Der Prophet Hesekiel (2)
Kapitel 2

Henry Allen Ironside

© SoundWords, online: 30.04.2024, updated: 06.05.2024

Der Auftrag des Propheten

Wenn Gott einen Menschen dazu beruft, in einer bestimmten Funktion für Ihn zu handeln, befähigt Er ihn für den Dienst, den er verrichten soll. Augustinus sagte treffend: „Gottes Befehle sind Gottes Befähigungen.“ Das Fleisch mag vor der großen Aufgabe zurückschrecken, aber wer sich auf Gott verlässt, kann sagen: „Ich hingegen, ich bin mit Kraft erfüllt durch den Geist des HERRN“ (Mich 3,8). Gott schickt niemand, der auf eigene Rechnung oder in eigener Kraft handelt, geschweige denn sich von seiner eigenen Weisheit leiten lässt. Das zeigte sich deutlich bei Mose (2Mo 4,10-15) und bei Jeremia (Jer 1,4-19); und es zeigt sich hier sehr deutlich bei der Berufung Hesekiels ins Prophetenamt. Er hatte bereits Visionen von Gott gesehen. Nun wurde er beauftragt, Gottes Sprachrohr für Israel und die Völker zu sein. Der HERR spricht auch nach zweieinhalb Jahrtausenden noch mit Macht und Klarheit.

Vers 1

Die ersten Worte dieses Kapitels sind eine große Herausforderung. Der Herr sagte zu Hesekiel:

Hes 2,1: Und er sprach zu mir: Menschensohn, stelle dich auf deine Füße, und ich will mit dir reden.

Der Ausdruck „Menschensohn“ ist etwas Besonderes.[1] Im Alten Testament wird er allgemein für die Menschheit verwendet (Hiob 25,6; 35,8; Ps 144,3; 146,3), ebenso an mehreren Stellen bei den Propheten (Jes 51,12; 56,2; Jer 49,18.33; 50,40). In Psalm 144,3 und Daniel 7,13 wird er prophetisch auf Christus selbst angewandt, und aus dem Hebräerbrief wissen wir, dass der „Menschensohn“ aus Psalm 8,5 tatsächlich unser geliebter Herr ist. Aber der Ausdruck ist eine charakteristische Anrede für Hesekiel, die fünfundachtzigmal in diesem Buch vorkommt. Einmal wird Daniel so angesprochen, aber er wird nie auf einen anderen Propheten angewandt. Es war die bevorzugte Anrede unseres Herrn für sich selbst, da Er damit seine Verbindung mit der verlorenen Welt, die zu retten Er gekommen war, zum Ausdruck brachte (Lk 19,10). Er betonte die Realität seines Menschseins, so wie der Titel „Sohn Gottes“ seine Gottheit unterstrich.

Als Menschensohn sollte Hesekiel erkennen, dass er, obwohl göttlich berufen und übernatürlich inspiriert, in sich selbst nur ein Mensch wie andere war, denen er die Worte verkündigen sollte, die Gott ihm gegeben hatte. Ihm wurde befohlen, sich auf die Füße zu stellen, sozusagen strammzustehen, während der Herr ihn für sein hohes und heiliges Amt beauftragte. Er war bereits ein Priester und sollte nun ein Prophet werden – einer, der für Gott zu seinem Volk das Wort sprechen sollte, das zu ihm gesprochen worden war.

Vers 2

Hes 2,2: Und als er zu mir redete, kam der Geist in mich und stellte mich auf meine Füße; und ich hörte den, der zu mir redete.

Bewegt und gestärkt durch den Geist stand Hesekiel ehrfürchtig vor dem Herrn und lauschte ehrfürchtig der Stimme, die zu ihm sprach. Zweifellos war es der Heilige Geist, der ihn erfüllt hatte.

Verse 3.4

Hes 2,3.4: 3 Und er sprach zu mir: Menschensohn, ich sende dich zu den Kindern Israel, zu den empörerischen Nationen, die sich gegen mich empört haben; sie und ihre Väter sind von mir abgefallen bis auf ebendiesen Tag. 4 Und die Kinder haben schamlose Angesichter und harte Herzen; zu ihnen sende ich dich, und du sollst zu ihnen sprechen: „So spricht der Herr, HERR!“

Es war kein leichter Dienst, zu dem er berufen wurde. Der Herr machte ihm klar, dass er zu einem Volk von Rebellen gehen sollte, einem Volk, das über Jahrhunderte hinweg versagt hatte. Die Väter hatten sich von Gott abgewandt und sich den Götzen zugewandt, und die Kinder waren in ihre Fußstapfen getreten. Es war auch nicht zu erwarten, dass die Kinder aus der Gefangenschaft oder die im Land verbliebenen Kinder mehr bereit sein würden, zuzuhören und zu gehorchen, als ihre Vorfahren es gewesen waren. Sie waren alle Kinder „mit frechem Gesicht und hartem Herzen“ (Hes 2,3; SCHL 2000). Hesekiel sollte dennoch zu ihnen gehen und ihnen eine weitere Gelegenheit zur Umkehr geben, damit noch schlimmeres Unheil abgewendet werden konnte.

Er sollte nicht aus sich selbst heraus sprechen, sondern mit Autorität verkünden: „So spricht der Herr, HERR!“ Das ist es, was dem Boten des HERRN Würde und Kraft verleiht. Wer vor seine Mitmenschen tritt, um die Gedanken seines eigenen Verstandes oder die Vorstellungen seines eigenen Herzens zu verkünden, ist kein Gesandter des Herrn. Es ist nicht Sache seiner Botschafter, die Menschen mit wortgewandten Reden zu erfreuen, in denen sie die Leistungen anderer preisen oder ihre eigene Arbeit verherrlichen. Die einzige Aufgabe der Diener Gottes ist es, das Wort des Herrn in Treue und doch mit Gnade und Demut zu verkünden. „Des Königs Wort ist eine Macht“ (Pred 8,4) und Gott ist ein großer König, dessen Wort niemals leer zu Ihm zurückkehrt, sondern das vollbringt, wozu Er es gesandt hat (Jes 55,11).

Hesekiel musste sich keine Predigten „ausdenken“ oder akademische Reden verfassen. Er musste einfach nur das Wort vom HERRN, seinem Gott, empfangen und es dann in der Kraft des Geistes an diejenigen weitergeben, zu deren Dienst er berufen war.

Das Gleiche gilt auch heute für jeden gesalbten Diener Gottes. Er ist vom Herrn berufen worden, das Wort zu predigen und nicht menschliche Philosophie, Scheinargumente oder eitle Einbildungen, die ja nur böse sind, wie das permanent der Fall ist (1Mo 6,5). Dies kann für den Prediger oft eine Selbstverleugnung bedeuten. Wie Paulus muss er vielleicht darauf achten, sich nicht auf die Weisheit der Worte zu verlassen, damit das Kreuz Christi, die eigentliche Botschaft, nicht wirkungslos bleibt [vgl. 1Kor 1,17-23]. Dr. Harry Emerson Fosdick, der bekannte liberale Redner, hat die Auslegungspredigt[2] als die armseligste Art des Predigtdienstes bezeichnet, „weil sie so wenig Raum für die Phantasie lässt“. Aber gerade deshalb sollte sich ein Mann Gottes darin rühmen, die kostbaren Wahrheiten der Heiligen Schrift zu entfalten, anstatt aus sich heraus ein Netz der Redekunst zu weben, wie eine Spinne ihre filigrane Schlinge webt, um ihre Beute zu fangen.

Vers 5

Hes 2,5: Und sie, mögen sie hören oder es lassen (denn sie sind ein widerspenstiges Haus), sie sollen doch wissen, dass ein Prophet in ihrer Mitte war.

Unabhängig davon, wie das Volk zu seiner Botschaft stehen würde, sollte Hesekiel verkünden, was Gott ihm gegeben hatte. Und ob sie nun hören oder nicht hören, das heißt sich weigern würde zuzuhören, würden sie wissen, dass ein Prophet unter ihnen gewesen war, wenn die Worte, die er verkündet hatte, in Erfüllung gingen.

Vers 6

Hes 2,6: Und du, Menschensohn, fürchte dich nicht vor ihnen, und fürchte dich nicht vor ihren Worten; denn Nesseln und Dornen sind bei dir, und bei Skorpionen wohnst du. Fürchte dich nicht vor ihren Worten, und erschrick nicht vor ihrem Angesicht; denn ein widerspenstiges Haus sind sie.

Er sollte sich nicht vor denen fürchten, die ihm körperlichen Schaden androhen könnten. Er sollte sein Vertrauen auf den setzen, der ihn gesandt hatte. Auch wenn er leiden musste, wie es die Dornen und Stacheln andeuteten, und unter Skorpionen wohnte, sollte er nicht vor der ihm übertragenen Aufgabe zurückschrecken und sich auch nicht von den zornigen Blicken des rebellischen Hauses Israel abschrecken lassen. Es bedeutet immer Leiden, unter widrigen Umständen für Gott einzutreten. Aber die Gnade wird so zugeführt, wie es nötig ist, damit man fähig wird, standhaft auszuharren, als sähe man den Unsichtbaren.

Vers 7

In Vers 7 bekräftigt und versinnbildlicht der Herr alles, was zuvor gesagt worden ist:

Hes 2,7: Und du sollst meine Worte zu ihnen reden, mögen sie hören oder es lassen; denn sie sind widerspenstig.

Das offensichtliche Scheitern der Mission des Propheten würde seine Autorität als Sprecher des HERRN nicht zunichtemachen. Es kommt nicht darauf an, dass jemand das ist, was die Welt als Erfolg bezeichnet, sondern darauf, dass er dem ihm entgegengebrachten Vertrauen treu bleibt.

Vers 8

Die wirkliche Gefahr bestand darin, dass Hesekiel des Kampfes überdrüssig werden und wegen der Ablehnung und der mangelnden Reaktion auf sein Zeugnis entmutigt und verzagt werden könnte. Deshalb warnte der Herr ihn:

Hes 2,8a: Und du, Menschensohn, höre, was ich zu dir rede; sei nicht widerspenstig wie das widerspenstige Haus:

Und dann gab Er dieses seltsame Gebot:

Hes 2,8b: Tu deinen Mund auf und iss, was ich dir gebe. –

Verse 9.10

Hes 2,9.10: 9 Und ich sah: Und siehe, eine Hand war gegen mich ausgestreckt; und siehe, darin war eine Buchrolle. 10 Und er breitete sie vor mir aus, und sie war auf der Vorder- und auf der Rückseite beschrieben; und Klagen und Seufzer und Wehe waren darauf geschrieben.

Als Hesekiel hinschaute, sah er die Form einer Hand, die von den Cherubim herabreichte, und in ihr eine Schriftrolle, die Rolle eines Buches. Dies war die prophetische Botschaft, die er dem Volk überbringen sollte. Als er sie aufschlug, kamen die schrecklichen Prophezeiungen von Klagen und Jammer und Wehklagen zum Vorschein, die die Bürde seiner Botschaft sein sollten. Diese Rolle zu essen bedeutete, Gottes Wort in sein Inneres aufzunehmen, es sozusagen zu einem Teil seiner selbst zu machen und so bereit zu sein, es den Überlebenden der Gefangenschaft weiterzugeben.


Originaltitel: „Chapter Two: The Prophet’s Commission“
in Expository Notes on Ezekiel, 1949
Quelle: https://plymouthbrethren.org

Übersetzung: Samuel Ackermann

Anmerkungen

[1] Anm. d. Red.: Ironside bezieht sich hier auf den Ausdruck „Son of man“ in der King-James-Übersetzung. Der Ausdruck wird in deutschen Bibelübersetzungen je nach Bibelstelle unterschiedlich übersetzt: „Sohn des Menschen“, „Menschensohn“, „Menschenkind“.

[2] Anm. d. Red.: Eine Predigt, in der versucht wird, möglichst sachlich das wiederzugeben, was die Bibel sagt.


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