Ist der Textus Receptus logischer als der Nestle-Aland-Text?
Markus 1,2

Dirk Schürmann

© SoundWords, online: 02.08.2025

Leitverse: Markus 1,1-3

Einleitung 

Zeigt Markus 1,2 nicht deutlich, wie viel klarer und logischer der Textus Receptus ist als der Nestle-Aland-Text? So ähnlich formulierte es kürzlich ein lieber Mitbruder. Dieser Frage will ich in diesem Artikel etwas auf den Grund gehen.

Vergleichen wir einmal die beiden Textversionen. Zuerst der Nestle-Aland, den zum Beispiel die CSV-Elberfelder[1] an dieser Stelle verwendet:

Mk 1,1-3: 1 Anfang des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes; 2 wie geschrieben steht in Jesaja, dem Propheten: „Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, der deinen Weg bereiten wird.“ 3 „Stimme eines Rufenden in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht gerade seine Pfade!“

Zum Vergleich dieselbe Bibelstelle im Textus Receptus, den zum Beispiel die Schlachter 2000[2] hat:

Mk 1,1-3: 1 Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. 2 Wie geschrieben steht in den Propheten: „Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, der deinen Weg vor dir bereiten wird.“ 3 „Die Stimme eines Rufenden [ertönt] in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Pfade eben!“

Der Kontext der beiden Zitate bei Markus

Die beiden Zitate in unserem Bibeltext stammen nicht beide aus Jesaja. Das erste Zitat in Markus 1,2 stammt aus Maleachi 3,1. Wir wollen hier den gesamten Kontext wiedergeben:

  • Mal 3,1-6: 1 Siehe, ich sende meinen Boten, damit er den Weg vor mir her bereite. Und plötzlich wird zu seinem Tempel kommen der Herr, den ihr sucht; und der Engel des Bundes, den ihr begehrt: Siehe, er kommt, spricht der HERR der Heerscharen. 2 Wer aber kann den Tag seines Kommens ertragen, und wer wird bei seinem Erscheinen bestehen? Denn er wird wie das Feuer des Schmelzers sein und wie die Lauge der Wäscher. 3 Und er wird sitzen und das Silber schmelzen und reinigen; und er wird die Kinder Levi reinigen und sie läutern wie das Gold und wie das Silber, so dass sie dem HERRN Opfergaben darbringen werden in Gerechtigkeit. 4 Dann wird die Opfergabe Judas und Jerusalems dem HERRN angenehm sein wie in den Tagen vor alters und wie in den Jahren der Vorzeit. 5 Und ich werde euch nahen zum Gericht und werde ein schneller Zeuge sein gegen die Magier und gegen die Ehebrecher und gegen die falsch Schwörenden und gegen die, die den Tagelöhner im Lohn, die Witwe und die Waise bedrücken und das Recht des Fremden beugen und mich nicht fürchten, spricht der HERR der Heerscharen. 6 Denn ich, der HERR, ich verändere mich nicht; und ihr, Kinder Jakobs, ihr werdet nicht vernichtet werden.

Das zweite Zitat in Markus 1,3 stammt aus Jesaja 40,3. Auch hier wieder der Kontext:

  • Jes 40,3-11: 3 Stimme eines Rufenden: In der Wüste bahnt den Weg des HERRN; ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott! 4 Jedes Tal soll erhöht und jeder Berg und Hügel erniedrigt werden; und das Höckerige soll zur Ebene werden und das Hügelige zur Talebene! 5 Und die Herrlichkeit des HERRN wird sich offenbaren, und alles Fleisch miteinander wird sie sehen; denn der Mund des HERRN hat geredet. 6 Stimme eines Sprechenden: Rufe! Und er spricht: Was soll ich rufen? „Alles Fleisch ist Gras, und all seine Anmut wie die Blume des Feldes. 7 Das Gras ist verdorrt, die Blume ist abgefallen; denn der Hauch des HERRN hat sie angeweht. Ja, das Volk ist Gras. 8 Das Gras ist verdorrt, die Blume ist abgefallen; aber das Wort unseres Gottes besteht in Ewigkeit.“ 9 Auf einen hohen Berg steige hinauf, Zion, du Verkündigerin froher Botschaft; erhebe mit Macht deine Stimme, Jerusalem, du Verkündigerin froher Botschaft! Erhebe sie, fürchte dich nicht; sprich zu den Städten Judas: Siehe da, euer Gott! 10 Siehe, der Herr, HERR, kommt mit Kraft, und sein Arm übt Herrschaft für ihn aus; siehe, sein Lohn ist bei ihm, und seine Vergeltung geht vor ihm her. 11 Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte, die Lämmer wird er auf seinen Arm nehmen und in seinem Schoß tragen, die Säugenden wird er sanft leiten.

Bei Nestle-Aland wird hier entweder scheinbar völlig übersehen, dass das erste Zitat nicht aus Jesaja ist, oder es wird fälschlicherweise Jesaja zugeschrieben. Beim Textus Receptus dagegen ergibt „in den Propheten“ überhaupt kein Problem. Das bedeutet: Die Schlussfolgerung, der Textus Receptus sei zumindest an dieser Stelle tatsächlich viel logischer, erscheint ziemlich plausibel. Ich bin grundsätzlich weder ein Verfechter des Nestle-Aland-Textes noch lehne ich alle Besonderheiten des Textus Receptus grundsätzlich ab. Dennoch kann ich hier dieser Schlussfolgerung nicht folgen. Und das möchte ich im Folgenden näher erläutern.

Warum ich mit „in Jesaja“ kein Problem habe

1. | Gedanken zu den Quellen

Ich möchte hier nicht auf die Gewichtung der Quellen eingehen, die die verschiedenen Textversionen belegen. Nur ein Hinweis: Selbst Hieronymus wählte, als er um das Jahr 400 n.Chr. herum die Vulgata herausgab, die Textversion, die „in Jesaja“ hat. Vielmehr möchte ich folgende Fragen stellen:

  1. Nehmen wir einmal an, Markus hätte geschrieben: „in den Propheten“. Was sollte einen Abschreiber dazu bewogen haben, „in den Propheten“ zu „in Jesaja“ zu ändern, wo doch klar ist, dass das erste Zitat in Vers 2 aus Maleachi stammt? Gibt es hier eine plausible Antwort? 
  2. Nehmen wir nun an, Markus hätte geschrieben: „in Jesaja“. Was sollte einen Abschreiber dazu bewogen haben, „in Jesaja“ zu „in den Propheten“ zu ändern? Hier ist die Antwort sehr einfach: Er dachte dasselbe wie viele Leser heute: „In Jesaja“ ist unlogisch, denn es ist doch klar, dass das erste Zitat in Vers 2 aus Maleachi stammt; da muss sich jemand vertan haben, das muss ich ändern.

Das ist der erste Grund, warum ich „in den Propheten“ für gar nicht so logisch halte, wie es aussieht.

2. | Zitierweise im 1. Jahrhundert n.Chr.

Wir sind es heute gewohnt, dass zu Zitaten ausführliche Quellenangaben angeführt werden: Autor, Buchtitel, Abschnittstitel, Auflagennummer, Jahrgang, Seitenzahl usw. Doch selbst im 20. Jahrhundert war das noch kein allgemeiner Standard in Westeuropa. Wollen wir solche genauen Quellenangaben jetzt sogar für das 1. Jahrhundert erwarten? So sollten wir uns fragen, ob es nicht vielleicht sogar gängige Praxis in jener Zeit war, dass man nur den bekannteren Propheten (nämlich Jesaja) als Quelle angab.

Erstaunlicherweise gibt es nämlich einen noch „unlogischeren“ Fall in Matthäus 27,9-10. Dort nennt Matthäus den Propheten Jeremia als Verfasser für das angeführte Zitat, obwohl der größte Teil aus Sacharja stammt. So dachten die Schreiber der Minuskeln 69, 346 und 700 daher auch hier: Da hat sich ein Fehler eingeschlichen. Dementsprechend wandelten sie „Jeremia“ zu „Sacharja“ ab. Die Minuskeln 22, 33 und 543 lassen den Namen sogar einfach ganz weg. Dennoch hat selbst der Textus Receptus hier „Jeremia“.

Die Hauptfrage, die wir uns stellen sollten, ist noch eine andere, und zwar:

3. | Was will der Heilige Geist uns sagen?

Hier sehe ich verschiedene Indizien, die mir persönlich den Eindruck vermitteln, dass der Geist bewusst diese Zitierweise gewählt hat, um uns damit etwas Bestimmtes zu vermitteln. Zunächst fällt dreierlei auf:

  1. Erstens zitiert Markus im Gegensatz zu anderen Evangelisten hier als einzige Ausnahme in seinem Evangelium die alten Schriften als Beweis.
  2. Zweitens erwähnt Markus dieses Zitat, sogar noch bevor er auf das historische Geschehen zu sprechen kommt, das es zu erklären gilt.
  3. Das Zitat in Markus 1,2 ist sozusagen die Einleitung zu seinem Evangelium. Damit kommt diesem Zitat noch eine besondere Bedeutung zu.

Die Garantieerklärung des Heiligen Geistes, dass Jesus der verheißene Diener war, wie besonders Markus Ihn vorstellt, war der Hinweis in prophetischen Schriften. Das hätte beim Volk bewirken müssen, dass sie ihren Messias annahmen. So war der Hauptanklagepunkt des Petrus gegen die Juden, dass sie Christus trotz des übereinstimmenden Zeugnisses der Propheten abgelehnt hatten (Apg 3,13.18.21-26).

Es geht um das „Evangelium Jesu Christi“, wie uns Markus 1,1 sagt, und dann folgt das Zitat: „Bereitet den Weg des Herrn.“ Mit diesen Worten sagt der Geist Gottes ganz deutlich: Dieser Jesus Christus ist der Jahwe des Alten Testamentes. – Damit wird der niedrige Diener in einer Würde gezeigt, die insbesondere bei den Juden alle Achtung hätte hervorrufen müssen.

Zusätzliche Hinweise

Wollte der Heilige Geist hier nicht absichtlich statt auf Maleachi 3 auf Jesaja 40 hinweisen? Wenn der Leser in Maleachi 3,2-6 nachliest, wird ihm das nicht weiterhelfen, das erste Zitat in Markus 1,2 zu verstehen, da der Kontext der folgenden Verse in Maleachi sich alle auf das Erscheinen des Herrn in Macht und im Gericht beziehen. In Jesaja dagegen wird der Leser einiges finden über das Kommen des Dieners in Niedrigkeit – der doch gleichzeitig Jahwe selbst ist –, denn dort finden wir noch einiges über die Situation beim Kommen des Dieners, besonders auch über den Zustand des Volkes: „Alles Fleisch ist wie Gras“ (Jes 40,6). Der erste Mensch wird vollständig beiseitegetan. Was kann da den zweiten Menschen noch hindern! Nach dem Zitat wird in Markus 1,4 die Predigt des Johannes bezüglich der Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden vorgestellt. Diese war im Prinzip die Predigt von: „Alles Fleisch ist Gras“, „Das Volk ist Gras“, „Die Blume ist abgefallen“, „Das Gras ist verdorrt“ (Jes 40,6-8).

Abwandlung des Zitats

Ein weiterer Gedanke: Das Maleachi-Zitat ist abgewandelt. In Maleachi heißt es: „Siehe, ich sende meinen Boten vor meinem Angesicht her.“ Das Pronomen ändert sich in Markus von der ersten Person („vor meinem Angesicht“) zur zweiten Person („vor deinem Angesicht“), und zwar aufgrund der Fleischwerdung: Der, der in Maleachi sendet, hat jetzt den Platz des Gesendeten eingenommen; doch Sender und Gesendeter sind eins.

Erfüllung der Prophezeiung

Ein weiterer Grund, warum Maleachi nicht erwähnt wird, scheint folgender zu sein: In dem Maleachi-Zitat soll der Prophet Johannes (a) den Weg bereiten, während in dem Jesaja-Zitat (b) in den Herzen des Volkes selbst ein Weg bereitet werden soll. Es geht in den beiden Zitaten also um einen unterschiedlichen Blickwinkel. Die moralische Zubereitung durch den Ruf zur Buße (b) wurde vor dem Kommen des Herrn tatsächlich bei denen erfüllt, die Christus annahmen. Und weil dies erfüllt wurde, ist es nicht verwunderlich, wenn Markus auf Jesaja einen besonderen Hinweis gibt; Maleachis Prophezeiung dagegen ist bisher nur teilweise in Erfüllung gegangen. Johannes war der Bote, der Jahwes Weg bereitete, aber noch nicht den Weg für Jahwe  als der Richter Israels. Die Tatsache,  dass Markus 1,1-3 den Hinweis auf Maleachi auslässt, redet für mich von der Wahrheit, dass „das Evangelium Jesu Christi“ (Mk 1,1) viel mehr mit der Prophezeiung der Barmherzigkeit in Jesaja (Jes 40,3-11) übereinstimmt als mit den Prophezeiungen des Gerichtes in Maleachi (Mal 3,1-6).

Das Ziel der Zitate

Bei beiden Zitaten geht es inhaltlich hauptsächlich darum, dass alle Hindernisse aus dem Weg geräumt werden müssen, damit der Diener, der in diesem Evangelium vorgestellt wird, wirken kann.

Dieser Aspekt wird ausführlich nicht in Maleachi 3, sondern in Jesaja 40 behandelt. Das große Hindernis für das Evangelium und den Dienst des Herrn Jesus ist der Hochmut des Menschen. Davon sprechen die Berge und Hügel, die nach Jesaja 40,4 „erniedrigt“ werden, wie wir aus der Parallelstelle in Jesaja 2,12-14 entnehmen können: „Der HERR der Heerscharen hat einen Tag über alles Stolze und Hohe und über alles Erhabene, und es wird erniedrigt werden; und über alle Zedern des Libanon, die hohen und erhabenen, und über alle Eichen Basans; und über alle hohen Berge und über alle erhabenen Hügel.“

Durch die „Taufe der Buße“, um die es in Markus 1,4-5 geht, nimmt der Mensch einen ganz neuen Boden ein, wo er auf alles Eigene verzichtet und den Platz des Todes einnimmt, von dem die Taufe ein Bild ist. Diese Haltung der Buße ohne Stolz und Hochmut Gott gegenüber schafft für Gott und seinen vollkommenen Diener einen Weg, den Menschen zu segnen.

Anmerkungen

[1] Die überarbeitete Elberfelder (Edition Hückeswagen, CSV) folgt im Neuen Testament nicht durchgehend dem Text von Nestle-Aland. Diejenigen Stellen, die dem Textus Receptus folgen, sind im laufenden Bibeltext durch Halbwinkel gekennzeichnet oder durch Fußnoten vermerkt.

[2] Die Schlachter 2000 hat im Neuen Testament durchgehend den Textus Receptus als Textgrundlage.

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