Die Nacht, in der Er überliefert wurde
Lukas 22

Stephan Winterhoff

© SoundWords, online: 20.11.2021

Warum sagt Paulus nicht einfach: die Nacht, in der sie im Obersaal zusammensaßen? Muss Paulus die Judas-Tat ausgerechnet beim Abendmahl so in den Vordergrund schieben? Zwar wurde die Überlieferung bei diesem Abendessen im Voraus entlarvt – „Der mit mir die Hand in die Schüssel eintaucht, der wird mich überliefern“ –, aber es geht doch bei „unserem Abendmahl“ um die Leiden des Herrn, um Gethsemane, um den Weg zum Kreuz und um das Kreuz selbst.

Ein heftiger Kampf

Genau das ist Paulus’ Aufhänger:

Drei Jünger haben das Privileg, den Herrn ganz nah in den Garten Gethsemane zu begleiten, wo der Herr betrübt und beängstigt ist. Er ist in ringendem Kampf mit seinem Vater im Himmel. In den drei Gebetsrunden trägt sich ein veritabler Kampf zwischen dem Vater im Himmel und seinem Sohn Jesus auf der Erde zu. Wir müssen nicht denken, dass der Herr die ganze Zeit monoton gebetet hat: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Es war ein heftiger Kampf um Leben oder Tod des beängstigten Sohnes, ein dramatisches Ringen um die Frage, ob Er frei ausgeht oder ob ich vor dem heiligen Zorn Gottes über meine Sünden gerettet werde. Der Schweiß wurde wie große Blutstropfen. Das Empfinden über das Bevorstehende war unerträglich. Und ich stelle mir vor, dass der Vater dem Sohn aufzählt, welche Er durch seinen Tod alle erretten könnte – und mein Name ist dabei. Der Sohn hat meine ganze Schuld vor seinen Augen und weiß, welche Strafe Ihm allein dafür schon droht …

Wach auf, man!!

Der Kampf wird unterbrochen. Der Herr sucht in dieser Kampfpause Trost und Mitleid bei seinen Jüngern. Und? Sie schlafen. „Wacht mit mir“, hatte Er sie aufgefordert, aber sie suchten sich ein Schlafplätzchen und machten es sich bequem, die Mütze über die Augen gezogen, die ihnen schwer geworden waren, und pennten. Traurigkeit hing auch in der Luft, die der Schlaf weghauchen sollte.

Ausgerechnet in dieser Nacht, in der Er kurz nach diesem Gethsemane-Kampf überliefert werden würde, und es ging doch um sie, um uns und darum, dass Er ans Kreuz und ins Gericht muss … Sie schlafen.

Sonntagmorgens betrittst du die Gemeinde, suchst dir ein gemütliches Plätzchen, singst automatisiert ein paar Lieder mit, erhebst dich angestrengt zum Gebet, weil dir der Samstagabend noch in den Knochen hängt. Gedanken fokussieren – Fehlanzeige. Wach auf, man!! Es geht um die Nacht, in der Er in Gethsemane um dich gekämpft und die erlösenden Worte gesprochen hat: „Nicht mein Wille, sondern der deine geschehe.“ Sonst wäre es nämlich um dich geschehen!

Erschüttert im Geist

Nachdem der Herr in den vorgezeichneten Weg eingewilligt hat, wird Er überliefert. Kein Geringerer als Judas, der einer der zwölf Jünger war, hat sich gegen Gebühr dafür hergegeben. Als wenn unser Herr mit Silberstücken aufgewogen werden könnte. Als wenn Judas und wir es nicht wert gewesen wären, selbst zu sterben. Immerhin hat Petrus zumindest mit dem Mund erklärt, dass er bereit sei, mit Ihm zu sterben …

Nein, in dieser Nacht hat der Jünger Judas keine Skrupel, den abgrundtief hässlichen Verrat an seinem Meister zu begehen. Ganz anders sind die Empfindungen unseres Herrn hierüber. Er wurde „im Geist erschüttert“, als Er den Jüngern beim Abendessen mitteilen muss, dass Ihn einer überliefern wird. Vielleicht sprach Er leise, mit bebender Stimme und todblassem Gesicht, vielleicht laut, um sein Schluchzen über diese schlimmste aller Ankündigungen zu übertönen. Für Ihn war es erschütternd, so einen in den eigenen Reihen zu haben. Aber Judas blieb kalt. Getrieben von der Gier nach dem Mammon stampfte er in die Nacht hinaus, um sein mörderisches Vornehmen wahrzumachen.

Judas – der Freund und Egoist

„Freund“, nennt der Herr Judas immer noch, als dieser im Stockfinsteren den gespenstischen Fackelzug anführt und auf Ihn zukommt. Wie bitter ist diese Freundes-Überlieferung! Mag sein, dass Judas gedacht hat, dass der Herr sich, wie früher, aus der Umklammerung befreien wird. Er hat doch die Macht dazu und kann sie der Welt noch mal demonstrieren – und ich habe das Geld. Eine Win-win-Situation. Weit gefehlt, Judas!

Weit gefehlt! – Das gilt immer noch, wenn wir meinen, so unser Leben leben zu können: Geld und Gut und Wohlfahrt für mich und für den Rest kann der Herr ja selbst sorgen.

Wer ist der Größte beim Abendmahl?

Die Nacht, in der Er überliefert wurde, war die Gemeinschaftszeit, in der der Herr die Füße der Jünger wusch. Er wusste alles, was auf Ihn zukommen würde, und hatte dennoch Augen für sie. Und die Jünger? In dieser gleichen Nacht des Todeskampfes unseres Herrn fechten sie einen Streit aus, wer von ihnen für der Größte zu halten sei. Er wäscht die Füße, geht innerlich und äußerlich durch tiefes Leid, ist erschüttert über die anstehende Überlieferung, und sie haben nichts Besseres im Sinn, als sich gegenseitig zu profilieren. Ausgerechnet in diesen Stunden, in denen der Herr etwas ganz anderes von seinen Jüngern erwarten durfte.

Im falschesten Moment – vielleicht beim Abendmahl, das uns nach Paulus an die Nacht erinnern soll, in der Er überliefert wurde – kommen uns Gedanken über Urlaub, Beruf, Familie, Standesdünkel usw. auf, anstatt dass wir uns Mühe geben, nur ein klitzekleines bisschen, ein Stündchen von 168 Wochenstunden darüber nachzudenken, was der Herr durchgemacht hat, als Er sich dafür entschied, sich selbst für uns, für mich in dieser gruseligen Nacht hinzugeben.

Petrus – sein Beitrag in dieser Nacht

Petrus zeigt im Zuge dieser Überlieferung des Herrn noch heroische Ansätze, indem er das Schwert gegen den Knecht des Hohenpriesters gebraucht. Immerhin! Aber leider war das zur Unzeit.

Wenig später sitzt er dann am Lagerfeuer im Hof des Hohenpriesters und geht so weit, sich zu verfluchen, mit diesem Jesus nichts zu tun zu haben. In der Nacht, in der Er überliefert wurde und sich deswegen vor falschen Zeugen verantworten muss, kräht mittendrin auf einmal dieser Hahn und verkündet dem Herrn die nächste niederschmetternde Nachricht: Es ist wahr geworden – mein Jünger Petrus hat mich dreimal verleugnet.

Wie oft haben wir Petrus schon nachgemacht! Aufgeschrieben wurde das jedoch nicht, um Petrus’ Verleugnung nachzutun, sondern damit wir – wie er – dem Herrn in die Augen sehen, bereuen und Ihm dann umso mehr danken und Ihn loben und anbeten für die Nacht, in der Er auch dieses Vergehen gegen sich ertrug. Für diese Sünde gegen sich, den Sohn Gottes, musste Er später am Kreuz auch noch gestraft werden!

Diese beachtenswerte Nacht

Verstehen wir, warum Paulus von der Nacht redet, in der Er überliefert wurde? Paulus ist wichtig, dass wir keine enttäuschenden Jünger sind wie sie damals, die ein abgestumpftes Empfinden dafür hatten, was Jesus empfand und durchmachte, als Er erschüttert, betrübt, beängstigt und im Todeskampf war, während sie sich hochmütig um ihre Größe sorgten, Ihn verrieten und verleugneten.

Ausgerechnet in dieser Nacht maximaler Enttäuschung wäscht Er nicht nur die Füße der Jünger, sondern setzt das Abendmahl ein, das Erinnerungsmahl an den Schmerzensmann, der dieses ganze Versagen erduldet hat, um genau diesen Versagern seine ganze Gnade und Retterliebe zukommen zu lassen. Genau in diesem Moment. Genau in jener Nacht, in der Er überliefert wurde.

Und so ging es weiter

Nach dieser Nacht verlassen Ihn dann buchstäblich alle und fliehen und machen Platz für die „Vorübergehenden“, die Ihn am Kreuz hängen sehen und lästern, dass Er sich doch selbst retten könne. Ja! Hätte Er gekonnt, aber genau in dem Moment, in dem der Mensch seine grässlichste Fratze zeigt und Jesus ans Kreuz nagelt und Ihn dort verspottet, reicht Gott dir und mir die Hand der Versöhnung, indem Er seinen Sohn diesen ruchlosen Menschen hingibt und Ihn in den drei Stunden der Finsternis, in der Nacht der Nächte, höchstselbst anstelle von uns für unsere Sünden straft. Und weil Gott das so wollte und dieser Wille geschehen sollte, stieg Er nicht vom Kreuz herab.

Wache auf und bete an!


Note from the editors:

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