz nehmen!
Es muss übrigens darauf hingewiesen werden, dass wir in einem anderen Sinn bereits das Endziel erreicht haben und (sinnbildlich betrachtet) bereits in Kanaan sind. Der Epheserbrief schildert den Christen in diesem Aspekt: Wir sind schon da, denn wir sind in Christus in die himmlischen Örter versetzt worden. Beide Aspekte, die das Volk Israel nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander erfahren konnte, sind bei uns gleichzeitig gegeben: Im Prinzip sind wir von Gott bereits in Christus in den Himmel versetzt worden, damit wir alle himmlischen Segnungen genießen können; andererseits sind wir noch auf dieser Erde. Um diese letzte Seite der Sache geht es jetzt.
Das Kreuz als Trennlinie
Wir denken mit Dankbarkeit an das Kreuz unseres Herrn Jesus, wenn uns bewusst wird, was Er dort für uns getan hat. Die schwere Last unserer Sünden kam auf sein Haupt; die Strafe, die uns den Frieden brachte, lag auf Ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden (Jes 53,5). Zweifellos können wir nicht dankbar genug sein für das, was Er für uns getan hat. Bedauerlicherweise denken wir oft zu sehr jedoch nur daran und vergessen dadurch andere Aspekte des Kreuzes Christi. Zum Beispiel, dass das Kreuz eine absolute Trennung zwischen uns und der Welt bewirkt: „Von mir aber sei es fern, mich zu rühmen als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt“, wie es der Apostel Paulus in Galater 6,14 sagt.
Das ist auch nicht so schwer zu verstehen. Für uns ist der Kreuzestod des Herrn Jesus ein Ereignis aus der fernen Vergangenheit, und dadurch droht seine Bedeutung für uns zu verblassen. Aber stell dir einmal vor, du hättest gestern inmitten dieser wütenden Menge gestanden, die „Kreuzige ihn, kreuzige ihn!“ rief. Versuch einmal, dir vorzustellen, du hättest in dieser Menge gestanden, die Christus hasste – während du Ihn liebst, weil Er dein Heiland und Herr ist! Würdest du heute genauso fröhlich mit denselben Menschen als Freunde umgehen? Das wäre dir unmöglich.
Nun, so einfach lagen die Dinge rund um das Kreuz von Golgatha. Auf der einen Seite stand die Welt, die für einen Moment alle inneren Gegensätze überwunden hatte: Herodes hatte sich mit seinem Erzrivalen Pilatus angefreundet; die Juden waren sich mit den sonst feindlichen Römern einig. Und auf der anderen Seite? Nur einer: der Gekreuzigte! Nur einer: der Sohn Gottes, der alle in einem einzigen Augenblick hätte vernichten können, der jedoch leiden wollte! Nur einer: der sanftmütige Mensch Jesus Christus! Nur einer: der Heiland der Welt.
Und nun musst du dich entscheiden. Auf welcher Seite stehst du? Für einen Christen wird das keine Frage sein. Freundschaft mit der Welt bedeutet Feindschaft mit Gott (Jak 4,4). Sich gegen Christus und für diese Welt zu entscheiden – das ist doch undenkbar! Wir gehören auf die Seite Christi, des Gekreuzigten, des Verworfenen. Die moralische Geschichte der Welt ist auf Golgatha zu Ende gegangen. Sicher, danach ist noch viel geschehen, aber in Bezug auf Gut und Böse hatte sich endgültig gezeigt, wer der Mensch ist: völlig verdorben, gänzlich feindlich gegenüber Gott. Deshalb bedeutet das Kreuz Christi das endgültige Urteil über die Sünde im Fleisch (Röm 8,3) und über die Welt (Gal 6,14).
Nicht zurück in die Welt
Im alttestamentlichen Bild ist es genauso. Das Rote Meer trennte die Israeliten endgültig von der Welt. Das war auch Gottes Absicht: „Als der Pharao das Volk ziehen ließ, da führte Gott sie nicht den Weg durchs Land der Philister, obwohl er nahe war; denn Gott sprach: Damit es das Volk nicht bereue, wenn sie den Kampf sehen, und sie nicht nach Ägypten zurückkehren. Und Gott ließ das Volk auf den Weg der Wüste des Schilfmeeres abbiegen; und die Kinder Israel zogen gerüstet aus dem Land Ägypten herauf“ (2Mo 13,17-18). Gott wollte eine endgültige Trennung zwischen den Israeliten und Ägypten bewirken. Und genauso will Gott eine endgültige Trennung zwischen uns und der Welt.
Die Taufe ist Ausdruck davon; nicht umsonst wird in 1. Korinther 10,2 der Weg, den die Israeliten durch das Rote Meer gingen, als „Taufe“ bezeichnet. Durch die Taufe bekennen wir öffentlich, dass wir mit einem verworfenen Christus verbunden sind, und durch die Taufe gelangen wir in das Reich Gottes: Wir anerkennen die Autorität von „Jesus Christus, der, in den Himmel gegangen, zur Rechten Gottes ist, indem Engel und Gewalten und Mächte ihm unterworfen sind“ (1Pet 3,22).
Durch die Taufe (und die anschließende Unterweisung) werden wir zu Jüngern gemacht (Mt 28,19). Die Taufe ist eine Art Begräbnis, ein endgültiger Abschied von dieser Welt (Röm 6,4; Kol 2,12) und ein Versetztwerden in das Reich Gottes. Die Taufe errettet uns (1Pet 3,21) – nicht im Sinn einer ewigen Erlösung, sondern die Taufe bringt uns sozusagen an einen sicheren Ort auf der Erde; durch die Taufe werden wir „von diesem verkehrten Geschlecht gerettet“ (Apg 2,40).
Es war Gottes Absicht, dass die Israeliten niemals nach Ägypten zurückkehren sollten: „Ihr sollt fortan nicht wieder auf diesem Weg zurückkehren“ (5Mo 17,16). Leider hielten sich die Israeliten nicht daran. Blieb es nach dem Bericht der Kundschafter nur bei einem Plan, nach Ägypten zurückzukehren (4Mo 14,4), so gingen die Israeliten später tatsächlich diesen Weg zurück (Jer 2,18; 43,2). Und wir? Laufen wir nicht auch Gefahr, diese Bedeutung des Kreuzes Christi zu vergessen? Wir dürfen niemals aus den Augen verlieren, dass das Kreuz Christi eine absolute Trennung zwischen uns und der Welt bewirkt hat.
Eine kahle, öde Wüste
Die ersten Erfahrungen, die die Israeliten in der Wüste machten, waren nicht sehr ermutigend. Kaum war das Lied von Mose und Mirjam verklungen, „ließ Mose Israel vom Schilfmeer aufbrechen, und sie zogen aus in die Wüste Sur; und sie wanderten drei Tage in der Wüste und fanden kein Wasser. Und sie kamen nach Mara; aber sie konnten das Wasser von Mara nicht trinken, denn es war bitter: Darum gab man ihm den Namen Mara“ (2Mo 15,22-23). Kein Wasser! Und als Gott dieses Problem gelöst hatte, tauchte sofort ein neues Problem auf: keine Nahrung (2Mo 16,2-3). Das Wichtigste an einer Wüste ist nun einmal nicht das, was es gibt, sondern das, was es nicht gibt.
Und genau dieselbe Erfahrung müssen wir als Christen in dieser Welt machen. Die Welt ist für uns eine Wüste, nicht so sehr wegen dem, was es in der Welt gibt, sondern vielmehr wegen dem, was es nicht gibt. Und was fehlt uns dann in dieser Welt? Die Israeliten hatten in der Wüste kein Wasser – und fehlt uns nicht die Quelle des lebendigen Wassers (Joh 4,10.14; 7,37-38)? Die Israeliten hatten in der Wüste kein Brot – und fehlt uns nicht der, der selbst das Brot des Lebens ist (Joh 6,35)? Wir haben bei der Neugeburt aus Gott eine neue Natur erhalten, und dieses neue Leben in uns sehnt sich nur nach Ihm! Wenn wir jedoch um uns herum in diese Welt schauen, sehen wir alles Mögliche: Kultur, Unterhaltung, Wissenschaft, Luxus, Entspannung, aber Er ist nicht da! Können wir diese Erfahrung nicht ebenso machen? „Sie haben meinen Herrn weggenommen!“ (Joh 20,13).
Nichts kann unser Herz wirklich befriedigen außer Ihm allein. Das macht die Welt zu einer Wüste, in der wir uns nur nach Ihm sehnen können. Gewiss, Er hat uns seinen Heiligen Geist gegeben, und obwohl wir den Herrn jetzt nicht sehen, können wir uns durch die Kraft des Geistes „mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude“ an Christus erfreuen (1Pet 1,8). Aber unsere Freude kann in dieser Welt niemals vollkommen sein. Er ist nicht da! Und deshalb ist diese Welt für uns eine Wüste.
Die Schule Gottes
Dennoch hat Gott uns ganz bewusst in diese Welt gestellt. Auf dem Weg zum verheißenen Land hat Er uns nämlich etwas zu lehren. Es würde etwas zu weit führen, hier allzu ausführlich über die Schule Gottes zu sprechen, aber es ist dennoch notwendig, darauf hinzuweisen, denn gerade diese göttliche Lehre ist ein wichtiger Grund, warum wir hier in der Welt sind. Als Mose am Ende der Wüstenwanderung mit den Israeliten noch einmal an alle Ereignisse der hinter ihnen liegenden vierzig Jahre erinnert, spricht er in 5. Mose 8,2-4 auch über den Grund, warum Gott sie diesen ganzen Weg gehen ließ. Mose erklärt, dass Gott damit eine doppelte Absicht verfolgte:
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Erstens hat „der HERR, dein Gott, dich wandern lassen diese vierzig Jahre in der Wüste, um dich zu demütigen, um dich zu prüfen, um zu erkennen, was in deinem Herzen ist“ (5Mo 8,2). Wir müssen durch Erfahrung lernen, was in unserem Herzen lebt! Natürlich wollen wir alle anerkennen, dass unser Herz sündig ist, aber jeder von uns neigt dazu, tief im Inneren zu denken, es sei mit ihm doch noch nicht so schlimm. Deshalb lässt Gott uns sozusagen die Schulbank drücken. In den harten Lektionen der Praxis müssen wir dann feststellen, dass in unserem Fleisch nichts Gutes wohnt, nicht einmal ein kleines bisschen (Röm 7,18).
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Andererseits möchte Gott uns lehren, was in seinem Herzen lebt, damit wir wissen, „dass der Mensch nicht von Brot allein lebt, sondern dass der Mensch von allem lebt, was aus dem Mund des HERRN hervorgeht“ (5Mo 8,3). Vielleicht dachten wir, wir würden Gottes Liebe schon kennen, als wir zum ersten Mal vor Ihm knieten – aber Gott will uns in seiner Schule noch viel mehr über die unendliche Tiefe seiner Liebe lehren. Diese Erfahrungen können wir in gewisser Weise nur in dieser Welt machen. Später im Himmel sind wir keine Fremdlinge mehr, dann gibt es keine Bedrängnis, kein Leid, keine Angst, keine Not. Gerade durch all das Elend, das wir als Fremdlinge und Gäste auf der Erde zu ertragen haben, will Gott uns auf besondere Weise seine unendliche Güte zeigen. Wir dürfen tatsächlich „schmecken, dass der Herr gütig ist“ (1Pet 2,3).
Auf dem Weg zum verheißenen Land
Der Hauptgrund, warum die Israeliten in der Wüste waren, war jedoch, dass sie auf dem Weg nach Kanaan waren. Wir sind auf der Reise zum Himmel, und macht das nicht gerade diese Welt zu einer Wüste für uns? Wir sind noch nicht da. Wir müssen weiter, immer weiter, denn dort, am Horizont, liegt das Endziel. Unser großer „Vorläufer“ (Heb 6,20), unser Herr Jesus, ist bereits im Himmel. Auf Ihn richten wir unseren Blick:
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Heb 12,2-3: Hinschauend auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens, der, die Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude das Kreuz erduldete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. Denn betrachtet den, der so großen Widerspruch von den Sündern gegen sich erduldet hat, damit ihr nicht ermüdet, indem ihr in euren Seelen ermattet
Wenn wir um uns blicken, würde uns allerdings vielleicht die Lust genommen, noch weiterzugehen; vielleicht würden wir sogar in Versuchung geraten, nach Ägypten zurückzukehren. Aber wenn wir auf Ihn schauen, brauchen wir – bildlich gesprochen – nicht mit gesenktem Kopf durch den weichen Wüstensand zu trotten. Dann können wir mit Ausdauer den Weg fortsetzen, der noch vor uns liegt. Dort, am Endpunkt, wird das Erbe für uns „aufbewahrt“ – so sagt es 1. Petrus 1,4, und der nächste Vers fügt hinzu, dass Gottes mächtige Gnade uns auf dem Weg dorthin auch „bewahrt“ (1Pet 1,5). So finden wir die Kraft, um weiterzugehen als Fremdlinge und Beisassen in dieser Welt, als Pilger in dieser Wüste.
Originaltitel: „5 – Vreemdlingen en bijwoners“
in Hemelburgers op Aarde: De levenspraktijk van christenen in deze wereld,
Vaasen: Medema, 1980, S. 74–95.
Übersetzung: Stephan Winterhoff
Anmerkungen
[1] Anm. d. Red.: Übersetzung des niederländischen Liedes „Wij zijn niet lang op aard“. Nach dem Original „This World is not my Home“ von Jim Reeves (1923–1964).
[2] Anm. d. Red.: Das Buch wurde 1980 geschrieben.
[3] Für eine genauere Untersuchung insbesondere des ersten Briefes sei auf H.L. Heijkoop verwiesen: De eerste brief van Petrus, Winschoten: Uit het Woord der Waarheid. Im Deutschen 1966 erschienen unter dem Titel Der erste Brief des Petrus bei Ernst Paulus. Anm. d. Red.: Der Kommentar ist unter dem Titel „Der erste Petrusbrief“ auch online erschienen auf www.bibelkommentare.de
[4] Andererseits darf man nicht überall, wo dieses Wort verwendet wird, wörtlich an Fremde denken. Das Wort kann in einigen Fällen auch die ausdrückliche Bedeutung von „Fremdheit“ verloren haben. Siehe zum Beispiel Jesaja 11,6 („weiden“; Anm. d. Red.: „sich aufhalten“ in der CSV-Elberfelder); Richter 5,17 („wohnen“; Anm. d. SW-Red.: „weilen“ in der CSV-Elberfelder); Hiob 19,15 („Hausgenossen“); 2. Mose 3,22 („Hausgenossen“); Jesaja 33,14 („wohnen“; Anm. d. Red.: „weilen“ in der CSV-Elberfelder).
[5] Im Hebräischen gibt es (neben ger) noch ein anderes Wort für „fremd“, nämlich nechar, abgeleitet vom Verb nakar = „scharf betrachten“ (weil man etwas Fremdes kritisch betrachtet). Zur ursprünglichen Bedeutung siehe 1. Mose 42,7 und 1. Könige 14,5. Später wurde es vor allem verwendet, um etwas zu bezeichnen, was fremd und daher falsch war, wie fremde Götter usw. (1Mo 35,2; 5Mo 31,16; 2Chr 14,2; Neh 13,30). In Hiob 31,3 wird diese negative Bedeutung deutlich: neker wird mit „Missgeschick“ übersetzt (vgl. unser Wort „Elend“ = „ausländisch“). Siehe auch Psalm 18,45-46 und den Ausdruck „Sohn eines Fremden“ (ben-nekar) in 1. Mose 17,12.27; 2. Mose 12,43. Siehe auch 2. Mose 21,8; 5. Mose 17,15; Richter 19,2; Sprüche 5,20; 6,24; 7,5; 23,27; Jesaja 28,21.
[6] Anm. d. Red.: „Bei Laban habe ich mich aufgehalten“ – wörtlich übersetzt heißt es: „als Fremder aufgehalten“ oder „in der Fremde aufgehalten“.
[7] Anm. d. Red.: Das Wort „weilen“ in diesen Stellen bedeutet „als Fremder weilen“.


