Messianische Juden
Immer mehr Juden kommen zum Glauben an den Messias

Alfred E. Bouter

© CSV, online: 01.07.2004, updated: 29.04.2023

Einführung

Auf meinem Schreibtisch und in meinen Ordnern liegen einige Zeitungsartikel, viele Broschüren, Dokumente und periodische Schriften von allen möglichen messianischen Gruppierungen und noch mehr Bücher und Kassetten von, über, für und sogar gegen diese Gruppen. Ich habe mich ein wenig damit beschäftigt und möchte versuchen, etwas davon weiterzugeben.

Das Thema ist sowohl unter Juden als auch unter Christen sehr umstritten, und zwar aus mehreren Gründen und im Blick auf verschiedene Fragen. Zugleich ist dieses Phänomen eines schnell wachsenden messianischen Zeugnisses höchst interessant und manchmal faszinierend, doch auch eine Herausforderung für Christen, die an die Bibel glauben. Warum? Sehen wir nicht das Handeln Gottes darin, dass es in unseren Tagen wahrscheinlich mehr wiedergeborene Juden gibt als je zuvor, die Jünger unseres Herrn Jesus Christus oder Jeschua Hammaschiach, wie sie Ihn nennen, sein wollen?

Wir werden heute mit immer mehr Gruppen konfrontiert, die sich selbst als „messianische Juden“, „Juden für Jesus“, (Jesus als) den „Messias bekennender Juden“, „messianischer Judaismus“ usw. bezeichnen. Einige betrachten sich als „wiedergeborene“ Christen, obwohl sie zögern, diesen Namen zu benutzen. Andere würden es sogar ablehnen, als Christen bezeichnet zu werden. Manche sehen sich selbst als „vollendete Juden“, während andere nichts dagegen haben, „hebräische Christen“ oder „christliche Juden“ genannt zu werden. Manche lehnen es ab, für die offensichtliche Veränderung in ihrem Leben und Glauben den Ausdruck Bekehrung zu gebrauchen. Andere gebrauchen nicht den Namen Jesus und sagen statt dessen Jeschua oder Jeschua Hammaschiach (Messias).

Ein bemerkenswertes Phänomen

Einige führen ihre Gottesdienste in messianischen Synagogen oder in messianischen Gemeindehäusern durch, haben einen gottesdienstlichen Leiter, einen messianischen Rabbiner und eine messianische Liturgie. Auch wenn sie teilweise kirchliche Gebäude benutzen, vermeiden sie es doch meist, neben ihrer eigenen Gemeinschaft messianischer Juden (wir nennen sie in diesem Artikel MJ) eine Verbindung mit irgendeiner Kirche oder Benennung aufzunehmen, während andere das durchaus tun. Eine theologische Bildung erhalten sie in einer Yeshiva durch messianische Lehrer, die besonderes die jüdischen Wurzeln und einen „jüdischen Charakter“ des Neuen Testaments betonen. Andere wurden oder werden in evangelikalen Schulen, Seminaren und Universitäten ausgebildet.

MJ gibt es überall auf der Welt. Sie haben zahlenmäßig, besonders in den letzten Jahrzehnten, stark zugenommen. Doch warum werden sie von ihrem eigenen Volk als Ausgestoßene betrachtet und behandelt, und warum sind sie auch bei den großen christlichen Kirchen nicht gut angesehen? Manche evangelikale Gruppen sind regelrecht begeistert über das Wachstum dieser messianischen Bewegung, während andere bibeltreue Christen die Glaubensgrundlagen der MJ ablehnen. Auf jeden Fall ist es eine höchst faszinierende Bewegung, die sich uns zum Studium und zur Beurteilung darbietet. Es ist nicht möglich, alle theologischen Auswirkungen der Punkte, die wir hier erwähnen, ausführlich darzulegen. Wir müssen uns auf einige Hinweise beschränken.

Was sind messianische Juden?

Die Frage „Wer ist eigentlich ein Jude?“ entzweit die jüdische Gemeinschaft sowohl in Israel[1] als auch in der „Zerstreuung“ (d.h. außerhalb des Landes). Daher kann man verstehen, dass es also noch weitaus schwieriger ist, zu definieren, was ein „hebräischer Christ“ oder ein „messianischer Jude“ ist. Ich möchte an dieser Stelle auf Kapitel 7 des Buches Jesus was a Jew („Jesus war ein Jude“) und auf das Buch Hebrew Christianity („Hebräisches Christentum“) verweisen, wo Arnold Fruchtenbaum[2] das Thema auf Seite 13 folgendermaßen zusammenfasst: „Was den Glauben betrifft, sind die hebräischen Christen in Übereinstimmung mit jedem, der an Christus glaubt, sei er Jude oder Heide, aber von der Nationalität her identifizieren sie sich mit dem jüdischen Volk.“ In How to be like the Messiah? („Wie kann man dem Messias ähnlich sein?“) gibt John Bell[3] die folgende Definition: „Wenn ein Jude den in den jüdischen Schriften verheißenen Messias annimmt, wird er ein messianischer Jude und steht somit in einer Reihe mit Mose, den Propheten und den Christen des ersten Jahrhunderts.“

Mit diesen Definitionen haben wir wohl kaum Schwierigkeiten und erkennen bei dieser Gelegenheit auch, dass zwischen hebräischen oder jüdischen Christen und MJ eigentlich kein grundsätzlicher Unterschied besteht.[4] Mehr Probleme haben wir jedoch mit denen, die sagen: „Wir haben uns nicht bekehrt. Wir haben das Judentum nicht verlassen. Wir haben einfach unseren Messias angenommen.“[5] Eine verwirrende Situation, nicht nur für Juden und Christen aus den Nationen, sondern auch für die MJ selbst, da es in ihren eigenen Reihen viele Meinungsverschiedenheiten über dieses Thema gibt.[6]

Zwischen 200.000 und 300.000 Juden[7] haben sich im letzten Jahrhundert bekehrt und den Herrn Jesus als ihren Messias und Erlöser angenommen. Viele von ihnen haben alles aufgegeben, was sie noch mit dem Judentum verband. Es war (und ist teilweise heute noch) Brauch, dass, wenn sich ein Jude bekehrt und sich taufen lässt, seine jüdischen Verwandten eine Trauerfeier für ihn abhalten und ihn fortan als gestorben betrachten und auch so behandeln, auch wenn sie ihm auf der Straße begegnen. Heute geht es schon fast ins andere Extrem. Immer mehr MJ lehnen jegliche Verbindung zum Christentum ab. Nach der Schrift gehören sie zu dem „großen Haus“ (2Tim 2,20.21), wenn es auch einige nicht so sehen. Andere wiederum verstehen die Grundsätze von der Einheit des Leibes Christi (Eph 4,1-6) und betrachten sich selbst als einen Teil dieses Leibes. Andererseits gibt es auch wirklich wiedergeborene Juden, die nicht als Christen, nicht einmal im biblischen Sinn dieses Wortes, bezeichnet werden wollen.

Etwas zur Geschichte

Erstens führen die MJ ihre Geschichte zurück bis auf Mose und Abraham, und das natürlich zu Recht. Sie erkennen, dass viele der alttestamentlichen Verheißungen in Christus erfüllt worden sind und dass im Blick auf andere Verheißungen zumindest die Grundlage gelegt ist. Aber viele von ihnen verstehen nicht, dass mit dem Kommen Christi, seinem Opfertod und Begräbnis, seiner Auferstehung und Verherrlichung ein völlig neues System eingeführt wurde, das letztlich zu einer Trennung von biblischem und rabbinischem Judentum[8] führte.

Zweitens betrachten sie sich als zu den „Nazarenern“ gehörig, den Messias-gläubigen Christen, die wir in der Apostelgeschichte, im Jakobus-, Hebräer- und 1. und 2. Petrusbrief antreffen. Diese wurden bei den Juden allgemein als eine neue jüdische Sekte betrachtet und als solche mehr oder weniger geduldet[9]. Sie werden aufgerufen, die Apostelschaft und den Dienst des Paulus anzuerkennen (siehe z.B. 2Pet 3,15.16). Man kann aus den Schriften des Neuen Testaments und den historischen Überlieferungen erkennen, dass diese Nazarener (oder MJ) eine schwierige Zeit erlebten, besonders nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n.Chr. und nach dem Aufstand Bar Kochbas im Jahre 132 n.Chr. Aber sie blieben als Sekte unter den Juden bestehen. (Es ist für mich fraglich, inwiefern diese Nazarener und andere Gruppen, zum Beispiel die Ebioniten, biblisches Christentum repräsentierten.)

Andererseits nahm der Druck seitens der Heidenchristen allmählich zu, die inzwischen unter der Macht des römischen Kaisers standen und ihr Leben nicht durch solche, die allgemein als Rebellen bekannt waren, in Gefahr bringen wollten.[10] So trat das Judentum dieser MJ (Christen) allmählich in den Hintergrund, obwohl es durch die Jahrhunderte hindurch immer viele Juden gegeben hat, die den Herrn Jesus als ihren Messias und Erlöser annahmen, als ein Überrest nach Auswahl der Gnade (Röm 11,1-5) und das wahre Israel Gottes (Gal 6,16), bis dann im vorigen Jahrhundert und besonders in unseren Tagen die Betonung ihres Judentums mehr in den Vordergrund trat.[11]

Drittens wird unter den MJ eine Bewegung immer deutlicher, die ganz besonders den jüdischen Ursprung und die jüdische Identität, jüdische Traditionen usw. hervorhebt. Ihren unmittelbaren historischen Ursprung kann man zurückführen auf das Ende des vorigen und den Beginn unseres Jahrhunderts, als die (internationale) hebräisch-christliche Allianz entstand und auch das messianische Judentum besonders in den Vordergrund gerückt wurde. Heute ist diese Bewegung in vielen Ländern vertreten. In den USA und Kanada gibt es ca. 100 verschiedene messianische Synagogen und Gemeinden, daneben viele extreme und gemäßigte Gruppierungen. Viele der gemäßigten MJ gehören zu einer der evangelikalen Kirchen. Die Betonung ihres Judentums nimmt jedoch zu. Sie sind sehr aktiv in der Verkündigung des Evangeliums[12] und benutzen dazu die Presse, den Rundfunk und das Fernsehen. Sie geben eine Vielzahl von periodischen Schriften und Büchern zu allen möglichen Themen heraus und organisieren Bibelstudienkurse, Konferenzen, Musikveranstaltungen u.a. Sie sind auch in vielen europäischen Ländern, in Israel, Argentinien, Mexiko und Südafrika vertreten. Man schätzt die Zahl der messianischen Gläubigen und hebräischen Christen in ihrer Gesamtheit auf 250.000. Ich vermute, dass diese Zahl auch die Judenchristen einschließt, die zu einer „Heidenchristen-Gemeinde“ gehören.

Einige Punkte zum Nachdenken und Beurteilen

Epheser 2 lehrt nicht, dass die Christen aus den Nationen Teilhaber der Segnungen der jüdischen Bündnisse geworden sind. Das verstehen die MJ, die unsere geliebten Brüder in Christus sind – sofern sie von neuem geboren sind –, ebenso wie viele Theologen nicht.

Sie erkennen nicht, dass die Gläubigen aus Juden und Heiden in Segnungen eingeführt worden sind, die weitaus höher sind als die des Judentums, wie Epheser 2 und andere Abschnitte des Neuen Testaments uns lehren. Mit anderen Worten, es ist ein völlig neues „System“, „neue Dinge“ (Apg 26,17.18; 2Tim 1,1.9), die Gott schon vor Grundlegung der Welt in seinem Plan hatte (nach Verheißung des ewigen Lebens) und die in den prophetischen Schriften des Neuen Testaments offenbart wurden (Röm 16,26; Eph 3). Andererseits dürfen wir aber auch nicht übersehen, dass beide, die Gläubigen aus den Juden und aus den Nationen, der Segnungen Abrahams (der „alten Dinge“) teilhaftig geworden sind (siehe z.B. Gal 3 und 4).

Wie auch immer, in dem funktionierenden Leib Christi ist nach den Grundsätzen von Römer 14 jedoch ganz offensichtlich auch Raum für das Jüdisch-Sein dieser hebräischen Christen[13], denn sie gehören zu dem Überrest Israels, sind gleichzeitig aber„in Christus“ Teil einer neuen Ordnung und gehören zur Versammlung des lebendigen Gottes. Ein Teil des Problems liegt darin, dass man den Dienst des Apostels Paulus auf dieselbe Stufe des Dienstes der Apostel stellt, die in Jerusalem blieben.

Es gibt viele Dinge, die für die MJ sprechen: ihr Eifer, ihre Begeisterung, ihre Hingabe, ihr Einfallsreichtum. Andererseits vermischen viele von ihnen biblische Lehre mit menschlichen Traditionen, sogar mit Lehren der Rabbiner, die durchaus nicht alle falsch sind, aber oftmals eine Mischung aus göttlichen und menschlichen Elementen darstellen, besonders bei pfingstlerischen und charismatischen Richtungen.[14]

Auch über wichtige neutestamentliche Grundsätze gibt es sehr unterschiedliche Ansichten, zum Beispiel über die Gemeindepraxis, über das Berufen von Ältesten, über gottesdienstliche Leiter, über die Rolle der Frau im öffentlichen Dienst und Lehren. Neben dem Hebräerbrief möchte ich auf das Johannesevangelium hinweisen, worin besonders das Thema behandelt wird, das man vielleicht „Christus ist größer als …“ nennen könnte. Im Johannesevangelium finden wir eine Darstellung der Größe Christi, die alles andere in den Schatten stellt, auch die bedeutendsten Dinge des Judentums: Mose (Joh 1,17.18), Johannes den Täufer (Joh 1,26-28). Die Herrlichkeit des Sohnes des Menschen übersteigt die des Messias Israels (Joh 1,49-51) und die des Tempels (Joh 2,20-22). Himmlische Dinge, eingeführt durch Christus, sind größer als die irdischen Dinge, über die er gesprochen hatte (Joh 3,12-21). Er ist größer als Jakob (Joh 4,11-14), größer als das Handeln Gottes in Verbindung mit dem Teich Bethesda (Joh 5), größer als das Manna (Joh 6), größer als das höchste jüdische Fest (Joh 7) usw. Diese Gegenüberstellungen würden von jedem unbiblischen, menschlich-religiösem System befreien!

Schwerwiegender ist jedoch, obwohl viele MJ die grundlegenden Lehren des Neuen Testaments anerkennen, dass einige ihrer theologischen Prinzipien aufgrund ihres Eifers, ihr Judentum hervorzuheben, ganz und gar nicht in Ordnung sind. Zum Beispiel sagen einige MJ, dass 5. Mose 6,4 („Höre, Israel, der Herr unser Gott ist ein einiger Herr“) die endgültige Offenbarung unseres Gottes ist.[15] Das würde aber bedeuten, so, wie es geschrieben ist, dass es keine weitergehende Offenbarung gibt, und folglich würde das ausschließen, dass Gott mit dem Kommen Christi eine neue Ordnung der Dinge eingeführt hat. Das Glaubensbekenntnis der Messianisch-Jüdischen Allianz sagt: „Die Vollendung dieser Offenbarung ist uns im Neuen Bund gegeben.“ Das würde aber den Aussagen von Epheser 2 widersprechen, dass Gott etwas Neues eingeführt hat, das sogar noch über die Verheißungen über einen neuen Bund hinausging. Es würde den Neuen Bund auf dieselbe Ebene stellen wie den Alten Bund, indem der Neue nur eine Ergänzung des Alten wäre. Außerdem wird der Neue Bund mit dem Haus Israel und dem Haus Juda geschlossen (Jer 31,31), wo wäre dann also Platz für die Gläubigen aus den Nationen? Weiterhin betrachten sich die MJ als formell zum Neuen Bund gehörend und folglich auch als Teilhaber an den zukünftigen Segnungen, die Gott bei der Errichtung der tausendjährigen Herrschaft des Herrn Jesus geben wird. Deshalb meinen viele, dass das Reden in Sprachen und Heilungen ein grundlegendes Merkmal ihrer Bewegung sein müssten.

So entstehen leicht Missverständnisse, nicht nur zwischen Christen aus den Nationen und den MJ, sondern auch zwischen MJ und den Repräsentanten der Hauptrichtungen des Judentums oder der Namenschristenheit. Aber bei den MJ gibt es auch in den eigenen Reihen viele unterschiedliche Auffassungen und Gegensätze. Wir müssen deshalb sehr vorsichtig sein mit Erklärungen, Aussagen, Studien usw. und viele Dinge überprüfen, bevor wir eine Bewertung im Licht der Offenbarung Gottes vornehmen können.

Einige Beispiele dazu:

  • Bekehrung

Dieser Begriff wird oft für den formellen Übertritt zum Christentum verwendet. Man kann verstehen, dass die MJ diesen Ausdruck nicht lieben, weil sie dabei unwillkürlich an erzwungene „Bekehrungen“ wie zum Beispiel zur Zeit der Inquisition oder an andere Formen von „Zwangsbekehrungen“ denken und an die Schande, die es heute bedeutet, wenn jemand die jüdische Gemeinschaft verlässt. Andererseits kann man auch nicht einfach im jüdischen Bereich bleiben, als gehöre man zu ihm (Joh 10; Heb 13), was den Grundsatz eines Überrestes in Israel heute nicht aufhebt, wie wir oben gesehen haben, denn der biblische Grundsatz der Bekehrung mit allen persönlichen und öffentlichen Konsequenzen bleibt bestehen.

  • Beschneidung

Die Beschneidung ist abzulehnen, wenn sie als ein „Mittel“ zur Erlösung (Christus und Beschneidung) für sowohl Juden als Heiden auferlegt wird. Wir können es akzeptieren, wenn jüdische Gläubige in Aufrichtigkeit damit einfach in der Linie der Verheißungen Abrahams bleiben möchten; aber auch sie müssen lernen, dass es Gott viel mehr auf die geistliche Verwirklichung der Beschneidung ankommt als auf deren buchstäbliche, praktische Durchführung. Es scheint mir schon da problematisch zu werden, wo dieses äußerlichen Dinge aus Traditionsgründen praktiziert werden; dann ist die Sache falsch (z.B. auch die Fußwaschung im buchstäblichen Sinn).

  • Widersprüche

MJ verneinen zu Recht die „Bundestheologie“, die Gottes Verheißungen an Israel einfach vergeistlicht und vollständig auf die Kirche überträgt.[16] Aber sie betrachten sich als diejenigen, mit denen Gott schon den neuen Bund eingegangen ist, was auch nicht richtig ist.

Unser Verhalten

Wie sollten unsere Reaktionen im Blick auf die MJ sein?

  • Mitfühlend:

Man denke an das Verhalten des Vaters gegenüber dem verlorenen Sohn, aber auch seinem älteren Sohn gegenüber.

  • Verständnisvoll:

Es ist ein Wachstumsprozess, in dem erst Erfahrungen gesammelt werden müssen, ehe die geistliche Reife erreicht wird.

  • Wohlwollend:

Man bedenke, dass wir als Christen aus den Nationen in der Schuld der Juden im Allgemeinen stehen und besonders in der unserer jüdischen Mitgeschwister, denen wir das NT und viele andere Segnungen verdanken und die so viel von denen gelitten haben, die sich „Christen“ nennen.

  • Standhaft:

Was die Lehre und grundlegende Wahrheiten angeht, können wir keine Kompromisse eingehen, aber wir sollten den Unterschied zwischen fundamentalen und nicht-fundamentalen Dingen beachten.

  • Dankbar:

für das offensichtliche Wirken des Geistes Gottes, trotz allen Versagens und aller Mängel, die es auch unter den MJ gibt.[17]

Eine Einschätzung und einige Fragen

Betrachtet man die gesamte messianisch-jüdische Bewegung, so habe ich den Eindruck, dass wir in einer Übergangsphase leben, wo wir eine Bewegung in umgekehrter Richtung sehen. Die Geschichte der Kirche begann mit einer jüdischen Form der neutestamentlichen Kirche. Sie beteten im Tempel an, obwohl der Vorhang zerrissen war (was grundsätzlich die von Gott bewirkte Beiseitesetzung des Judentums bedeutete), und verharrten gleichzeitig im Brechen des Brotes. Diese von den Judenchristen praktizierte Form des Gottesdienstes endete einige Jahre vor der Zerstörung des Tempels, als sie Jerusalem verlassen mussten. Aber auch danach gab es die Nazarener unter den Juden, bis sie später allmählich verschwanden (s. oben). Heute nun „erscheinen“ die Nazarener wieder, und zwar in Form (bestimmter Gruppen) der MJ, und bereiten den Weg, als wäre es eine ähnliche Situation wie damals.

Manchmal wird die Frage gestellt, ob diese MJ die Vorläufer des jüdischen Überrests sind, den es nach der Entrückung geben wird. Wenn wir nun versuchen, eine Antwort darauf zu finden, müssen wir bedenken, dass alle, gleich ob Gläubige aus den Juden oder aus den Heiden, die errettet sind und zur Erkenntnis der Wahrheit gekommen sind, von Pfingsten an bis zur Entrückung, zur Versammlung des lebendigen Gottes gehören (Apg 10; 11; Off 5,9). Wirklich wiedergeborene MJ, die ihren Glauben bekennen, gehören nach der Lehre des Neuen Testaments ganz bestimmt zu der allgemeinen Kirche oder Versammlung (ekklesia), obwohl sie auch einen Sonderfall (einen Überrest in Israel) darstellen und zu dem Israel Gottes gehören.[18]

Es ist für und gegen das messianische Judentum geschrieben worden. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir sehr feststehen müssen, wenn es um grundlegende Wahrheiten geht, zum Beispiel um die Belehrungen des Galaterbriefs (den Weg der Errettung) oder des Hebräerbriefs („außerhalb des Lagers“). Im Allgemeinen anerkennen die MJ jedoch die Apostelschaft und die Lehren des Paulus, wenn auch viele von ihnen unwissend sind wie zum Beispiel über die Bedeutung des Wortes „Geheimnis“. Aber das ist ja leider auch bei vielen Christen der Fall.

Noch etwas, was leicht durcheinandergebracht wird: „Der Zionismus ist eine Schwester-Bewegung des messianischen Judentums“ (so eine messianische Zeitung). Wenn wir auch vom menschlichen Standpunkt aus gesehen Sympathie für den Zionismus haben könnten, sollten wir doch wissen, dass sein Programm der Selbstverwirklichung und der Selbsthilfe ganz und gar humanistisch geprägt ist und unweigerlich zur Anerkennung des „Menschen der Sünde“ führen wird. All die vermeintlich großen Dinge, die in Unabhängigkeit von Gott erreicht worden sind, werden der Großen Drangsal zum Opfer fallen. Deshalb sollten wir nicht allzu enthusiastisch über die Erfolge dieser Bewegung sein, obwohl wir auch hier Gottes Wirken in seiner Vorsehung erkennen können. Aber öffentlich wird sich Gott nur zu dem Überrest nach der Entrückung bekennen, zu all den Juden, die dann wiedergeboren werden und wirklich auf Gott vertrauen.


Originaltitel: „Messianische Juden“
aus Folge mir nach, 4/1998, S. 21–28

Anmerkungen

[1] Im Jahre 1988 sagten bei einer Umfrage 78 Prozent von insgesamt 1189 wahllos befragten jüdischen Israelis: Kinder einer jüdischen Mutter, die an Jesus glauben, aber nicht offiziell konvertieren und sich zu den Zionisten bekennen, seien als olim (Plural von oleh = „Emigrant nach Israel“) zu akzeptieren (Salvation, published by International Ministries to Israel, Chicago).

[2] Ariel Ministries, Tustin, CA.

[3] Chosen People Publications, 1987, Charlotte, NC.

[4] Obwohl es in der Praxis natürlich erhebliche Unterschiede gibt! Die fanatischeren unter den MJ werfen ihren jüdisch-christlichen Brüdern vor, dass sie ihre Herkunft verleugnen, und verlangen, dass sie zum Judentum zurückkehren, um damit ein wirkungsvolleres Zeugnis für das jüdische Volk zu sein. Sie legen Stellen wie Lukas 5,39 falsch aus, um ihre Haltung zu begründen, und sagen: „Der alte ist besser“, was bedeuten soll: (Biblisches) Judentum ist besser als das (biblische) Christentum! Wir müssen also den Unterschied zwischen MJ mit und in einem biblischen Verständnis und MJ als einem von Menschen geschaffenen System, das sich dem Licht des NT widersetzt, gut verstehen.

[5] Rabbi Larry Freiberg in einem Interview mit Ann Ledesma, The Princeton Packet, 22. Juli 1988.

[6] Wie man bei den Juden sagt: „Zwei Juden = drei Religionen“.

[7] Man schätzt, dass es gegenwärtig ungefähr 110.000 MJ und 140.000 sogenannte hebräische Christen gibt.

[8] Zu weiteren Einzelheiten siehe Hebräer 13,13.14; Apostelgeschichte 13,38-50; 19,9; 28,23-29.

[9] Außer den „radikalen“ Lehren des ehemaligen Rabbi Saulus von Tarsus. Die MJ überbetonen die Tatsache, dass sie toleriert wurden. Aus vielen Hinweisen des NT erkennt man jedoch, dass die „Nazarener“ sehr wohl innerhalb und außerhalb des Landes unter Verfolgungen durch die Juden zu leiden hatten.

[10] Für weitere Informationen siehe die Bücher von A. Fruchtenbaum und Nazarene Jewish Christianity von Ray A. Pritz, Leiden 1988; E.J. Brill/The Magnes Press, The Hebrew University, Jerusalem.

[11] Für weitere Einzelheiten siehe auch Modern Messianic Jewish History (1987) von Robert Winer (Messianic Jewish Alliance).

[12] Bei der Verkündigung dieses Evangeliums besteht die Gefahr einer Vermischung von Judentum und Christentum (siehe Gal 1). Wenn jüdische Gläubige in ihrer Art und Weise die Dinge erleben und zum Ausdruck bringen, ist das nicht verkehrt. Werden allerdings jüdische Überlieferungen zum Maßstab gemacht oder einfach biblische Aussagen geleugnet, muss man das Evangelium als ein „falsches“ Evangelium ablehnen.

[13] Das sieht man auch daran, wie oft sich Paulus mit seinem Volk (nicht mit der jüdischen Religion!) identifizierte (Heb 1,1; 2,1-3; Apg 26 und viele andere Stellen).

[14] Der Herr warnte vor dem Vermischen der beiden Systeme (dem Judaismus, einst zwar von Gott eingeführt, jetzt aber verworfen, und dem biblischen Christentum für Juden und Heiden). Beispiele dafür sind die Gleichnisse von dem alten und dem neuen Kleid, von den Weinschläuchen und dem neuen Wein. Nachdem die jüdische Nation ihn verworfen hatte, beschäftigte sich der Herr mit einzelnen jüdischen Personen und führte sie aus dem jüdischen System hinaus. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Heilung des blinden Mannes in zwei Phasen (Mk 8,22-26). Mein Eindruck ist, dass viele MJ zu sehr von dem Sauerteig der Pharisäer und des Herodes (religiösen und politischen Strömungen) beeinflusst sind und Menschen wie Bäume sehen (erste Phase), anstatt klar zu sehen, das heißt alle Dinge in ihrer Beziehung zu Christus zu sehen und dem natürlichen Menschen keinen Platz mehr einzuräumen (zweite Phase).

[15] Aus dem Glaubensbekenntnis der „Messianisch-Jüdischen Allianz“.

[16] Zu unterscheiden von einer begründeten, geistlichen Anwendung auf der Grundlage des Neuen Testaments.

[17] Siehe zum Beispiel auch Jesus for Jews herausgegeben von A Messianic Jewish Perspective, Ruth Rosen, Editor; 1987 Jews for Jesus.

[18] Aber es kann sein, dass der Geist Gottes auch heute schon im Verborgenen wirkt und sich diesen prophetischen Überrest vorbereitet, der erst nach der Entrückung der Versammlung offenbar werden wird. Man sagt zum Beispiel, dass auch in den strengsten und fanatischsten Kreisen orthodoxer Juden einzelne Seelen wirklich glauben, dass unser Herr Jesus ihr verheißener Messias ist. Wir überlassen Gott die Frage, ob aufrichtige und an Gott gläubige Juden wiedergeboren sein können. Ich persönlich würde nein sagen, weil alle Gläubigen heutzutage (von Pfingsten an bis zur Entrückung) zur Versammlung des lebendigen Gottes gehören. Wir wissen jedoch nicht, ob Gott eine Zeit des Übergangs geben wird; in dem Fall mag es eines Tages Juden geben, die an Gott glauben und den Kern des künftigen Überrest bilden. Die Schrift schweigt jedoch zu dieser Frage; was wir allerdings wissen, ist: Es wird solche Gläubige nach der Entrückung geben.


Note from the editors:

The SoundWords editorial team is responsible for the publication of the above article. It does not necessarily agree with all expressed thoughts of the author (except of course articles of the editorial staff) nor would it like to refer to all thoughts and practices, which the author represents elsewhere. “But examine all things, hold fast the good” (1Thes 5:21).—See also „On our own account ...

Bibeltexte im Artikel anzeigen