Einleitung
Im frühen 19. Jahrhundert erwachte erneut Interesse an der Prophetie. Zur selben Zeit wurden Gläubige durch das Wirken Gottes erweckt und verstanden nun, was die Wahrheit über die Versammlung und deren wahre Hoffnung ist. Viele zeigten großes Interesse an dieser biblischen Wahrheit, insbesondere am Studium der Prophetie. Man hielt Zusammenkünfte ab und berief Konferenzen ein, und der Heilige Geist benutzte diese, um vielen „zu zeigen, was bald geschehen muss“ (Off 1,1). Dieses Interesse an der Prophetie ist bis heute ungebrochen. Viele Bücher, Internetseiten und Konferenzen verbreiten verschiedene Ansichten über Prophetie.
Wir können für all das dankbar sein, denn Gott hat das Studium der Prophetie sicherlich auch dazu benutzt, Ungläubige darauf aufmerksam zu machen, dass Christus bald kommt. Der Ruf „Siehe, der Bräutigam!“ (Mt 25,6) ist hinausgegangen, und selbst viele Weltmenschen wissen, dass die Bibel das Kommen des Herrn Jesus voraussagt, um die Seinen zu sich zu holen – auch wenn sie selbst es nicht glauben wollen. Mehr noch: Viele Gläubige haben diese „glückselige Hoffnung“ (Tit 2,13) angenommen – eine Hoffnung, die der Kirche jahrhundertelang verlorengegangen war. Nun haben sie neue Kraft, „um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten“ (1Thes 1,9-10).
Falsche Wege, die Prophetie zu studieren
Doch so wie viele gute Dinge, die Gott seinem Volk gegeben hat, so wird auch die Prophetie auf falsche Weise gebraucht. Manchmal führt sie eher zu Schwierigkeiten, als dass sie „eine Lampe ist, die an einem dunklen Ort leuchtet“ (2Pet 1,19). Ich möchte gern einige Wege betrachten, wie man die Prophetie in einer ungeeigneten Weise studieren kann, so dass nicht die gewünschte Wirkung erzielt wird.
1. Das Ziel der Prophezeiung
Zunächst einmal können wir beim Studium der Prophetie den Schwerpunkt auf uns selbst legen statt auf Christus. In der Offenbarung lesen wir: „Der Geist der Weissagung ist das Zeugnis Jesu“ (Off 19,10). Wir sollten zu Herzen nehmen, was jemand einmal treffend gesagt hat:
Die Prophetie hat die Herrlichkeit Christi zum Gegenstand, und erst wenn wir verstanden haben, was der Herrlichkeit Christi angemessen ist, erschließt sich uns die Prophetie.[1]
Wenn wir uns selbst zum Mittelpunkt der Prophetie machen und zukünftige Ereignisse in erster Linie danach bewerten, wie sie sich auf uns auswirken, verkennen wir den vollen Umfang und die Bedeutung dessen, was Gott uns offenbart hat. Wenn der Mensch bei sich selbst beginnt, kommt Gott nicht die Herrlichkeit zu, die Ihm zusteht, und der Mensch erkennt nicht, welche Fülle von Segnungen Gott für ihn bereithält. Erst wenn Christus der Platz eingeräumt wird, der Ihm zusteht, wird Gott in rechter Weise verherrlicht und wird der Mensch weitaus mehr gesegnet. Wir müssen die Prophetie immer im Hinblick auf die Herrlichkeit Christi betrachten.
2. Der Bereich der Prophezeiung
Der zweite Punkt hängt mit der ersten falschen Sichtweise zusammen: Wir müssen nämlich beachten, dass die Prophetie größtenteils mit dieser Welt zu tun hat. Sie hat mit dem Gericht zu tun, das notwendig ist, damit die Herrlichkeit Christi auf der Erde verteidigt und sein Reich errichtet wird. Weil die Kirche eine himmlische und keine irdische Berufung hat, ist sie kein Gegenstand der Prophetie. Deshalb wird die Zeitepoche der Versammlung im prophetischen Kalender nicht mitberücksichtigt. Wenn wir uns als Kinder Gottes in dieser Heilszeit übermäßig mit Prophetie beschäftigen, neigen wir dazu, unsere Gedanken eher auf diese Welt als auf himmlische Dinge zu richten, und das wird unsere Herzen mit Gericht beschäftigen, das ein „befremdendes Werk“ Gottes ist (Jes 28,21). William Kelly macht dazu einige hilfreiche Bemerkungen:
Das prophetische Wort offenbart nirgends jene himmlischen Ratschlüsse, die erst das „von den Zeitaltern her verborgene“ (Eph 3,9) Geheimnis durch Paulus bekanntgemacht hat. Auch Petrus tut hier in 2. Petrus 1,19 nicht mehr, als anhand von auffallend deutlichen Bildern von „Tag“ und „Morgenstern“ darauf anzuspielen. Die Lampe ist sehr gut, um genug Licht auf diese dunkle Welt zu werfen sowie auf das Böse und das Verderben in ihr. Die Gläubigen taten gut daran, auf die Lampe zu achten, „bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in ihren Herzen“ (2Pet 1,19), das heißt, bis sie die helle himmlische Beziehung, die uns das völlig verstandene Christentum jetzt in Christus schenkt, mit Freude verstehen, ebenso die himmlische Hoffnung auf sein Kommen, damit Er uns in das Haus des Vaters einführt. Die prophetische Lampe ist nützlich, um uns im Hinblick auf den armseligen Ort [die Erde] zu helfen. Doch wie viel mehr als eine Lampe ist „Tageslicht“ in Christus, um uns in all unseren Glaubensverbindungen [mit Gott und den Glaubensgeschwistern] über die Welt zu erheben, und wie viel mehr ist die helle Hoffnung: Christus als der glänzende Morgenstern. Christus ist nicht nur selbst der Morgenstern, sondern Er hat den Überwindern verheißen, ihnen den Morgenstern zu geben (Off 2,28; 22,16-17)![2]
Gott hat uns die Prophetie gegeben, damit wir sehen können, wie Er alles ordnet, um Christus zu verherrlichen. In der Herrlichkeit Christi geht es ganz besonders um die Versammlung. Deshalb spricht Paulus davon, dass all jene, „die seine Erscheinung lieben“, die „Krone der Gerechtigkeit“ erhalten werden (2Tim 4,8). Gott möchte, dass wir beobachten und verstehen, was in dieser Welt geschieht. Doch Er hat Besseres für uns im Sinn: Dinge, die uns mit unserem himmlischen Teil beschäftigen und uns über diese Welt erheben.
3. Die himmlische Berufung
Ein häufiger Fehler ist es, die himmlische Berufung der Kirche nicht zu erkennen und daher zu erwarten, dass sich die Prophezeiungen in unserer Heilszeit der Gnade Gottes erfüllen. Wie bereits erwähnt, wird die Zeitepoche der Versammlung im prophetischen Kalender nicht mitberücksichtigt, weil die Versammlung nicht Gegenstand der Prophetie ist. Deshalb erfüllen sich in der Gnadenzeit keine prophetischen Ereignisse.[3] Einige versuchen, den prophetischen Schriften diese Art der Auslegung aufzuzwingen – dass sich also in der Gnadenzeit Prophezeiungen erfüllen würden –, und verzerren auf diese Weise sehr stark das, was Gott uns lehren will. „Alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ liegen darin verborgen, dass wir „das Geheimnis Gottes“ erkennen und verstehen (Kol 2,2-3). Wenn wir das Geheimnis von Christus und der Versammlung nicht verstehen, können wir die Prophetie nicht richtig auslegen.
Das bedeutet allerdings nicht, dass die aktuellen Ereignisse in der Welt keine Bedeutung für die Prophetie hätten. Zweifellos war die Gründung Israels als souveräner Staat im Jahr 1948 nach mehr als zweieinhalbtausend Jahren ein bedeutendes Ereignis, das zeigt, dass wir uns in der Endzeit befinden. Ebenso zeigen andere Ereignisse – wie beispielsweise die Gründung der Europäischen Union [im Jahr 1993] –, wie Gott die Ereignisse in der heutigen Zeit mit dem Ziel ordnet, die Prophezeiungen zu erfüllen, nachdem Er die Versammlung zu sich entrückt hat. Dieses Wirken ist jedoch nicht dasselbe wie die Erfüllung der Prophezeiung.
4. Der Umfang der Prophezeiung
Schließlich besteht die Gefahr, dass wir uns zu sehr mit den Details der Prophetie beschäftigen, statt das große Ganze zu sehen und zu erkennen, dass es sich um „das Zeugnis Jesu Christi“ handelt (Off 1,2). Wenn wir uns zu sehr mit Kleinigkeiten beschäftigen, neigen wir dazu, das prophetische Wort so auszulegen, dass es das Ergebnis eigenmächtiger Deutungen ist, und somit das Wort Gottes einzuschränken (2Pet 1,20).[4] Die Details einer Prophezeiung sind wichtig, und wenn sich in der Zukunft eine Prophezeiung erfüllt, werden diejenigen, die dann in dieser Welt leben, diese Details besser verstehen. Es wird sie sehr ermutigen, zu sehen, wie Gott all dies vorausgesagt hat, und wird in einer sehr schwierigen Zeit ihren Glauben stärken. Doch wenn wir uns als Gläubige dieser Heilszeit zu sehr mit solchen Details beschäftigen und versuchen, genau herauszufinden, wie alles geschehen wird, nutzen wir womöglich unsere Zeit nicht auf die bestmögliche Weise.
5. Aktuelle Ereignisse
Ebenso können wir in Gedanken leicht über die Schrift hinausgehen und aktuelle Ereignisse benutzen, um der Schrift eine Bedeutung aufzuzwingen, die nicht gerechtfertigt ist. Als beispielsweise Deutschland bis 1990 in Ost- und Westdeutschland geteilt war, bestanden einige darauf, dass diese Teilung dem alten Römischen Reich entspreche und dass ein Teil Deutschlands zum Reich des Tieres gehöre, während ein anderer Teil Deutschlands davon ausgenommen sei. Andere wiederum bestanden darauf, dass die Europäische Union nur zehn Mitglieder haben würde, damit dies mit der Beschreibung des Reiches des Tieres in Offenbarung 17,12 übereinstimmt. Wie wir heute wissen, ist Deutschland wieder vereint, und die Europäische Union hat derzeit [im August 2025] siebenundzwanzig Mitglieder, wobei weitere Länder einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt haben. Wir müssen also vorsichtig sein, lehrmäßige Aussagen darüber zu machen, wie die heutigen Ereignisse in die Prophetie passen, denn nur Gott sind „alle seine Werke von Anfang der Welt an bekannt“ (Apg 15,18; übersetzt nach der KJV).
Schlusswort
Gott hat uns die Prophetie gegeben, damit wir sie studieren und wir als solche, die unser Herr Jesus seine „Freunde“ nennt (Joh 15,15), alles verstehen können, was Gott zu tun beabsichtigt, um den Sohn des Menschen zu verherrlichen. Das sollte uns äußerst wichtig sein, denn es betrifft die Herrlichkeit dessen, der unser Retter, Freund und Bräutigam ist. Doch die Prophetie sollte nur ein Mittel zum Zweck sein, und die Zuneigung unseres Herzens sollte sich ganz auf Christus konzentrieren – denn das Thema der Prophetie ist die Verherrlichung Christi.
Originaltitel: „The Misuse of Prophecy“
in The Christian, Jg. 9, Dezember 2013.
Quelle: www.bibletruthpublishers.com
Übersetzung: Gabriele Naujoks
Anmerkungen
[1] Aus Keys to Prophecy, Autor unbekannt.
[3] Anm. d. SW-Red.: Wir denken, dass diese Aussage zu krass ist. Die Zerstörung Jerusalems liegt auch in der Gnadenzeit und war als prophetisches Ereignis vorhergesagt. Allerdings besteht die Gefahr, aktuelle Ereignisse als Erfüllung von Prophezeiungen anzusehen, die bei näherer Betrachtung höchstens teilerfüllt sein können, denn in den allermeisten Fällen ist auch ein moralisch geistlicher Aspekt enthalten, den man aktuell aber vermisst. So ist es zum Beispiel bei den meisten Stellen, die von der Rückkehr der Israeliten ins Land handeln, von einer inneren Umkehr/Buße zu lesen. Diesen Aspekt muss man aber wohl aktuell bei den meisten Einwanderern vermissen.
[4] Anm. d. Übers.: Darby übersetzt 2. Petrus 1,20 so: … knowing this first, that [the scope of] no prophecy of scripture is had from its own particular interpretation.