Die Einheit des Geistes (1)
Im Spannungsfeld zwischen Sektierei und Gleichgültigkeit

William Kelly

© Heijkoop-Verlag, online: 26.11.2006, updated: 16.11.2022

Leitverse: Epheser 4,1-3

Eph 4,1-3: Ich ermahne euch nun, ich, der Gefangene im Herrn, dass ihr würdig wandelt der Berufung, mit der ihr berufen worden seid, mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut, einander ertragend in Liebe, euch befleißigend, die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Band de Friedens.

Fleiß anwenden

Welche Bedeutung Gott dem Bewahren der Einheit des Geistes beimisst, ist jedem christlichen Leser, der mit Epheser 4,1-3 vertraut ist, hinreichend klar. „Befleißigen“ gibt jedoch nicht die volle Aussagekraft des Wortes wieder, das der Geist Gottes hier im Grundtext verwendet. In gewöhnlicher Alltagssprache pflegt man von „befleißigen“ oder „fleißig sein“ zu reden, wenn jemand etwas zu erlangen versucht, nach etwas strebt, selbst wenn er keine Hoffnung hat, das Erstrebte zu erreichen. Er mag fühlen, dass es ihm misslingen könnte, versucht oder „befleißigt sich“ aber auf jeden Fall, dieses oder jenes zu tun. Eine solche Bedeutung hat das in Epheser 4,3 gebrauchte Wort nicht. Es meint vielmehr: Eifer bei der aufmerksamen Beachtung und Ausführung von solchem, das bereits wahr ist; Fleiß anwenden, um „die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens“. Das zeigt, welche Ermahnung hier beabsichtigt ist: Wir sollen nicht Bemühungen anstellen, um etwas zu erreichen, sondern Eifer zur Bewahrung von Bestehendem aufbringen.

Die Einheit des Geistes ist nämlich für den Glauben eine bestehende Tatsache. Sie zu bewahren, ist deshalb aber nicht weniger unsere gegenwärtige Verpflichtung. Nicht, dass wir von uns aus eine Einheit zu bewerkstelligen hätten oder dass Gott sie erst im Himmel für uns schaffen würde. Hier und jetzt hat der Heilige Geist diese Einheit gebildet, die zu bewahren ganz klar unsere Verantwortung auf der Erde ist. Zweifellos können wir viel aus der Tatsache lernen, dass es sich um „die Einheit des Geistes“ handelt, wie sie genannt wird. Es geht also keineswegs um eine bloße Einheit unsererseits, noch um die Einheit des Leibes (obwohl diese ein Ergebnis der Einheit des Geistes ist), sondern um diejenige Einheit, die der Heilige Geist stiftete, als Er alle Glaubenden, Juden oder Heiden, Sklaven oder Freie, zu einem Leibe taufte. Das stellt die handelnde göttliche Person, die wirksame Quelle und Kraft der Einheit, den Heiligen Geist, in den Vordergrund, setzt aber den einen Leib voraus und schließt ihn ein. Dieser eine Leib ist selbst eine so unzweifelhafte und beständige Wirklichkeit, dass manche Ausdrücke, die diesbezüglich oft gebraucht werden, sich als falsch erweisen. Von einem Zertrennen des Leibes hören wir in den Worten und Schriften der Menschen, niemals in Gottes Wort. Geradeso wie kein Bein Christi gebrochen werden durfte, so kann auch der Leib Christi, die Kirche, nicht zertrennt werden. „Da ist ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen worden seid in einer Hoffnung eurer Berufung.“ Das sind die lebenswichtigen, bleibenden und unveränderlichen Wahrheiten dieser neuen Beziehung, in der die Gläubigen nun zu Christus und untereinander stehen. So gewiss wie ein Geist vom Himmel herniedergesandt worden ist, so gewiss gibt es auch nur einen Leib auf der Erde; doch was die Glieder dieses Leibes zu bewahren berufen sind, ist die Einheit des Geistes.

Seit Pfingsten besteht eine göttliche Einheit auf der Erde – nicht eine bloße Ansammlung von durch Gnade berufenen Einzelnen, sondern eine durch den Geist Gottes geschaffene Einheit. Diese göttliche Gemeinschaft hier auf Erden wird nicht durch den Willen der Personen gebildet, die zu ihr gehören. Zwar sollte man annehmen, dass ihre Herzen, falls sie richtig stehen und einsichtig sind, völlig mit der Gnade in Einklang sind, die sie so vereint hat. Aber die Kirche oder Versammlung Gottes ist durch den Willen Gottes gebildet worden. Wie Er sie in Seiner Gnade geplant hatte, so hat Er sie durch Seine Macht ins Leben gerufen, wobei es der Heilige Geist war, der diese gesegnete Einheit zustande gebracht hat. Aus diesem Grund hat der Geist Gottes das tiefste und innigste Interesse daran, diese Einheit zur Verherrlichung Christi und nach den Ratschlüssen des Vaters praktisch zu verwirklichen. Sie wird die Einheit des Geistes genannt; doch möge sich niemand einbilden, er könne die Einheit des Geistes einsichtsvoll bewahren, wenn er den einen Leib Christi auch nur für einen Moment dem Grundsatz nach oder in der Praxis aus dem Blick verliert.

Eine zu weite Einheit – Gleichgültigkeit

Es gibt natürlich verschiedene Weisen, wie die Gläubigen darin versagen können, die Einheit des Geistes zu bewahren. Aber solches Versagen kann sich letztlich nur in zwei entgegengesetzten Richtungen auswirken, die ebenso weit verbreitet wie offenkundig sind. Der erste Fehler besteht darin, eine Einheit herzustellen, die weiter ist als diejenige des Geistes; den zweiten Fehler begeht man, wenn man die Einheit enger macht als die Einheit des Geistes. Auf der einen Seite kann es weltliche Laxheit, auf der anderen bloße Parteilichkeit geben. Die Gefahr, in diese Extreme zu verfallen, ist so groß, dass nur der Geist Gottes durch das Wort unsere Blicke auf Christus gerichtet halten kann. Was immer man bezwecken oder womit man sich auch entschuldigen mag – der treibende Beweggrund kann im Grunde nur der dem Willen Gottes entgegengesetzte Eigenwille des Menschen sein.

Im ersten Fall ist man also geneigt, die Einheit zu erweitern. Man besteht darauf, außer den Gliedern des Leibes Christi noch weitere große Mengen aufzunehmen. Seelen werden als solche, die Christus angehören, anerkannt, ohne dass man einen angemessenen Grund dafür hätte. Welch eine Verunehrung Seines großen Namens! Ich rede jetzt nicht von Schwachheit bei der Anerkennung solcher, deren Bekenntnis man für wahr hält, sondern von der willentlichen Absicht, Personen aufzunehmen und als zum Leib Christi gehörend zu behandeln, die nicht einmal selbst bekennen, Glieder Seines Leibes zu sein, und die offensichtlich nie aus dem Tode in das Leben übergegangen sind.

Gerade das aber hat Rom während seiner Herrschaft über den Westen im Mittelalter getan; und die östlichen Kirchen (wie die Griechisch-Orthodoxen, Nestorianer usw.) waren um keinen Deut besser als die katholische Kirche, bevor die große Spaltung sie entzweite. Ohne auf den Glauben und das Empfangen des Geistes zu achten, haben sie alle mittels fleischlicher Anordnungen die Welt gesucht und aufgenommen. Die Reformation, so viel sie auch zustande gebracht hat, hat diesen grundlegenden Irrtum keineswegs berichtigt. Der Protestantismus lehnte das Weib ab, das über die Nationen – wenn möglich, alle Nationen – herrschte. Da er aber von der Einheit des Geistes nichts verstand, errichtete er überall dort, wohin sich sein Einfluss erstreckte, kraft Gesetz seine eigene unabhängige Religion.

Das ist der wohlbekannte Grundsatz der Landeskirchen, wo immer sich diese befinden, sei es in England oder in Schottland, in Deutschland oder in Holland. Sie bekennen, alle anständigen Leute in den jeweiligen Bezirken oder Gemeinden aufzunehmen. Das ist zugestandenermaßen eine Religion für jedermann und entspricht in gar keiner Weise der Absicht oder dem Wunsch, sich mit niemandem zu verbinden, der kein lebendiges Glied Christi ist. Man lässt Herkunft oder örtliche Beziehungen gelten, es sei denn, ein öffentlicher Skandal liege vor. Neues Leben oder Glaube werden nicht verlangt, noch weniger die Gabe des Heiligen Geistes, wie es früher doch der Fall war (Apg 11,16.17). Dergleichen entspricht eher dem Muster Israels als dem der Kirche, in der es weder Juden noch Griechen gibt, sondern alle in Christus eins sind. Es geht bei den Landeskirchen um familiäre Bande und geographische Grenzen. Die Leute sind keine Israeliten oder Heiden, sondern bekennen sich, da sie sich in einer allgemein sogenannten Landeskirche befinden, zur christlichen Religion. Aber ist es denn nicht klar, dass in einer Landeskirche die Einheit des Geistes in keiner Weise bewahrt werden kann? Jemand mag ein wirklicher Christ, ein Kind Gottes sein – aber für ein Mitglied einer Landeskirche bestehen weder der Gedanke noch die Möglichkeit, innerhalb dieser Kirche „die Einheit des Geistes zu bewahren“. Folglich spricht man zum Beispiel von der Kirche Englands und nicht von der Kirche Gottes in England; noch weniger hat man alle im Blick, die auf der ganzen Erde Christus angehören.

Tatsache ist, dass solche evangelische Christen zwar aus Babylon entronnen, jedoch statt dessen dazu gelangt sind, eine von der Einheit des Geistes völlig verschiedene, ja dieser sogar entgegengesetzte Einheit anzuerkennen. Sie haben eine Einheit aufgerichtet, die, wenn mit vollständigem Erfolg durchgeführt, die ganze Nation umfassen würde, vielleicht mit Ausnahme derer, die allen religiösen Schein meiden. Im Blick auf Letzteres möchte ich nämlich nicht vergessen, dass die liturgischen Vorschriften gegen Verbrechen oder öffentliches Ärgernis Vorsorge treffen. Es ist jedoch allgemein bekannt, dass es in jeder Stadt, nahezu in jeder Familie mehr oder weniger angesehene Personen, moralische und liebenswürdige Menschen gibt, die genau wissen, dass sie nicht aus Gott geboren sind, und die sich scheuen würden, sich Glieder Christi zu nennen, es sei denn, sie sind dazu verleitet worden, diese Stellung aus rituellen Gründen zu beanspruchen. Die meisten von ihnen würden davor zurückschrecken, „Heilige“ genannt zu werden, und umgekehrt nicht zögern, diesen Ausdruck als Schimpfwort den Kindern Gottes beizulegen, die sich nicht schämen, sich als diejenigen zu bezeichnen, die sie sind.

Wer den Namen „Heiliger“ ablehnt, ist auch offensichtlich keiner – es sei denn, man könnte sich ehrlicherweise einen so tief gesunkenen oder verfinsterten Gläubigen vorstellen, dass er aus der Bezeichnung, die Gott Seinen Kindern gegeben hat, einen Spottnamen macht. Und wir können ohne Zweifel sicher sein, dass jemand, der so denkt und redet, nicht wandelt, wie es einem Heiligen geziemt. Wenn nun jemand nicht im schriftgemäßen Sinne ein Heiliger ist, dann ist er mit Sicherheit kein Christ, außer im Blick auf sein leeres Bekenntnis, für das ihn Gott richten wird. Ist es denn nicht klar, dass ein Christ ein Heiliger und noch wesentlich mehr als das ist? Es gab Heilige auch zur Zeit des Alten Testamentes, es gab Heilige vor dem Kreuz Christi; aber waren all diese wirklich Christen? Ein Christ ist ein Heiliger in der Zeit nach dem Erlösungswerk, jemand, der durch den Glauben an das Evangelium, in der Kraft des Heiligen Geistes und auf der Grundlage des Werkes Christi für Gott abgesondert ist. Was immer er auch vorher als natürlicher Mensch gewesen sein mag – Gott hat ihn mit Christus lebendig gemacht und ihm all seine Vergehungen vergeben. Nun, da er durch das Blut Christi nahe gebracht worden ist, darf er als ein Kind vor Gott treten. Damit ist er auch ein Glied des Leibes Christi.

Nun, diese Personen sind es, die die Berufung haben, die Einheit des Geistes in dem Bande des Friedens zu bewahren und sich allem zu widersetzen, was diese Einheit verfälschen könnte. Das bedeutet nicht lediglich, dass die Gesinnung im Inneren und der persönliche Wandel nach außen hin zu der Einheit des Geistes passen müssen, obwohl das natürlich wahr ist. Doch Zuneigungen und Wandel mögen noch so hervorragend sein, es wäre etwas Ernstes für einen Christen, den Ausdruck dieser Einheit zunichtezumachen oder einfach darüber hinwegzusehen. Aber wird die Einheit des Geistes nicht durch jeden Gläubigen verunehrt, der irgendeine Einheit anerkennt, die nicht vom Heiligen Geist ist? Wenn er die Gemeinschaft einer Landeskirche in diesem oder jenem Land anerkennt, ist es dann nicht klar, dass er den Boden verlassen hat, auf den die Schrift alle Heiligen stellt? Wie kann man als Mitglied einer solchen Kirche die Einheit des Geistes bewahren? Der Betreffende mag sich übrigens in anderer Hinsicht durchaus als ein wahres Kind Gottes verhalten, sein Wandel mag Achtung und Liebe verdienen, und sicher sollte er für jeden, der sich beeifert, die Einheit des Geistes zu bewahren, ein Gegenstand zartfühlender Anteilnahme sein; denn wenn Letztere ihrer Berufung treu sein wollen, müssen sie für die Befreiung aller Kinder Gottes beten, die in diesem Punkt nicht dem Willen und dem Wort des Herrn Jesus folgen.

Dennoch steht es außer Frage, dass diejenigen, die sich zu einer Einheit bekennen, die auf der Grundlage von aller Welt offenstehenden Riten das Fleisch zulässt, sich auf einem Boden befinden, der weiter ist als die Einheit des Geistes. Folglich können sie auch nicht in Übereinstimmung mit dieser wandeln. Wahre Einheit schließt jede andere aus. Wie man nicht zwei Herren dienen kann, so kann man auch nicht an einer zweifachen Gemeinschaft teilhaben. Die Einheit des Geistes lässt keine rivalisierende Einheit zu.

Eine zu enge Einheit – Sektiererei

Doch es gibt noch eine andere Art des Abweichens von der Wahrheit, die die Kinder Gottes daran hindern kann, die Einheit des Geistes zu bewahren. Durch den Missbrauch von Lehre oder Zucht können sie eine Einheit bilden, die nicht nur tatsächlich, sondern grundsätzlich und mit Absicht enger ist als die Einheit des Leibes Christi. Befinden sich solche auf göttlichem Boden? Ich denke nicht. Sie mögen ihre eigene Regierungsform offen aufrichten oder auch insgeheim ein ausgemachtes, wenngleich ungeschriebenes System von Vorschriften haben, wodurch Gläubige, die zwar ebenso gottesfürchtig sind wie sie, aber diese Vorschriften nicht akzeptieren können, ausgeschlossen werden. Dann haben wir es mit einer Sekte zu tun. Ihre Satzungen sind nicht die Gebote des Herrn, erhalten in der Praxis aber dennoch ebenso viel Autorität wie Sein Wort oder (wie es üblich ist) sogar noch mehr. Was soll noch die Behauptung, keine menschlichen Vorschriften zu haben, wenn man für solche, mit denen man in Berührung kommt, unter der Hand bestimmte Bedingungen für die Gemeinschaft einführt – hier schärfer, dort lockerer, je nach der unterschiedlichen Politik und Laune der Führer? Jede derartige Haltung nimmt die Gestalt nicht von Landeskirchentum, sondern von Sektiererei an, die (anstelle zu weiter oder offener Grenzen) eher diejenigen aufzuspalten sucht, die zusammen sein sollten. Wenn Christen so zusammenkommen, dann geben sie durch ihre Gemeinschaft lediglich ihrer Verschiedenheit von ihren Brüdern Ausdruck; sie stehen in keiner Weise auf dem Boden der Einheit zusammen, die von Gott ist. Das ist dem Grundsatz nach Sektiererei; und wenn die Betreffenden es besser wissen, dann sind sie schuldiger als gewöhnliche freikirchliche Christen.

Unter dieser Rubrik einer zu engen Einheit finden wir die Kinder Gottes oft zerstreut vor, und zwar durch den Druck fragwürdiger oder sogar falscher Zuchtausübung oder infolge übermäßig betonter, wenn nicht falscher Lehre. Einige ziehen eine entschieden arminianische, andere eine streng calvinistische Gemeinschaft vor. Die einen mögen bestimmte Ansichten über das Kommen und das Reich Christi aufdrängen; andere über den Dienst, Bischöfe, Älteste usw.; wieder andere über die Taufe, deren Durchführungsweise oder die zu taufenden Personen. Diese kirchlichen Gesetzgeber scheinen sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass ihr Missbrauch dieser Lehren oder Praktiken mit dem Bewahren der Einheit des Geistes in dem Bande des Friedens unvereinbar ist; sie selbst irren sich, wenn nicht in ihren Ansichten, so doch zumindest in der Art und Weise, wie sie diese anderen aufdrängen.

Hinter diesen nach außen hin sichtbaren Abweichungen vom Willen Gottes über Seine Kinder wird man tiefer liegende Ursachen finden, die den Heiligen Geist betrüben und die wahre und geistliche Erkenntnis des Gläubigen hindern. Die persönlichsten und vielleicht am weitesten verbreiteten Hindernisse entspringen dem Zustand der Seele, und zwar durch Unkenntnis eines voll und ganz befreienden Evangeliums. Die Sünde ist in solchen Fällen nie völlig vor Gott gerichtet worden, und folglich kennt man selbst den Grundsatz der Befreiung (Röm 7,2) nur zum Teil, wenn man ihn überhaupt kennt. Noch weniger ist die Kraft des Geistes vorhanden, in welcher der Tod Christi schonungslos auf das eigene Ich praktisch angewandt wird. Vielleicht hat man selbst die Vergebung der Sünden als eine vollendete Tatsache nur schwach erfasst. Dass es oft so ist, zeigt die Auffassung, man müsse immer aufs Neue seine Zuflucht zu dem Blute Christi nehmen, oder (wie einige es ausdrücken würden) ein ständiger Reinigungsprozess müsse vor sich gehen. Diese Lehre gründet man auf ein falsches Verständnis der Gegenwartsform in 1. Johannes 1,7, deren moralische Tragweite man unwissenderweise auf die bloß tatsächliche Zeit einschränkt. Wieder andere haben eine völlig oberflächliche und falsche Ansicht über die Welt, so als ob die ganze Welt durch das Kreuz Christi nun dem Christen gehöre, während doch im Gegenteil der Christ der Welt und die Welt ihm gekreuzigt ist.

Wenn das Fleisch und die Welt auf diese Weise nur unzulänglich und nicht nach dem Worte Gottes im Lichte des auferstandenen Christus gerichtet worden sind, dann ist das Herz nicht in jeder Hinsicht in Gemeinschaft mit Gott. Obwohl man den größten Eifer für Seelen an den Tag legen mag, soweit ihre Gefahr und die vergebende Gnade Gottes verstanden werden, und obwohl man mit aufrichtiger und brennender Liebe wünschen mag, dass Christus durch die Segnung dieser Seelen geehrt werde, so nimmt doch die Natur immer noch einen breiten Raum ein. Das Wort und der Geist Gottes regieren das zu dem Gestorbenen, Auferstandenen und Verherrlichten hin abgesonderte Herz nicht vollständig. Wie kann man bei einem solchen Zustand erwarten, dass jemand sich ein gesundes geistliches Urteil über die Kirche zu bilden vermöchte, kompliziert wie diese Frage nun durch den Ruin der Kirche ist? Viele Gläubige messen der Wissenschaft, Literatur und Philosophie Wert bei, die allesamt das Fleisch erhöhen, oder sie schätzen Beziehungen, die Behaglichkeit und Ehre in der Welt einräumen, hoch ein. Aufgrund mangelnden Verständnisses des Wortes und eines schwachen Empfindens für die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn versäumen sie es, den gegenwärtigen bösen Zeitlauf zu richten, und sind statt dessen ganz von ihren eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen, wenn sie nicht sogar nach größeren Dingen streben. Folglich stehen sie in Gefahr, Vorurteilen und Voreingenommenheit zum Opfer zu fallen. Weder geben sie Christus in der Praxis den Ihm gebührenden obersten Platz, noch können sie sich über brüderliche Freundlichkeit in die reinere Atmosphäre gottgemäßer Liebe erheben und so selbstlos für die Kirche als den Leib Christi Sorge tragen. Sie sind nicht darauf vorbereitet, völlig mit dem eitlen gesellschaftlichen Verkehr zu brechen, den die Überlieferung im Christentum wie schon vor alters im Judentum hervorgebracht hat. Sie schrecken vor den schmerzlichen Folgen zurück, die vollständiger und ohne Zögern praktizierter Gehorsam für jeden, der dem Herrn unterworfen ist, mit sich bringen muss. Das Auge ist nicht einfältig und daher der Leib nicht licht; der Weg sieht ungewiss aus, das Wort scheint schwierig zu sein; und in einem Glauben, der dem Herrn um jeden Preis nachfolgt, scheinen Gefahren zu liegen.

Einsicht kein Prüfstein für die Zulassung

Sollen wir angesichts dessen aus Vorsicht ein bestimmtes Maß an Einsicht verlangen, bevor wir jemand aufnehmen? Gerade das ist ein Hauptunheil, das es stets aufmerksam zu verhüten gilt; es muss als ein grundsätzlicher Fehler, ja als eine Sünde gegen Christus und die Kirche behandelt werden. Nichts könnte unmittelbarer darauf hinauslaufen, die sektiererischste aller Sekten zu bilden, als von den Seelen, die hereinzukommen wünschen, ein richtiges Urteil über die von den Gläubigen am wenigsten verstandene Wahrheit zu verlangen. Diese Wahrheit des Geheimnisses des Christus oder insbesondere des einen Leibes wird für sie, wie es in der Praxis zu sein pflegt, dadurch noch viel schwerer verständlich, dass ständig neue Gruppen aus dem gegenwärtigen gefallenen Zustand der Christenheit hervorgehen.

Nie hat man von einer solchen Forderung gehört, auch dann nicht, als die Zeit der Kirche begann und die Gegenwart des Heiligen Geistes etwas ganz Neues war. Die Heiligen wurden auf das Bekenntnis des Namens Christi hin zugelassen, da ja Gott allen die gleiche Gabe geschenkt hatte. Sein Siegel und damit sozusagen Seinen Pass. Einsichtig waren gerade diejenigen, die den Wert des Namens Christi und der Gabe des Geistes anerkannten, wie sie es ja selbst zu Beginn an sich erfahren hatten. Hätten sie Verständnis dessen, was die Kirche ist, als eine Bedingung der Gemeinschaft verlangt, hätten sie damit in Wirklichkeit ihren eigenen Mangel an Einsicht bewiesen und dem Ziel zuwidergehandelt, wofür Christus gestorben war – die zerstreuten Kinder Gottes in eins zu versammeln.

Hat der gegenwärtige Ruin der Kirche diesen ursprünglichen Grundsatz verändert? Der feste Grund Gottes steht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt, die Sein sind; und: Jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit! Was heute Seinen Namen trägt, ist einem großen Hause gleich geworden, in dem sich Gefäße zur Ehre und Gefäße zur Unehre befinden. Von den Letzteren hat sich wegzureinigen, wer selbst ein Gefäß zur Ehre sein möchte, geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu jedem guten Werke bereit. Wenn der öffentliche Zustand böse ist, ist persönliche Treue zu Christus oberstes Gebot. Der Wunsch nach Einheit darf sich darüber weder hinwegsetzen noch den Christen dazu verpflichten, den Namen des Herrn mit Ungerechtigkeit zu verbinden. Auch nach persönlicher Reinheit gilt es zu streben; und das nicht in Isolation, sondern mit allen, die den Herrn aus einem reinen Herzen anrufen. Kein Wort von einer Forderung kirchlicher oder lehrmäßiger Einsicht; es heißt vielmehr „mit denen, die …“, das heißt mit den wahren Gläubigen zu einer Zeit lauen und hohlen Bekenntnisses.

Zu einem späteren Zeitpunkt, der „letzten Stunde“ des Johannes, sehen wir, wie energisch der Geist Gottes auf ersten Grundsätzen besteht. „Jeder, der da glaubt, dass Jesus der Christus ist, ist aus Gott geboren; und jeder, der den liebt, welcher geboren hat, liebt auch den, der aus ihm geboren ist. Hieran wissen wir, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten. Denn dies ist die Liebe Gottes, dass wir seine Gebote halten, und seine Gebote sind nicht schwer. Denn alles was aus Gott geboren ist, überwindet die Welt; und dies ist der Sieg, der die Welt überwunden hat: unser Glaube. Wer ist es, der die Welt überwindet, wenn nicht der, welcher glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist?“ Angesichts vieler Antichristen bleibt Christus der Prüfstein. Der Geist hält vorbehaltlos an Seiner Person fest. Ihm irgendetwas hinzuzufügen, bedeutet, etwas von Ihm wegzunehmen, Seinen Namen zu verunehren.

Aber ich will weitergehen. Nehmen wir die Hoffnung der Wiederkunft des Herrn Jesus. Ihr wisst, wie überaus wichtig es für Christen ist, in Wahrheit und mit dem Herzen Christus aus dem Himmel zu erwarten. Aber würdet ihr verlangen, dass diejenigen, die im Namen des Herrn Gemeinschaft suchen, diese Hoffnung verstehen und bekennen müssen, bevor ihr sie im Herrn aufnehmt? Wäre das nicht eine Sekte? Eure Auffassung der christlichen Hoffnung mag noch so richtig sein und die Person, die um Gemeinschaft bittet, noch so unwissend über dieses Thema sein doch wer autorisiert euch oder andere, an der Tür zu stehen und dem Betreffenden den Eingang zu verwehren? Vielleicht hegt er den falschen Gedanken, dass die Christen, wie die Juden oder die Nationen in Offenbarung 7, durch die große letzte Drangsal gehen müssen. Angenommen, er versteht die Stellung des Christen nur wenig, weil er nicht seine Vereinigung mit Christus im Himmel sieht, die der Heilige Geist in der jetzigen Zeit bekannt macht. Folglich ist er in Verwirrung und weiß nicht, dass der Herr kommen und die Seinen vor jener schrecklichen Vergeltung, die über die Welt kommt, zu sich nehmen wird. Er mag sogar die Gedanken von Männern teilen, die ebenso unweise sind wie einige in Thessalonich und dem Wahn verfallen, der großen Drangsal zu entfliehen zu versuchen. Da die Thessalonicher zu viel mit der Prophetie beschäftigt waren, hatten sie die wahre Hoffnung auf das Kommen Christi verloren oder nie gekannt. Wenn wir außer Christus von irgendetwas ganz in Anspruch genommen werden, sei es durch die Prophetie, die Kirche oder das Evangelium – was, wenn nicht Gnade allein, kann uns dann noch vor weiterem Abirren bewahren?

Sollen denn Erkenntnis der Wahrheit oder Wachstum in geistlicher Einsicht gering eingeschätzt werden? Keineswegs; aber es ist falsch und eitel, von Gläubigen, die gottgemäße Gemeinschaft suchen, das eine oder das andere als eine Vorbedingung zu verlangen. Helft ihnen, unterweist sie, führt sie in beidem weiter! Das ist wahrer, freilich überaus mühsamer Dienst. Das andere aber ist Sektiererei und falsch.

Christus der alleinige Mittelpunkt

Wenn es solche gibt, die für ein so großes Abweichen von der Schrift und insbesondere von der charakteristischen Wahrheit der Versammlung Gottes eintreten, dann mögen sie ihre neue, dem Herrn entgegengesetzte Erfindung offen an den Tag legen, damit auch die Übrigen Furcht haben. Christus bleibt immer der einzige Prüfstein, der einzige Mittelpunkt, zu dem hin der Heilige Geist versammelt. Was der Herr kurz vor Beginn der Zeit der Kirche verkündete, bleibt auch nun, da Er in dem Haus Seiner neuen Freunde nicht weniger verworfen wird als in dem Seiner alten, wahr, und zwar sogar noch offenkundiger: „Wer nicht mit mir ist, ist wider mich, und wer nicht mit mir sammelt, zerstreut“ (Mt 12,30). Es ist unbedingt erforderlich, persönlich auf der Seite Christi zu stehen, um so Gott zu gefallen und Seinen Sohn nicht zu verunehren. Aber neben dieser persönlichen Treue bestehen nun auch das Vorrecht und die Pflicht des Sammelns; und wer nicht sammelt, zerstreut nur, mag es auch nach außen hin ganz anders scheinen. Der einst verworfene und gestorbene, nun aber auferstandene und verherrlichte Christus bildet den anziehenden Mittelpunkt. Folglich ist im Brechen des Brotes das Zeichen Seines Todes zugleich auch das Zeichen des einen Leibes. Tatsächlich wird aber gerade das von denen verleugnet und verurteilt, die diese Gemeinschaft auf ihre wenigen Anhänger beschränken möchten, indem sie „die Vielen“, das heißt alle, auf die Christus als die Seinen herabschaut und die Er willkommen heißt, zurückweisen. Das hat Er weder von ihnen verlangt, noch heißt Er eine solche Handlungsweise in Seinem Worte gut. Und wenn Er sie nicht dazu bevollmächtigt hat, womit anders haben wir es dann zu tun als mit einer parteilichen und willkürlichen Einschränkung, wodurch sie nicht nur „das Gemeine“, sondern auch „das Köstliche“ abweisen, wenn diese sich ihrem unautorisierten Kurs nicht anpassen, ob sie ihn nun für richtig halten oder nicht?

Das läuft unmittelbar auf Zwang und Demoralisierung hinaus; denn man trachtet nicht nach Überzeugung aufgrund der Schrift, sondern, wo eine solche Überzeugung nicht vorhanden ist, nach blinder Unterwerfung, oftmals widerwilligem und unglücklichem bloßem Nachgeben, nach einem Schein von Gemeinschaft, die aber nicht mehr lebendig ist, sondern tot. Denn der Geist, den wir empfangen haben, ist mit Sicherheit kein Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit; und in keiner Weise heißt Er etwas gut, das einen solch formellen Charakter trägt und durch menschlichen Druck oder Einfluss zustande gekommen ist. Die Folgen sind furchtbar: eine Vorrangstellung der unbesonnenen und ungestümen Geister, die nun mehr denn je die Zügel in der Hand halten; diejenigen, denen es nicht darum geht vorzustehen, es sei denn in der Furcht des Herrn und durch Sein Wort, werden vergleichsweise aus ihrer rechten und durch die Gnade verliehenen Stellung zurückgedrängt; Zerstörung moralischer Grundsätze bei denen (und es sind sehr viele), die ihre Missbilligung der Bewegung im Ganzen wie im Einzelnen dadurch zu beschwichtigen suchen, dass sie sich entweder an Führer hängen oder zu der größeren Anzahl halten, was sie dann törichterweise als Einheit bezeichnen. Protestiere, sagen einige, aber bleibe in diesem Kreis; das heißt, protestiere, aber nur mit Worten! Wir waren bisher gewohnt, diese Haltung als die schmerzliche Kompromissbereitschaft evangelischer Christen zu betrachten, die ihre kirchliche Stellung lieben. Doch sehen wir dieselbe Einstellung nun nicht auch dort, wo sie nicht gefunden werden sollte? Das ist alles andere als Wahrheit und Recht – und das soll Einheit sein!

Es handelt sich um nichts Geringeres als um den Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum – einerseits Übereinstimmung mit der Einheit des Geistes zur Verherrlichung Christi, wie sie in Heiligkeit und Gnade gemäß Seinem Wort verwirklicht wird; andererseits ein selbstbetrügerischer und irreführender Missbrauch des Worte „Einheit“ zur Errichtung einer auf gewaltsame Trennung ausgerichteten Partei, die sich weigert, das Böse durch Demütigung und Gebet aufzuhalten und es für überflüssig erklärt, ihre Forderungen oder deren Rechtfertigung aus der Schrift zu begründen.

Kein einsichtsvoller Gläubiger wird um ein ausdrückliches Gebot bitten, wie es ein Jude tun würde. Niemand erwartet, dass die Schrift einen modernen Ort oder eine aktuelle Begebenheit mit Namen nennt. Wer so redet, als ob wir irgendetwas dergleichen suchten, macht und verurteilt sich selbst noch mehr. Wo aber ist der schriftgemäße Grundsatz dafür, eine örtliche Meinungsverschiedenheit zum Keil für eine universale Trennung zu machen? Wenn eine Frage aufkommt, die als Strafe eine weltweite Zerstreuung der Gläubigen zur Folge hat, müssen alle, die die Kirche lieben, sicher sein, dass die Prüfung von Gott und gemäß Seinem Wort kommt. Das ist unbestreitbar.

Einige von uns erinnern sich an eine mehr als dreißig Jahre zurückliegende Prüfung. Aber damals ging es darum, ob wir aus einem wahren oder falschen Christus eine neutrale Frage machen wollten. Das wiesen wir mit Abscheu zurück. Damals hing eine große Gruppe von Gläubigen ihren Führern an, die das Urteil der Versammlung, in der das Böse auftrat, ignorierten und die bekannten Parteigänger eines erwiesenermaßen antichristlichen Lehrers hineinließen; die betreffenden Gläubigen leugneten ausdrücklich ihre Verantwortlichkeit, das Böse mit allem Ernst auch ihrerseits zu richten.

Diese Prüfung kam nicht von Menschen. Es handelte sich um ein ganz bestimmtes Gebot des Herrn. Gott selbst gebietet uns, jeden abzuweisen, der nicht die Lehre des Christus bringt (2Joh). Das geht weit über die Handlungsweise mit solchen hinaus, die in Unabhängigkeit handeln oder eine Sekte bilden. Kein kirchlicher Irrtum, wie schwerwiegend er auch sein mag, könnte eine solche Härte rechtfertigen. Doch die grundlegende Wahrheit über Christus verlangt sie. Das sind wir Ihm schuldig, der unser Herr ist, der für uns starb und dessen Herrlichkeit das Wort bewacht wie sonst keine Wahrheit. Niemals wären wir bevollmächtigt gewesen, so zu handeln, wie wir es 1848/49 taten, wenn nicht Christus gelästert worden wäre. [Kelly spielt hier auf die durch die Lehren Newtons hervorgerufene Bethesda-Frage an, die letztlich zur Trennung von den sog. „Offenen Brüdern“ führte. Üb.]

Nächster Teil


Aus Christliche Einheit und Gemeinschaft, Heijkoop-Verlag, 1982, S. 9–24

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