J.N. Darby wurde eine Frage gestellt zu den „Heiden“ und Gottes Wirken an ihnen abseits vom Evangelium. Die Frage lautet:
Man sagt: „Gott ist Liebe: Er lässt die armen Heiden nicht ohne göttliche Hilfe in ihrer Finsternis. Auch wenn der Heilige Geist nicht in ihnen wohnt, so handelt Er doch von außerhalb an dem Gewissen jedes Menschen. Einem Heiden zum Beispiel verhilft Er zu richtigen Überzeugungen und gutem Verhalten und hilft ihm, so zu leben, dass er errettet werden kann – obwohl er nie den Namen Christi gehört hat und den wahren Gott in Christus nicht kennt. Texte wie Apostelgeschichte 17,27; 10,36; Römer 2,7 oder 1. Mose 6,3 untermauern diese Ansicht.“ Wie begegnet die Schrift dieser ernsten Frage?[1]
Darby antwortete:
Die Lehre, auf die Sie sich beziehen, ist weitverbreitet. Zwingli vertrat sie, alle Anhänger Wesleys vertreten sie und ebenso die meisten, die sich hierzulande als Christen bekennen. Sie beruht jedoch auf einem Mangel an Tiefe und Wahrheit in den Grundlagen und leugnet, dass wir alle verloren sind. Die beste Antwort sind die sehr klaren Aussagen im Römerbrief, die durch viele andere Stellen bestätigt werden. Bei den Anhängern dieser Lehre fehlt es jedoch stets an Sündenbewusstsein: Der Mensch sei nicht verloren, nicht tot in Vergehungen und Sünden [Eph 2,1]. Das bedeutet: Ich bin nicht tot in meinen Sünden; wenn ich Verdammnis verdient habe, ist es leicht, zu glauben, dass wir sie alle verdient haben. Infolgedessen verlieren Gnade, Sünde und der Tod des Herrn ihre Bedeutung und ihren Wert. Der wahre Weg, der Sünde moralisch zu begegnen, ist, sich mit dem Gewissen des Einzelnen zu beschäftigen. „So zu leben, dass man gerettet wird“, zeigt gleichzeitig, dass man die Wege Gottes in Gnade – genau genommen das Evangelium – im Hinblick auf das Werk Christi nicht kennt.
„Richtige Überzeugungen und gutes Verhalten“ sind nicht das Evangelium. Ist der Fragesteller von neuem geboren? Apostelgeschichte 17,27 sagt nichts über ein Wirken des Geistes, und Apostelgeschichte 10,35 sagt lediglich, dass jemand, der so und so ist, Gott angenehm ist; es geht hier allein darum, dass die Segnungen nicht auf die Juden beschränkt waren. Das wird deutlich, wenn man den gesamten Abschnitt liest. Römer 2,7-16 ist der gewichtigste Abschnitt und setzt voraus, dass die Wahrheit der Herrlichkeit und der Auferstehung bekannt ist. Falls ich einen Heiden fände, der so wandelte, wäre er genauso errettet wie ein Jude. Es wird jedoch verkündet, dass jeder Mund verstopft wird, alle Welt vor Gott schuldig ist und es keinen Gerechten gibt, auch nicht einen [Röm 3,19.10]. Die Verurteilung der Heiden (Röm 1,18–3,19) beruht auf einer Grundlage, die den Gedanken an ein solches universelles Wirken des Geistes verneint. Die Heiden sind, so sagt der Apostel, ohne Entschuldigung [Röm 1,20], und zwar aus zwei Gründen: Einerseits haben sie aufgehört, Gott zu verherrlichen, als sie Ihn kannten; und andererseits haben sie das Zeugnis der Schöpfung geleugnet. Paulus fügt noch das Gewissen hinzu, was eine völlig vergebliche und sinnlose Argumentation wäre, falls es einen anderen Grund für Verdammung gäbe: nämlich dass sie dem Heiligen Geist widerstanden. „So viele ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz verlorengehen“ (Röm 2,12). „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott“ (Röm 8,7), sowohl in mir als auch in jedem anderen aus den Nationen. Die Leute verwechseln Verantwortlichkeit mit der souveränen Gnade in der Erlösung. 1. Mose 6,3 („Mein Geist soll nicht ewig mit dem Menschen rechten, da er ja Fleisch ist; und seine Tage seien 120 Jahre“) bezieht sich lediglich auf die Langmut Gottes in den Zeiten Noahs [vgl. 1Pet 3,20].
Die Menschen werden nicht durch Gnade errettet, wenn sie so sind, wie es in dieser Argumentation behauptet wird. Denn wenn der Geist gleichermaßen an allen wirkt, ist das Argument nichts wert. In diesem Fall hängt die gesamte Erlösung davon ab, dass der Mensch sie annimmt und danach handelt. Wie ich anfangs gesagt habe, wird unser gesamter Zustand, wie er in der Schrift dargestellt wird, geleugnet. (Siehe 2. Korinther 5,14, wo der Apostel die Schlussfolgerung aus der Gnade zieht. Vergleiche Epheser 2,5.) Ich glaube nicht, dass Nichtjuden verlorener sind, als ich selbst es war. Aber es „ist kein anderer Name unter dem Himmel, der den Menschen gegeben ist, in dem wir errettet werden müssen“ (Apg 4,12), als der Name Jesu Christi. Römer 10,13-15 ist eindeutig, was die Hilfsmittel betrifft. Gericht und Verurteilung richten sich nach den Hilfsmitteln, die wir haben. Was den Verlorenen durch souveräne Güte das Heil bringt, steht auf einem anderen Blatt. Aber, wie ich sagte, hält der Fragesteller sich selbst für verloren? Das ist die eigentliche Frage. Die Quelle tausender Meinungen liegt darin, dass das Gewissen nicht vor Gott steht; wo es daran fehlt, kann der Verstand tausend Gedanken haben, die alle gleichermaßen vergeblich sind. Aber ich muss zum Schluss kommen.[2]
Man könnte aus den Schriften von JND noch seine Anmerkungen zu Lukas 12,47-48 hinzufügen:
Des Weiteren würde es im Einzelnen ein gerechtes Urteil über den Knecht geben: viele Schläge für den, der den Willen seines Herrn kannte und ihn nicht tat; wenige Schläge für den, der den Willen seines Herrn nicht kannte und ihn nicht tat. Alle waren verdorben, alle schuldig; Sünde und Nachlässigkeit hatten Unwissenheit hervorgebracht. Aber es würde zwischen den beiden Knechten gerecht unterschieden werden. Man beachte: Sie würden entsprechend der Verantwortlichkeit ihrer Stellung behandelt werden, auch wenn sie vielleicht nicht gedient oder kein geistliches Anrecht gehabt hätten. So würde von dem, dem viel gegeben worden war, auch viel verlangt werden, und wenn jemand viel anvertraut worden war, so würde umso mehr von ihm gefordert werden [vgl. Lk 12,47-48]. So entfaltet der Herr den Platz und die Grundsätze des Dienstes, so wie Er zuvor die Grundsätze der Stellung entfaltet hat, durch seine Verwerfung und ihre Folgen und alleinige Kraft. Ferner müssen wir beachten, dass hier deutlich unterschieden wird zwischen der berufenen Kirche, die dazu berufen ist, auf ihren Herrn zu warten, und der Unwissenheit des Heidentums und dergleichen sowie dem weitaus schrecklicheren Teil der Kirche. Jener Knecht, der den Willen seines Herrn kannte und sich nicht darauf vorbereitete, das heißt, der sich nicht auf das Kommen seines Herrn vorbereitete und der nicht nach seinem Willen handelte – dieser Knecht wird mit vielen Schlägen geschlagen werden. Doch jener Knecht, der – und jetzt heißt es nicht, dass „er sich nicht vorbereitete, weil er nicht in der Lage dazu war“, sondern, dass „er getan hat, was der Schläge wert ist“ –, jener Knecht also, der nach seinem natürlichen Herzen böse handelte, wie es ein Heide tun könnte, wird mit wenigen Schlägen geschlagen werden. Die Unterscheidung ist klar und das Urteil des Herrn ist gerecht. Es ist deshalb ernst, äußerst ernst für die bekennende Kirche.[3]
Und noch etwas könnte ergänzt werden:
Es besteht die Neigung, die Heiden lediglich als bedauernswert und kaum verantwortlich zu betrachten. Es wird sogar gelehrt, dass viele von ihnen durch das Licht der Natur oder durch ein gnädiges Wirken Gottes in ihrer Seele abseits von der Offenbarung Gottes die wahre Erkenntnis Gottes hätten. Das Wort Gottes sagt nichts darüber. Es überlässt uns die schrecklichen Schlussfolgerungen, die in diesen Bemerkungen dargelegt werden.
Doch welche Auswirkungen sollte dies auf diejenigen haben, die durch das kostbare Blut Christi errettet sind? Verleiht es ihnen eine selbstgefällige Gewissheit, dass sie die Wahrheit besitzen, oder entfacht es in ihren Seelen neu den brennenden Wunsch, die gute Nachricht zu den Millionen Verlorenen zu tragen, die das Evangelium noch nie gehört haben? Sicherlich hat jede errettete Seele in dieser Hinsicht eine Verantwortung. Dürfen wir nicht dafür beten, dass Interesse dafür erweckt wird, das Evangelium in fremde Länder zu bringen, und dürfen wir nicht auch dafür beten, dass der Herr mehr Arbeiter, mehr Boten des Evangeliums erwecken und an die finsteren Orte der Erde aussenden möge?[4]
Originaltitel: „Appendix 4: God’s Sovereignty and the ,Heathen‘“
in God’s Sovereignty and Glory in the Election and Salvation of Lost Men,
Jackson (Present Truth Publishers) 2003.
Übersetzung: S. Bauer
Anmerkungen
[1] „Correspondence on God’s Grace and Man’s Ruin“ in The Bible Treasury, Jg. 12, S. 288.
[2] J.N. Darby, Letters, Bd. 2, Nr. 347, 1879, S. 503–504. Siehe auch „Correspondence on God’s Grace and Man’s Ruin“ in The Bible Treasury, Jg. 12, S. 288.
[3] J.N. Darby, Anmerkungen zu „Luke 12,47-48“ aus „Luke“ in Notes and Comments, Bd. 6, S. 232.
[4] Aus „The True Condition of the Heathen“ in Help and Food or the Household of Faith, Jg. 18, 1900, S. 294.


