Die Würde des Menschen ist unantastbar
Das Grundgesetz und die Bibel

Rainer Imming

© SoundWords, online: 16.03.2020, updated: 30.10.2022

Im vergangenen Jahr, am 23. Mai, ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 70 Jahre alt geworden. Nicht ohne Grund hat man dieses Jubiläum gefeiert und dankbar von einer „Erfolgsgeschichte“ gesprochen.[1] Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ist es geschrieben (Präambel) und beginnt in Artikel 1 mit den Worten:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Das 70. Jubiläum hat den vielen Büchern, Kommentaren etc. über das Grundgesetz nochmals eine ganze Menge hinzugefügt. Im Folgenden maße ich mir nicht an, damit auf zum Beispiel juristischer Ebene gleichziehen zu wollen, sondern ich versuche als Christ, vor dem Hintergrund dieses Satzes anhand der Bibel etwas über die Würde des Menschen und nicht zuletzt über die Würde des Menschen Jesus Christus zu reflektieren.

1. Würde

Was ist eigentlich „Würde“? Das Grundgesetz gibt keine Definition der Würde. Eine positive Bestimmung des Schutzbereiches der Menschenwürde habe man bisher nicht formulieren können, so dass man versucht, die Würde mit negativen Definitionen begrifflich zu erfassen („Die Menschenwürde ist verletzt, wenn ...“) – so kann man in gängigen Kommentaren zu Artikel 1 des Grundgesetzes lesen.[2]

Von der Wortbedeutung in der deutschen Sprache ausgehend, kann man Würde umschreiben mit „Achtung gebietender Wert, der einem Menschen innewohnt“, wobei dieser Wert einerseits einem Menschen als solchem zukommt oder andererseits auch mit einem bestimmten Amt verbunden sein kann (ein „Würdenträger“).[3]

In der Bibel, im griechischen Neuen Testament, ist auch von „Würde“ und „würdig sein“ die Rede, wobei im Wesentlichen zwei Wortfamilien hierfür verwendet werden: eher seltener hikanos, das je nach Situation und Übersetzung als „würdig“, „hinreichend“ oder „gut genug“ übersetzt wird; und meistens axios, das mit „würdig“, „wert“, „angemessen“ übersetzt wird. Eine Begebenheit, in der beide Begriffe verwendet werden, ist die Heilung des Dieners eines römischen Hauptmanns in Lukas 7,1-10. Auch im Neuen Testament geht es um die Würde des Menschen als solchen und um die Würde bestimmter Amtsträger. Im Folgenden werde ich mich auf das wichtigere und häufigere Thema der Würde des Menschen als solchem konzentrieren.

Warum aber soll es nur um die Würde des Menschen gehen? Haben Tiere keine Würde?[4] Oder hat nicht sogar jede Kreatur eine Würde?[5] Diese Fragen sind berechtigt und es wäre fatal, wenn wir als Christen mit einem raschen und plumpen „nein“ darauf antworteten.

Doch woran machen wir unsere Antworten fest? In der Kommentierung des Grundgesetzes wird die Frage aufgeworfen, ob die Würde des Menschen ein Naturrecht oder ein positives (also von Menschen gesetztes) Recht ist. Wer sich in diese Thematik einlesen möchte, sei beispielhaft hingewiesen auf die oben genannten Kommentierungen im Maunz/Dürig[6], auf E.-W. Böckenförde[7] oder als Neuerscheinung zum 70. Jubiläum des Grundgesetzes[8]. Dabei geht es hier keineswegs um abstrakte Diskussionen. Mit der Frage nach der Würde des Menschen kann jeder konfrontiert werden: zum Beispiel bei Fragen nach dem Lebensrecht Ungeborener oder am Ende des Lebens bei Anwendung oder Nichtanwendung lebensverlängernder medizinischer Maßnahmen und bei dem Thema Organspende. Aus einer anderen Perspektive hat vor nicht langer Zeit der Politikwissenschaftler F. Fukuyama das Verlangen des Menschen nach Beachtung seiner Würde als ein wichtiges gesellschaftspolitisches Element dargestellt.[9]

Wie eingangs gesagt, möchte ich dies nicht rechtsphilosophisch diskutieren. Als juristischem Laien stellt sich mir allerdings durchaus die Frage, ob ein Verständnis der Würde des Menschen als ein positives (von Menschen gesetztes) Recht dies nicht zu einer Machtfrage werden lässt, indem eine Gesellschaft oder eine Gruppe in ihr definiert, wem welche Würde zukommt. Gerade die deutsche Geschichte hat gezeigt, in welche Abgründe dies führen kann. Und das Grundgesetz ist ja gerade vor diesem furchtbaren Hintergrund – im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen – geschrieben worden.

Die „Kreaturen“, wie es in der Schweizer Bundesverfassung heißt, sind – und damit komme ich auf meine Sichtweise als Christ zurück – Gottes Geschöpfe und haben dadurch natürlich (im doppelten Wortsinn) eine „Würde“. Mit der Bibel, Gottes Wort, haben wir ein festes Fundament, um über die Würde der Geschöpfe und die Würde des Menschen im Speziellen nachzudenken.

2. Die Würde des Menschen

Die Würde des Menschen resultiert in der Bibel ganz offensichtlich daraus, dass der Mensch im Bilde Gottes geschaffen ist (unabhängig davon, was „im Bild Gottes“ nun konkret meint, und – zur Klarstellung sei dies gesagt – auch unabhängig davon, welcher Religion oder Weltanschauung der einzelne Mensch anhängt): „Und Gott schuf den Menschen in seinem Bild, im Bild Gottes schuf er ihn; Mann und Frau schuf er sie“ (1Mo 1,27). Daran hat der „Sündenfall“ nichts geändert. Auch wenn die Menschen der Güte Gottes misstraut haben, in der Folge die Beziehung zu Gott (und auch untereinander) zerstört wurde und Menschen furchtbare Dinge taten, hält Gottes Wort im Alten Testament wie im Neuen Testament daran fest, dass die Menschen im Bild Gottes gemacht sind (1Mo 9,6; 1Kor 11,7; vgl. auch Paulus’ Rede auf den Areopag in Athen: Apg 17,29). Auch bei den alttestamentlichen Propheten, die nicht zimperlich waren in ihrer Wortwahl angesichts der Sünden ihrer Zeitgenossen, kann man lesen: „Weil du teuer bist in meinen Augen und wertvoll bist und ich dich lieb habe“ (Jes 43,4).

Der Umgang des Herrn Jesus mit seinen Gesprächspartnern ist wertschätzend und nie entwürdigend, wie man in den Evangelien nachlesen kann. In seinen Gleichnissen beschreibt Jesus mehrfach, dass Er bereit ist, alles zu „verkaufen“, um etwas sehr Wertvolles zu gewinnen (Mt 13: die Gleichnisse vom Schatz im Acker und von der sehr kostbaren Perle). In dem berühmten nächtlichen Gespräch mit Nikodemus sagt Er: „Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengehe, sondern ewiges Leben habe“ (Joh 3,16). Nur was einen Wert hat, geht „verloren“; bei Wertlosem spricht man nicht vom „Verlorengehen“.

Darum ist es richtig und wichtig, dass wir als Christen von Gottes bedingungsloser Liebe zu seinen Geschöpfen reden. Er liebt die von Ihm geschaffenen Menschen, auch wenn wir uns von Ihm abgewandt haben. Trotz all unserer Schuld besteht unsere Würde weiterhin darin, von Ihm bewusst und willentlich geschaffen zu sein. Und dies setzt auch den Rahmen für den Umgang miteinander: „Wer den Geringen unterdrückt, verhöhnt den, der ihn gemacht hat“ (Spr 14,31; 17,5).

Doch wir müssen auch sehen, dass, gerade weil wir Menschen von und für Gott geschaffen sind, unsere Abwendung von Ihm keine Lappalie ist, sondern unsere Sünden furchtbare Folgen haben. In 1. Mose 5,1-3 heißt es:

1Mo 5,1-3: Dies ist das Buch von Adams Geschlechtern. An dem Tag, als Gott Adam schuf, machte er ihn im Gleichnis Gottes. Mann und Frau schuf er sie, und er segnete sie und gab ihnen den Namen Mensch, an dem Tag, als sie geschaffen wurden. Und Adam lebte 130 Jahre und zeugte einen Sohn in seinem Gleichnis, nach seinem Bild, und gab ihm den Namen Seth.

Seth wurde nach Adams Bild gezeugt, der im Gleichnis Gottes geschaffen war. Und wenn wir in diesem 5. Kapitel des ersten Buch Mose weiterlesen, dann drängt sich bei den folgenden Generationen die stete Wiederholung des Satzes „und er starb“ erschreckend auf: Der im Bilde Gottes geschaffene Mensch ist durch den Sündenfall vergänglich und sterblich geworden. Gott hatte davor gewarnt (1Mo 2,17)!

Die Folgen dieser Abwendung von Gott schildert auch Römer 3,10-23 mit einer schonungslosen Charakterisierung unseres Handelns: „,Da ist kein Gerechter, auch nicht einer; da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der Gott sucht. Alle sind abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer.‘ ,Ihr Schlund ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen handelten sie trügerisch.‘ ,Schlangengift ist unter ihren Lippen.‘ ,Ihr Mund ist voller Fluchen und Bitterkeit.‘ ,Ihre Füße sind schnell, Blut zu vergießen; Verwüstung und Elend ist auf ihren Wegen, und den Weg des Friedens haben sie nicht erkannt.‘ ,Es ist keine Furcht Gottes vor ihren Augen.‘“ Die Folge davon steht unter anderem in Römer 1,19: „Denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen.“

Mit zunehmender Entfernung von Gott verliert der Mensch immer mehr seine Würde, geht immer würdeloser mit seinen Mitmenschen und der Schöpfung um und gerät unter den gerechten Zorn Gottes darüber. In manchen theologischen Texten und Predigten, die diese Seite sehr stark betonen, ist dann der Begriff der „verdammungswürdigen“ Sünder zu lesen (auch wenn dies kein Begriff der Bibel ist). Und die berühmt-berüchtigte Predigt „Die Sünder in den Händen eines zornigen Gottes“, die Jonathan Edwards am 8. Juli 1741 in Enfield hielt[10], hat daher neben dem Reden von der bedingungslosen Liebe Gottes genauso ihre Begründung.

Beides ist zutreffend, wir können keine der beiden Sichtweisen auf Kosten der anderen vernachlässigen. John Stott formuliert es so:

Obwohl wir es vielleicht jetzt noch nicht realisieren, ist es der schrecklichste Effekt der Sünde, dass sie uns von Gott trennt. Unsere höchste Bestimmung ist es, Gott zu kennen und mit ihm in einer persönlichen Beziehung zu leben. Die wichtigste Aussage über die Würde des Menschen ist die, dass wir Menschen im Bilde Gottes geschaffen worden sind und darum fähig sind, ihn auch kennenzulernen.[11]

Wir werden nie eine ausgewogenes und biblisches Menschenbild haben, wenn wir uns nur auf die Sündhaftigkeit des Menschen konzentrieren und nicht auch von der Würde des Menschen als Ebenbild Gottes sprechen. Wir müssen das Gefallensein und die Würde des Menschen zusammensehen, weil die Schrift beides lehrt.[12]

Gibt es einen Ausweg, der die Würde des Menschen in Liebe achtet und dabei gleichzeitig nicht die Augen verschließt vor all unserer Schuld, die wir gegen Gott und unseren Mitmenschen aufhäufen? Ein anderes Gleichnis des Herrn Jesus gibt einen Hinweis:

Lk 15,11-24: Er sprach aber: Ein gewisser Mensch hatte zwei Söhne; und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zufällt. Und er teilte ihnen die Habe. Und nach nicht vielen Tagen brachte der jüngere Sohn alles zusammen und reiste weg in ein fernes Land, und dort vergeudete er sein Vermögen, indem er ausschweifend lebte. Als er aber alles verschwendet hatte, kam eine gewaltige Hungersnot über jenes Land, und er selbst fing an, Mangel zu leiden. Und er ging hin und hängte sich an einen der Bürger jenes Landes; und der schickte ihn auf seine Felder, Schweine zu hüten. Und er begehrte seinen Bauch zu füllen mit den Futterpflanzen, die die Schweine fraßen; und niemand gab ihm. Als er aber zu sich selbst kam, sprach er: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Überfluss an Brot, ich aber komme hier um vor Hunger. Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und will zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen; mache mich wie einen deiner Tagelöhner. Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater. Als er aber noch fern war, sah ihn sein Vater und wurde innerlich bewegt und lief hin und fiel ihm um den Hals und küsste ihn sehr. Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen. Der Vater aber sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und tut einen Ring an seine Hand und Sandalen an seine Füße; und bringt das gemästete Kalb her und schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein; denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.

Der „verlorene Sohn“ anerkennt, dass er durch sein Handeln nicht mehr würdig ist, Sohn seines Vaters zu sein. Doch der Vater in seiner Liebe nimmt ihn dennoch als Sohn wieder an. Mit dem „verlorenen Sohn“ meint Jesus in diesem Gleichnis uns Menschen, mit dem Vater Gott.

Jesus sagt uns mit diesem Gleichnis, dass es diesen Ausweg gibt. Das Gleichnis enthält aber noch nicht die ganze Antwort, wie Gott einen schuldig gewordenen Menschen wieder mit der von Gott gewollten Würde behandeln kann.

3. Würde des Menschen auf Golgatha

Die Würde des Menschen ist in der Geschichte unzählige Male angetastet worden. Jedem von uns fallen hier historische Ereignisse ein oder persönliche, bei denen die Würde des Menschen, vielleicht auch unsere Würde, angetastet wurde. (Fallen uns auch Begebenheiten ein, in denen wir die Würde anderer angetastet haben?) Die Literatur zum Thema Würde des Menschen ist leider berechtigterweise voll von solchen negativen Ereignissen.

Merkwürdigerweise wird jedoch ein eklatanter Verstoß gegen die Menschenwürde hier nur selten erwähnt:

Mt 27,27-38: Dann ließ er ihnen Barabbas frei; Jesus aber ließ er geißeln und überlieferte ihn, damit er gekreuzigt würde. Dann nahmen die Soldaten des Statthalters Jesus mit in das Prätorium und versammelten um ihn die ganze Schar. Und sie zogen ihn aus und legten ihm einen scharlachroten Mantel um. Und sie flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie ihm auf das Haupt und gaben ihm einen Rohrstab in die Rechte; und sie fielen vor ihm auf die Knie und verspotteten ihn und sagten: Sei gegrüßt, König der Juden! Und sie spien ihn an, nahmen den Rohrstab und schlugen ihm auf das Haupt. Und als sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Mantel aus und zogen ihm seine Kleider an; und sie führten ihn weg, um ihn zu kreuzigen. Als sie aber hinausgingen, fanden sie einen Menschen von Kyrene, mit Namen Simon; diesen zwangen sie, sein Kreuz zu tragen. Und als sie an einen Ort gekommen waren, genannt Golgatha, das heißt Schädelstätte, gaben sie ihm Wein, mit Galle vermischt, zu trinken; und als er es geschmeckt hatte, wollte er nicht trinken. Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider unter sich, indem sie das Los warfen. Und sie saßen und bewachten ihn dort. Und sie brachten oben über seinem Haupt seine Beschuldigungsschrift an: Dieser ist Jesus, der König der Juden. Dann werden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer auf der rechten und einer auf der linken Seite.

Die Verurteilung, Folterung und Hinrichtung von Jesus ist ein dramatischer Verstoß gegen die Menschenwürde. Er hatte in den Jahren zuvor zahllosen Menschen Gutes getan, Er war nachweislich unschuldig. Die staatliche Gewalt, vertreten durch den Statthalter Pontius Pilatus, hat seine Würde weder geachtet noch geschützt. Auch wenn Jesus „nur“ Mensch gewesen wäre, wäre dies ein Verbrechen gewesen. Doch entgegen dem Spott der Zuschauer der Kreuzigung, war Er tatsächlich nicht „nur“ Mensch, sondern Gottes Sohn:

Mt 27,39-50: Die Vorübergehenden aber lästerten ihn, indem sie ihre Köpfe schüttelten und sagten: Der du den Tempel abbrichst und in drei Tagen aufbaust, rette dich selbst. Wenn du Gottes Sohn bist, so steige herab vom Kreuz! Ebenso spotteten auch die Hohenpriester samt den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Er ist Israels König; so steige er jetzt vom Kreuz herab, und wir wollen an ihn glauben. Er vertraute auf Gott, der rette ihn jetzt, wenn er ihn begehrt; denn er sagte: Ich bin Gottes Sohn. – Auf dieselbe Weise aber schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren. Aber von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Um die neunte Stunde aber schrie Jesus auf mit lauter Stimme und sagte: Eli, Eli, lama sabachtani?, das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Als aber einige der Dastehenden es hörten, sagten sie: Dieser ruft Elia. Und sogleich lief einer von ihnen und nahm einen Schwamm, füllte ihn mit Essig und legte ihn um einen Rohrstab und gab ihm zu trinken. Die Übrigen aber sagten: Halt, lasst uns sehen, ob Elia kommt, um ihn zu retten! Jesus aber schrie wieder mit lauter Stimme und gab den Geist auf.

Bei dem Thema der Würde des Menschen kann man an Golgatha nicht einfach „vorübergehen“ (Vers 39 im Bericht des Matthäus). Warum ist dies mit Jesus geschehen? Wir schauen noch einmal ein paar Jahre zurück zu dem Gespräch des Herrn Jesus mit Nikodemus  und finden dort unter anderem drei Aussagen, die Jesus bereits damals vorausschauend auf Golgatha machte:

  • Gott gibt. Er gibt seinen Sohn (Joh 3,16). Er gibt Ihn in die Hände der Menschen.
  • Jesus wird „erhöht“ (Joh 3,14), womit seine Kreuzigung gemeint ist (man lese dazu Joh 8,28 und Joh 12,32). Gott lässt es zu, dass wir seine Würde antasten.
  • Dieses Ereignis schafft die Möglichkeit einer wiederhergestellten Beziehung zu Gott, „ewiges Leben“, und zwar für jeden, der glaubt (Joh 3,16).

Jesus Christus, der menschgewordene Sohn Gottes, nimmt unsere Schuld als Stellvertreter auf sich, weil wir selbst diese Schuld niemals begleichen könnten. Gott anerkennt damit vollständig die menschliche Verantwortlichkeit für unsere Schuld, was der Würde des Menschen, im Bild Gottes geschaffen, eben keinen Abbruch tut, sondern diese Würde im Gegenteil sogar hochhält.[13]

Dabei lässt Er es zu, dass wir die Würde Jesu Christi in erschreckender Weise antasten. Auf diesem Weg können „unwürdige“ Menschen, die sich von Ihm abgewandt hatten und in Schuld verstrickten (im Gleichnis der verlorene Sohn) von Ihm, dem Vater, wieder in die Arme genommen und mit aller Würde behandelt werden. Das Motiv Gottes dafür ist seine Liebe zu uns Menschen (Joh 3,16).

4. „Du bist würdig“

Offenbarung, das letzte Buch des Neuen Testamentes, schildert einerseits mit dramatischen und erschreckenden Worten und Bildern, wie der Zorn Gottes über die „Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen“ (Röm 1,19, siehe oben) kommt. Andererseits werden in der Offenbarung auch  Menschen erwähnt, die aus Gottes Sicht würdig sind (Off 3,4), in seiner Gegenwart ohne jeglichen Zorn leben zu dürfen (Off 4 und 5 etc.).

Der Grund dafür, dass viele Menschen dann nicht den Zorn Gottes erleben, sondern in Gottes Gegenwart sein dürfen, liegt nicht darin, dass sie „würdiger“ wären als andere Menschen. Sie wissen, dass sie „verlorene Söhne oder Töchter“ waren und absolut keinen Grund haben, ihre Annahme bei Gott sich selbst zuzuschreiben (ihrer vermeintlichen Güte, ihrer Intelligenz, ihrer Kraft etc. und auch nicht ihrer Frömmigkeit). Darum werfen sie, im Bild der „24 Ältesten“, die „Kronen“ als Zeichen ihrer Würde einem anderen, nämlich Gott, zu Füßen (Off 4,10).

Würdig ist allein Gott:

Off 4,11: Du bist würdig, o unser Herr und unser Gott, zu empfangen die Herrlichkeit und die Ehre und die Macht; denn du hast alle Dinge erschaffen, und deines Willens wegen waren sie und sind sie erschaffen worden.

Und im Blick auf Jesus Christus, in dem Gott Mensch wurde und es zuließ, dass wir ihn kreuzigten, heißt es in der Bildersprache der Offenbarung:

Off 5,13: Würdig ist das Lamm, das geschlachtet worden ist, zu empfangen die Macht und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Herrlichkeit und Segnung. Und jedes Geschöpf, das in dem Himmel und auf der Erde und unter der Erde und auf dem Meer ist, und alles, was in ihnen ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm die Segnung und die Ehre und die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit!

 
***

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Ich bin dankbar für jeden Menschen in unserem Land, der in der Legislative, Exekutive oder Judikative oder einfach als Bürger dieses Landes dafür einsteht, dass dieses Grundrecht auch heute im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen anerkannt wird. Und als Christ möchte ich darauf hinweisen und betonen, dass niemand die Würde des Menschen besser beurteilen kann als Gott unser Schöpfer, der uns in seinem Bild geschaffen hat. Niemand kann klarer sehen, wie sehr wir unsere Würde, die Würde unserer Mitmenschen, die Würde der Schöpfung immer und immer wieder antasten und mit Füßen treten, weil wir uns von Ihm, von Gott, abgewandt haben. Niemand hat die Würde des Menschen und damit auch unsere Verantwortlichkeit zu allen Zeiten kompromissloser hochgehalten als dieser unser Gott. Niemand hat jemals mehr eingesetzt, um uns Menschen die Möglichkeit zu geben, nicht verlorenzugehen, sondern wieder unserer Würde gemäß leben zu können – heute schon und in Ewigkeit – als Jesus Christus, der menschgewordene Sohn Gottes.

Ich wünsche jedem, der dies liest, ein Bekenntnis, wie es „der verlorene Sohn“ vor seinem Vater tat, das Erlebnis der liebevollen Annahme von Gott dem Vater und das Einstimmen in den Dank: „Du bist würdig …!“

Anmerkungen

[1] Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18.05.2019 auf https://www.70jahregrundgesetz.de.

[2] Zum Beispiel Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, München (C.H. Beck); oder (eher allgemeinverständlich geschrieben) P. Schade, Grundgesetz mit Kommentierung, Regensburg (Walhalla) 2012.

[3] Duden Herkunftswörterbuch, Mannheim (Duden) 1997.

[4] R. Hagencord, Die Würde der Tiere: Eine religiöse Wertschätzung; Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus) 2011; K. Remele, Die Würde des Tieres ist unantastbar – eine neue christliche Tierethik, Kevelaer (Butzen & Bercker) 2016.

[5] Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (Stand am 1. Januar 2020), Artikel 120 Absatz 2 Gentechnologie im Außerhumanbereich: „[Der Bund] trägt dabei der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten.“ – Die Bundesverfassung spricht übrigens im Artikel 7 auch ausdrücklich von der „Würde des Menschen“.

[6] Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, München (C.H. Beck).

[7] E.-W. Böckenförde, „Die Würde des Menschen war unantastbar. Zur Neukommentierung der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes“, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, erweiterte Ausgabe, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 2006.

[8] T.A. Seidel, U. Schacht [Hrsg.], Würde oder Willkür – theologische und philosophische Voraussetzungen des Grundgesetzes, Leipzig (Evangelische Verlagsanstalt) 2019.

[9] Fukuyama, Identität – wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, Hamburg (Hoffmann und Campe) 2019.

[10] Die Predigt ist online in deutscher Übersetzung verfügbar unter https://www.bucer.org. Hinsichtlich der Sprache der Predigt sollte man Zeit und kulturelles Umfeld berücksichtigen.

[11] J. Stott, Der christliche Glaube – Eine Einführung, Witten (SCM R.Brockhaus) 2010, S. 87.

[12] J. Stott, „Grundsätze der Bibelauslegung“, in: Christus, die Bibel und wir, Waldenburg (S.D.G.-Verlag) 2011, S. 44.

[13] J. Stott, Das Kreuz – Zentrum des christlichen Glaubens, Marburg (Francke) 2019, S. 127. „Stellvertretung“ wird manchmal zu unrecht sehr kritisch gesehen. J. Stott entgegnet:

„Hier wird der Stolz des menschlichen Herzens offenbar: Wir bestehen darauf, für das zu bezahlen, was wir getan haben. Wir können die Demütigung nicht ertragen, unseren Bankrott anzuerkennen und zuzulassen, dass ein anderer für uns bezahlt. Der Gedanke, das dieser andere auch noch Gott selbst sein soll, ist einfach zu viel für uns. Lieber gehen wir unter, als dass wir Buße tun; lieber verlieren wir uns selbst, als dass wir uns demütigen“ (A.a.O., S. 208).

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