[Der folgende Text stammt aus dem Artikel „The Salvation of Infants“ in der Zeitschrift Helps by the Way.]
Ein geliebter Bruder im Herrn hat einige Fragen zu diesem Thema gestellt, deren Beantwortung für viele hilfreich sein könnte. Da ich nicht daran zweifle, dass die Schrift die Antwort gibt, behandle ich diese Fragen ein wenig ausführlicher als üblich.
Er fragt: „Bezieht sich so eine Aussage wie die in Johannes 3,3 (,Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen‘) nicht auf die gesamte Menschheit, einschließlich Kinder? Könnte ,Solcher ist das Reich Gottes‘ [Mk 10,14] ein Einwand gegen die Anwendung sein, dass man ,jemand‘ [aus Johannes 3,3] auch auf Kinder bezieht? Ich kann kaum eine Grundlage dafür sehen, dass Kinder errettet werden, einfach weil Jesus für die Welt gestorben ist und sie keine Übertretungen begangen haben. Ich nehme an, dass diese Vorstellung ein Überbleibsel der alten Lehre ist, Jesus habe ,die Übertretung Adams hinweggetan‘. Ich sehe nicht, dass die Schrift das so aussagt.“
Nun, zunächst zum zweiten Punkt: Wenn wir die Schrift betrachten, so ist klar, dass diejenigen, die keine Sünde begangen haben, am Tag des Gerichts auf keinen Fall ins Gericht kommen können. Menschen werden nicht wegen ihrer bösen Natur gerichtet, sondern „nach ihrem Tun“ [Ps 28,4], und sie sind sich des Unterschieds zwischen ihrer bösen Natur und ihren bösen Taten sowie ihrer Verantwortung diesbezüglich wohl bewusst. Sie erkennen ohne Weiteres an, dass sie Sünder sind, und führen sogar ihre Natur als Entschuldigung für ihre Sünden an; dennoch empfinden alle Scham und haben Schuldgefühle, diese oder jene bestimmte Sünde begangen zu haben. Sie haben ein Verantwortungsbewusstsein dafür und wissen, dass sie es nämlich nicht hätten tun müssen, wie schlecht ihre Natur auch sein mag.
Die Rechenschaft, die wir vor dem Richterstuhl [vgl. Röm 14,10; 2Kor 5,10; ablegen müssen, könnte ein kleines Kind also niemals ablegen. Es wird auch nicht allein wegen seiner bösen Natur verdammt werden oder wegen der Sünde Adams, die nicht seine war und auch nie als seine bezeichnet wird.
Und doch bleibt es wahr: Ein Geschöpf mit einer bösen Natur kann nicht in den Himmel eingehen oder (wenn das möglich wäre) dort die Gegenwart Gottes genießen. Zweifellos muss auch der jüngste Säugling wiedergeboren werden, genau wie jeder andere Mensch auch. Die einzige Frage kann daher sein: Gibt es von der Schrift her eine Gewissheit, dass dies bei jedem Kind, das als solches stirbt, der Fall ist?
Wir haben die Worte unseres Herrn „Solcher ist das Reich Gottes“ bereits zitiert und sie sind uns wohlvertraut. Auch hier wird man vermutlich mehr als nur eine Frage stellen. Erstens vielleicht: Was genau ist das Reich Gottes? Und zweitens: Wie weit führen uns die Worte „Solcher gehört“?
Nun, ich vermute, dass eine häufiger Grund für Missverständnisse darin liegt, dass man die verschiedenen Aspekte dieses Reiches in der Gegenwart und in der Zukunft miteinander verwechselt. Die Gleichnisse bei Matthäus und Markus lehren, dass das Reich Gottes bzw. das Himmelreich jetzt während der Abwesenheit des Herrn den gesamten Bereich umfasst, den wir gemeinhin als Christenheit bezeichnen. In dieses Reich kommen auch böse Menschen hinein. Aber wenn der Herr kommt, wird Er aus seinem Reich alle Ärgernisse entfernen und alle, die die Gesetzlosigkeit tun [Mt 13,41]; und die Worte des Herrn an Nikodemus sind nur auf das Reich, das dann folgt (immer noch das Reich Gottes), anzuwenden. Die Worte „aus Wasser und Geist geboren“ [Joh 3,5] beziehen sich auf die Verheißung Gottes im Buch Hesekiel, reines „Wasser“ auf Israel zu sprengen und seinen „Geist“ in sie zu geben, um sie für ihren Eintritt in das Reich Gottes in den Tagen des Tausendjährigen Reiches vorzubereiten (Hes 36, insbesondere Hes 36,25-27). Unser Herr sagt zu Nikodemus, dass Er hier von dem „Irdischen“ spricht (Joh 3,12). Dies gilt natürlich genauso für diejenigen, die das himmlische Teil jenes Reiches erben sollen.
Aber wenn der Herr in Markus 10,14 sagt: „Solcher ist das Reich Gottes“, so muss man nicht notwendigerweise genau definieren, ob Er vom gegenwärtigen oder vom zukünftigen Reich spricht. Es ist offensichtlich: Wenn die Kinder nach den Gedanken des Herrn im gegenwärtigen Reich sein konnten, dann auch im zukünftigen Reich. Auf dieser Grundlage – nämlich indem Er seine gnädige Absicht ihnen gegenüber zeigt – nimmt Er sie in seine Arme und segnet sie. Könnte Er sie segnen und in sein Reich hier aufnehmen und sie gleichzeitig aus seinem Reich der Herrlichkeit ausschließen?
Gewiss nicht; denn wenn jemand ausgeschlossen wird, so macht der Herr dessen widerspenstigen Willen dafür verantwortlich. Er will, dass „alle Menschen“ errettet werden [1Tim 2,4]. Wird Gottes Wille etwa da scheitern, wo ein widerspenstiger Wille mutmaßlich nicht vorhanden ist? Erstreckt sich das „alle Menschen“ in 1. Timotheus 2,4 nicht ebenso weit wie die Worte des Herrn in Johannes 3,3?
Wenn jemand die Frage nach „solchen“ aufwirft und dort Grenzen aufrichtet – wenn er sagt, der Herr spreche nur von Menschen, die Kindern ähneln –, dann kann ich nur fragen, warum der Herr dann sagt: „Lasst die Kinder [konkrete Kinder, die bei Jesus waren] zu mir kommen, wehrt ihnen nicht, denn solcher ist …“ [Mk 10,14]? Warum segnete Er sie? Und wo sonst wird das Wort „solche“ in einer Weise verwendet, dass Dinge oder Menschen ausgeschlossen werden, die diese Ähnlichkeit aufweisen? Es scheint fast ein wenig kindisch, zu fragen, ob kleine Kinder nicht „solche“ sind wie kleine Kinder.
Was nun die Lehre betrifft, Jesus habe „die Übertretung Adams hinweggetan“, so können wir etwas Besseres sagen: Denn mit Johannes kennen wir Ihn als „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt“ [Joh 1,29]. Nicht die Sünden [Plural] der Welt, wie manche meinen; das ist nicht wahr; sondern die Sünde [Singular] als Hindernis für Gott, jeden Menschen überall aufzunehmen und zu segnen. Es gibt kein Hindernis, dass jemand nicht gesegnet werden könnte – es sei denn, leider, sein eigener Wille. Und genau das ist schließlich der entscheidende Punkt, und hier scheint die Wahrheit und der Charakter Gottes darin zu bestehen, dass wir an Folgendem festhalten: Wenn der Sohn des Menschen gekommen ist, „zu suchen und zu erretten, was verloren ist“ [Lk 19,10], und diese Kleinen „verloren“ sind [vgl. Mt 18,14], aber ihr eigener Wille ihre Erlösung nicht behindert – kann dann auf Gottes Seite der Wille fehlen, sie zu erretten?[1]
Originaltitel: „Appendix 5: God’s Sovereignty and the Salvation of Infants“
in God’s Sovereignty and Glory in the Election and Salvation of Lost Men,
Jackson (Present Truth Publishers) 2003
Übersetzung: S. Bauer
Anmerkungen
[1] „The Salvation of Infants“ in Helps by the Way, Bd. 1, 1873, S. 160–163.


