Hat man Sie gelehrt, der Mensch habe einen moralisch freien Willen Gott gegenüber? Hat man Sie gelehrt, Gott habe sich selbst beschränkt, um diesen angeblich moralisch freien Willen nicht zu beeinflussen? Und hat man Sie gelehrt, man werde durch einen Akt menschlichen Glaubens errettet, den man durch seinen eigenen Willen ausübe? Hat man Sie ebenfalls gelehrt, ein Christ könne, wenn er einmal errettet ist, nicht wieder verlorengehen, indem er seinen moralisch freien Willen ausübe? Mit anderen Worten, Gott sage zum verlorenen Menschen: Wenn du deinen freien Willen gebrauchst, um zu glauben, was ich dir sage, das heißt, wenn du mich erwählst [choose], dann erwähle [choose] ich dich; und wenn ich dich erwähle, dann zwinge ich dir eine Unfähigkeit auf, mich „abzuwählen“ [un-choose]. Ist es letztlich das, was man Sie gelehrt hat?
Häufig glauben die Menschen gewisse unbiblische Lehren, weil sie denken, diese schützten oder ehrten das Wesen Gottes. So denken zum Beispiel diejenigen, die die Ansicht vom moralisch freien Willen des Menschen Gott gegenüber vertreten, es sei unmoralisch von Gott, vom Menschen Bezahlung zu erwarten, wenn der Mensch nicht die Fähigkeit besitze, zu bezahlen. Unfähigkeit, Gott zu bezahlen, bedeute, dass man keine Verantwortung habe, zu bezahlen. Sollten wir dergleichen annehmen, um jemand, der einem eine Million Dollar schuldet und nicht einen Cent zum Bezahlen besitzt, zu sagen: „Unfähigkeit, zu bezahlen, bedeutet, dass man keine Verantwortung hat, zu zahlen; deshalb schulden Sie mir nichts“?
Ebenso sagen viele, Gott gebiete dem Menschen nie, etwas zu tun, was der Mensch nicht vollbringen könne. Doch hat je ein Mensch, außer Christus, das Gesetz vollkommen gehalten? Nun, wir werden solche Themen betrachten. Die Souveränität und die Herrlichkeit Gottes haben einen Anspruch an jeden Gläubigen: Wir sollen Ihn in seiner Souveränität und Herrlichkeit ehren.
Wenn wir von Gottes Souveränität sprechen, so ist damit gemeint, dass sein Wille unangefochten ist und dass Er alles unter Kontrolle hat – wer und was auch immer es sein mag:
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Dan 4,22: Du erkennst, dass der Höchste über das Königtum der Menschen herrscht und es verleiht, wem er will.
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Spr 21,1: Wasserbächen gleicht das Herz eines Königs in der Hand des HERRN; wohin immer er will, neigt er es.
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Ps 2,4: Der im Himmel thront, lacht; der Herr spottet ihrer.
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Apg 4,26-28: Die Könige der Erde traten auf, und die Obersten versammelten sich miteinander gegen den Herrn und gegen seinen Christus, … zu tun, was deine Hand und dein Ratschluss zuvorbestimmt hat, dass es geschehen solle.
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Apg 3,18: Gott aber hat so erfüllt, was er durch den Mund aller Propheten zuvor verkündigt hat; dass sein Christus leiden sollte.
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Jes 46,9-10: Erinnert euch …, dass ich Gott bin, und sonst ist keiner, dass ich Gott bin und gar keiner wie ich; der ich von Anfang an das Ende verkünde und von alters her, was noch nicht geschehen ist; der ich spreche: Mein Ratschluss soll zustande kommen und all mein Wohlgefallen werde ich tun.
Die Herrlichkeit Gottes scheint für Christen viel schwieriger zu begreifen zu sein. Das Wort „Herrlichkeit“ (doxa) bezeichnet eine Ehre, die erbracht wird. Damit meine ich, dass die Herrlichkeit Gottes das beinhaltet, was Er in sich selbst ist: Licht und Liebe (und zwar in dieser moralischen Reihenfolge, wie sie in der Schrift offenbart ist). Gott handelt stets im Einklang mit dem, was Er ist. Demnach handelt Er auf all seinen Wegen moralisch vollkommen; sein Handeln stimmt überein mit dem, was Er als Licht und Liebe ist. Alles, was von Gott ausgeht, ist moralisch vortrefflich und stimmt immer überein mit dem, was Er als Licht und Liebe ist. Seine Erwählung und Erlösung des verlorenen Menschen zeigen seine unendliche moralische Vollkommenheit. Wenn wir an das Kreuz denken, sehen wir dort Gott als das Licht, das die Sünde und Sünden richtet – die Wurzel und die Frucht. Dadurch schafft Er eine gerechte Grundlage, auf der seine Liebe zu den Verlorenen ausgehen kann. Auf dieser Grundlage kann Er auch gerecht sein, wenn Er den Sünder rechtfertigt, dessen Glaube in der Person und im Werk Christi ruht. Gott muss gerecht sein, wenn Er den Sünder rechtfertigt, sonst wäre dies böse und eine Schande anstatt Herrlichkeit.
Damit das Werk am Kreuz Gott verherrlichen kann – damit es die moralische Vollkommenheit dessen, was Er in sich selbst als Licht und Liebe ist, ausdrücken und Ihn auf diese Weise verherrlichen kann –, muss das Opfer am Kreuz von solch einer moralischen Natur, von solch moralischer Vollkommenheit sein, dass es der Herrlichkeit Gottes gerecht wird. Tatsächlich muss die Herrlichkeit des Opfers von einer Herrlichkeit sein, die der Herrlichkeit Gottes angemessen ist. Dieser Herrlichkeit angemessen ist die Person Christi als des Gott-Menschen, der solch ein Werk, das Gott verherrlicht, vollbringen konnte. Warum? Weil dem Werk die Herrlichkeit und Tugend seiner Person verliehen wurde. Christi gesamter Lebensweg hier auf der Erde verherrlichte Gott, ebenso sein Werk am Kreuz, wie es in Johannes 17,4 bezeugt ist. Diese Herrlichkeit wurde in 3. Mose 16 am großen Versöhnungstag vorgeschattet.
Wir wollen uns stets eine großartige Tatsache vor Augen halten: Jedes Wort, jeder Weg und jedes Werk des Herrn Jesus hatte einen göttlichen Ursprung. Sie haben einen göttlichen Ursprung, weil sich in Ihm das Menschliche und das Göttliche vereinigen – zwei Naturen, eine Person. Der Sohn Gottes hat die menschliche Natur in seine Person hineingenommen. Sein Tod war ein menschlicher Tod, doch es war kein Tod, den Er unabhängig von der Gottheit vollbracht hätte. Dass Christus diesen Tod vollbrachte, hatte einen göttlichen Ursprung, der diesem Tod den ganzen Wert seiner Person verliehen hat. Genauso war es bei den sühnenden Leiden und der Verlassenheit: Er trug sie zwar als Mensch, doch nicht als ein Mensch, der von der Gottheit getrennt gewesen wäre. Der Wert seiner unendlichen Person verlieh den Leiden und dem Verlassensein unendlichen Wert. Das Blut und das Wasser, die aus seiner Seite flossen, enthalten den ganzen Wert seines Todes; und der Tod enthält den ganzen Wert seiner sühnenden Leiden und des Verlassenseins während der drei Stunden der Finsternis. Es ist alles ein großes Ganzes, das den unendlichen Wert seiner Person hat. Dies wird in 3. Mose 16 vorgeschattet, wo die Wolke von dem Räucherwerk auf den Feuerkohlen vom Altar zu Jahwe emporstieg – und diese Wolke bedeckte den Deckel auf der Lade mit dem Gesetz (3Mo 16,12-13). Bei diesem Ereignis war noch eine andere Wolke vorhanden: „die Wolke über dem Deckel“ (3Mo 16,2). Dies ist die Schechina [Gegenwart Gottes auf Erden] der Herrlichkeit, die auf die ganze Herrlichkeit Gottes hinweist.
Was könnte dieser Herrlichkeit wohl entsprechen? Jemand hat zu Recht gesagt, dass Gerechtigkeit den Ansprüchen der Gerechtigkeit genügen kann, aber nur eine Wolke konnte einer Wolke entsprechen. Und hier trafen zwei Wolken aufeinander. Die eine Wolke[1] wurde vor die andere gebracht. Die Wolke, die ins Allerheiligste gebracht wurde, stieg von dem Räucherwerk auf den brennenden Kohlen auf. Sie bedeutet die Herrlichkeit unseres Geliebten, die von den brennenden Kohlen von Golgatha vor den Gott der Herrlichkeit aufstieg. Das Aufsteigen seiner Herrlichkeit vor die Schechina der Herrlichkeit sozusagen und das, was dem Blut entspricht, das gegen und vor den Deckel gesprengt wurde: All dies fand auf dem Kreuz statt. Das Werk umfasste die drei Stunden des Leidens, den freiwilligen Tod und das vergossene Blut (begleitet von dem Wasser der Reinigung). Das Blut schließt den ganzen Wert dieses Werkes in seinem Wert ein – und der Wert des Blutes enthält notwendigerweise den Wert und die Herrlichkeit seiner Person. Das Blut zerriss sozusagen den Vorhang. Das Zerreißen des Vorhangs war die Folge der Vollendung jenes Werkes, das für Gott von unendlichem Wert war; es war die Antwort der Schechina der Herrlichkeit, denn Gott war unendlich verherrlicht worden. Herrlichkeit begegnete Herrlichkeit. [Siehe obige Anmerkung.]
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Joh 17,4: Ich habe dich verherrlicht auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht, das du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte.
Das Verlassensein, das Er als Mensch erlebte, hatte also den ganzen Wert und die ganze Herrlichkeit seiner Person vor Gott. Als Folge dessen, dass Gott so verherrlicht worden war, ist es Gottes Herrlichkeit, diejenigen Sünder zu rechtfertigen, die der Person und dem vollendeten Werk dessen vertrauen, der Gott solch unendliche Herrlichkeit brachte. Es ist die Herrlichkeit Gottes, verlorene Menschen zu retten, die aus eigenem Willen nicht zu Christus kommen wollen. Diese Rettung vollbringt Er auf eine Weise, die mit seiner Herrlichkeit übereinstimmt; und indem Er das tut, verherrlicht Er sich selbst.
Das erste Thema, das wir betrachten müssen, ist die Erprobung des Menschen vom Sündenfall Adams bis zum Kreuz – um zu sehen, ob der Mensch wiederherzustellen wäre. Niemand verlangte von Gott, den Menschen zu erproben. Er übte seine Souveränität in der Erprobung des gefallenen Menschen als eine Handlung seines eigenen Willens aus. Bei dieser Erprobung, wie auch bei allem anderen, geht es um die Darstellung seiner Herrlichkeit. Es ist wichtig, den Charakter dieser Erprobung des gefallenen „ersten Menschen“ zu verstehen sowie ihr Ziel und die Schlussfolgerung, die sich aus der abgeschlossenen Erprobung ergibt. Deshalb geben wir in Kapitel 1 einen kurzen Überblick über dieses Thema. In Kapitel 2 betrachten wir dann Lukas 13 und 14, wobei der Schwerpunkt auf dem Gleichnis vom großen Gastmahl liegt. Dabei werden wir den moralischen Charakter des Menschen untersuchen, wenn er auf Gottes Einladung antwortet, sowie Gottes Souveränität angesichts des moralischen Charakters des Menschen. Der moralische Charakter des Menschen offenbart sich darin, dass er sich weigert, zu dem großen Gastmahl kommen. Wie sorgt Gott für Teilnehmer an seinem großen Gastmahl? Dies hilft uns, die Souveränität und die Herrlichkeit Gottes bei der Erlösung von Sündern zu verstehen. Die folgenden Kapitel werden das Thema untersuchen, wie es in mehreren neutestamentlichen Büchern dargestellt wird.
Wir werden zwar einige arminianische als auch calvinistische Ansichten streifen,[2] dennoch umfasst die Leserschaft, die wir beim Schreiben dieses Buches besonders im Blick haben, diejenigen,
- die zwar die Wahrheit von der ewigen Sicherheit anerkennen, gleichzeitig aber ebenfalls die Ansicht vertreten, der Mensch habe einen moralisch freien Willen Gott gegenüber, und
- die behaupten, der Glaube sei menschlichen Ursprungs und sei nicht von Gott eingepflanzt worden, sondern er sei menschlicher Wille, den der Mensch kraft seines angeblich moralisch freien Willens Gott gegenüber ausübe.
Diese Sicht hat Norman Geisler[3] in Chosen But Free (1999) erneut dargelegt. Dieses Buch wurde 2001 mit einigen Ergänzungen neu aufgelegt. Die Seitenzahl der späteren Ausgabe stehen in eckigen [ ] Klammern.[4] Ich denke, dass Geislers Argumente für diese Sicht sehr weit verbreitet sind bei denen, die sowohl einen moralisch freien Willen Gott gegenüber als auch die ewige Sicherheit vertreten. Ich werde seine wichtigeren Argumente bezüglich verschiedener Schriftstellen aufzeigen.
Die Wahrheit, die in dem vorliegenden Buch dargelegt wird, ist, dass die Schrift die bedingungslose Erwählung der Heiligen lehrt und dass der Mensch völlig verloren ist. Das bedeutet: Sein Wille wird von der „Sünde im Fleisch“ (Röm 8,3) beherrscht und deswegen kann der Mensch keinen moralisch freien Willen Gott gegenüber haben. Gleichzeitig verwerfen wir in unserem Buch die calvinistische Lehre eines ewigen Ratschlusses der Verwerfung. Dieser Lehre gehen wir im Hauptteil des Buches nach. Auch Anhang 1[5] widmet diesem Thema einige Aufmerksamkeit.
Anhang 2 stellt Dr. Norman Geislers These des „gemäßigten Calvinismus“ (Moderate Calvinism) vor und enthält einige Anmerkungen dazu.
Anhang 7 diskutiert und verwirft die Vorstellung von der gemeinschaftlichen Erwählung der Gemeinde.
Andere Anhänge schneiden Themen an, die unsere Betrachtungen über Gott und seine Souveränität betreffen.
Unser Thema betrifft auch die Lehre der Versöhnung. Dieser Gegenstand wurde detailliert betrachtet in einem vorhergehenden Band: The Work of Christ on the Cross and Some of Its Results.
Alles, was in geschweiften Klammern steht { }, wurde von mir {RAH} hinzugefügt.
Die Bibelzitate stammen aus der Übersetzung von J.N. Darby.[6]
Schließlich schulde ich D. Ryan großen Dank für redaktionelle Arbeit an diesem Buch.
Originaltitel: „Preface“
in God’s Sovereignty and Glory in the Election and Salvation of Lost Men,
Jackson (Present Truth Publishers) 2003.
Übersetzung: S. Bauer
Anmerkungen
[1] Anm. d. Red.: Gemeint ist die Wolke der Herrlichkeit, die von dem Räucherwerk aufsteigt und dann auf die über der Bundeslade stehende Schechinawolke trifft.
[2] Anm. d. Red.: Siehe dazu unseren Artikel „Calvinismus/Arminianismus“.
[3] Anm. d. Red.: Norman Geisler (1939–2019), Doktor der Philosophie, christlicher Apologetiker; Mitbegründer und Dekan der Southern Evangelical Seminary in Charlotte, North Carolina, USA, und dort 48 Jahre lang Lehrer.
[4] Sein Buch wurde vom calvinistischen Standpunkt her von James R. White beantwortet in The Potter’s Freedom, Amityville (Calvary Press publishing) 2000. Dr. Geislers Ausgabe von 2001 enthält einen neuen Anhang (13), der eine Antwort auf Dr. Whites Buch ist.
[5] Anm. d. Red.: Anhang 1 wurde nicht ins Deutsche übersetzt.
[6] Anm. d. Red.: Im Deutschen wurde der Bibeltext der Elberfelder Übersetzung 2003, Edition CSV, 22006, verwendet.


