Der erste Johannesbrief (0)
Einleitung

Stanley Bruce Anstey

© SoundWords, online: 30.01.2022, updated: 15.09.2022

Einführung

Der Apostel Johannes hat fünf Bücher der Bibel geschrieben: sein Evangelium, drei Briefe und die Offenbarung. Dies waren die letzten Bibelbücher, die um 90 n.Chr. geschrieben wurden. Das bedeutet, dass Johannes zu einer Zeit schrieb, als die jüdische Nation von den Römern zerstört wurde. Im Jahr 70 n.Chr. wurden die Stadt Jerusalem und der Tempel dem Erdboden gleichgemacht, die meisten Menschen getötet und fast hunderttausend als Gefangene deportiert. Ohne diesen Ort und ohne dieses Volk hörte das Judentum im Land Israel auf zu existieren. Tatsächlich ist Johannes der einzige Autor des Neuen Testaments, der aus dieser Perspektive schreibt. Der Bruder von Johannes, Jakobus, war der erste Apostel, der starb (als Märtyrer, Apg 12,2), und Johannes war der letzte Apostel, der starb.

Die Absicht des Johannes beim Schreiben des Briefes

Im Hauptteil des Briefes nennt Johannes drei Gründe, warum er an die Gläubigen dieser Zeit schreibt:

  1. Ihre Freude durch die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn sollte völlig werden (1Joh 1,3.4).
  2. Sie sollten nicht durch Sünde auf dem Weg versagen (1Joh 2,1).
  3. Sie sollten die bewusste Erkenntnis und die Gewissheit haben, dass sie das ewige Leben besitzen (1Joh 5,13).

Die Gnostiker

Neben dem Wunsch, dass die Gläubigen glücklich, heilig und (geistlich) gesund sind, hatte der Geist Gottes noch einen weiteren Grund, der Johannes dazu veranlasste, diesen Brief zu schreiben. Zu jener Zeit waren viele antichristliche Lehrer aufgestanden, die sich als Kinder Gottes ausgaben, aber die Wahrheit über den Vater und den Sohn leugneten (1Joh 2,18-26; 4,1-6). Johannes wollte den Gläubigen helfen zu erkennen, wer wirklich gläubig war und wer nicht. Deshalb sah er sich veranlasst, die charakteristischen Kennzeichen des ewigen Lebens darzulegen, an denen alle falschen Behauptungen über den Besitz dieses Lebens erkannt werden konnten. Dies würde den Gläubigen einen zuverlässigen Maßstab an die Hand geben, an dem sie jedes Bekenntnis prüfen könnten.

Diese abweichende Bewegung antichristlicher Lehren entstand in den Versammlungen Ende des 1. Jahrhunderts und plagte die Kirche etwa zweihundert Jahre lang mit ihren Irrlehren. Es war der Beginn dessen, was als Gnostizismus bekannt wurde. Gnosis bedeutet „wissen“ (umgekehrt bedeutet agnostisch „nicht wissen“). Diese Irrlehrer behaupteten, dass das, was die Apostel der Kirche überlieferten, einführend und grundlegend war, dass sie aber ein höheres Wissen besaßen. Was sie jedoch in Wirklichkeit verkündeten, war Gotteslästerung!

Einige von ihnen (die Cerinthaner) leugneten die Gottheit Christi. Der Apostel Johannes begegnete diesem Irrtum mit seinem Evangelium, indem er zeigte, dass der Herr alle Eigenschaften der Gottheit besitzt. Andere (die Doketiker) leugneten die Menschwerdung Christi und lehrten somit, dass Er kein wirklicher Mensch war. Johannes begegnet diesem Irrtum in seinen Briefen. Unter dem Vorwand, in der Wahrheit Fortschritte zu machen, hatten sich diese Irrlehrer von der Wahrheit entfernt! Daher ist das Wirken des Johannes von großem praktischen Wert für die Verteidigung gegen diejenigen, die behaupten, Gott zu kennen, aber bestimmte Aspekte der Wahrheit über die Person Christi leugnen.

Die Themen im Dienst von Petrus, Paulus und Johannes

Das Thema des Dienstes von Johannes unterscheidet sich deutlich von dem von Paulus und Petrus:

  • Johannes konzentriert sich auf die Familie Gottes und geht auf unsere Beziehung zu Gott als seine „Kinder“ ein (Joh 1,12.13; 1Joh 3,1). Daher legt er die Kennzeichen des ewigen Lebens innerhalb der Familie Gottes ausführlich dar.

  • Der Apostel Paulus hingegen erwähnt zwar, dass wir Kinder Gottes sind (Röm 8,16), geht aber auch auf unsere Stellung vor Gott als „Söhne“ ein und beschreibt unsere Vorrechte als solche (Röm 8,14.15; Gal 4,1-7; Eph 1,4-6; Heb 2,10). Paulus entwickelt auch die Wahrheit der Kirche als „Leib Christi“ (1Kor 12,12.13.27; Eph 3,6; 4,16; 5,25-32 usw.) und „Haus Gottes“ (Eph 2,19-22; 1Tim 3,15; Heb 3,6 usw.).

  • Die Linie des Apostels Petrus ist wiederum eine andere; er sieht die Dinge aus der Perspektive des Reiches Gottes. Da ihm „die Schlüssel des Reiches der Himmel“ (Mt 16,19) gegeben worden waren, war er auserwählt, sowohl den Juden (Apg 2) als auch den Heiden (Apg 10) die Tür zum Segen zu öffnen. Dementsprechend legt er in seinem Dienst den Schwerpunkt auf das Reich Gottes. Er spricht häufig von der Erscheinung Christi, dem Ereignis, das die Einführung des Reiches und die öffentliche Herrschaft Christi in dieser Welt kennzeichnet (1Pet 1,5.7.13; 4,13; 5,1.4; 2Pet 1,11.16; 3,4.10).

Der abstrakte Stil der Schriften des Johannes

Der Apostel Johannes schreibt auf eine einzigartige Weise. Der Schlüssel zum Verständnis seiner Aussagen liegt darin, zu sehen, dass er die Dinge abstrakt betrachtet.

J.N. Darby sagt:

Wenn man solche Aussagen nicht abstrakt betrachten kann, wird man sie überhaupt nicht verstehen.[1]

F.B. Hole definiert das Wort „abstrakt“ wie folgt:

Wenn wir abstrakt sprechen, lassen wir absichtlich in unserem Denken und dem sprachlichen Ausdruck alle einschränkenden Betrachtungsweisen zu dem Zweck beiseite, die wesentliche Eigenart der Sache herauszustellen, um die es geht.[2]

Wir könnten zum Beispiel sagen: „Ein Korken schwimmt.“ Wenn wir das sagen, sprechen wir von dem, was ein Korken charakteristischerweise tut. Wir ziehen nicht in Betracht, dass er unter Wasser getaucht werden könnte, wenn wir ihn mit etwas festbinden würden, um ihn unter Wasser zu halten. Unter normalen Bedingungen schwimmt der Korken. In ähnlicher Weise spricht Johannes von den Dingen in ihrem Wesen, das heißt in dem, was sie auszeichnet, ohne sich auf eine bestimmte Person, Sache oder Situation zu beziehen. Er untersucht die Merkmale des ewigen Lebens anhand dessen, was es normalerweise kennzeichnet, und nicht anhand dessen, was jemand mit diesem Leben tut, das für dieses Leben untypisch ist. Aufgrund eines schlechten Zustands können diese Merkmale in uns manchmal verdunkelt sein, aber Johannes berücksichtigt das nicht, wenn er die Kennzeichen dieses Lebens betrachtet. J.N. Darby sagt:

Alle Aussagen des Johannes sind absolut. Er modifiziert sie nie, indem er die Schwierigkeiten oder Hindernisse einbringt, die wir im Körper haben können. „Wer aus Gott geboren ist“, sagt er in Kapitel 3, „der sündigt nicht.“ Er spricht dort gemäß dem eigentlichen Wesen der (neuen) Natur. Die göttliche Natur kann nicht sündigen. Es ist keine Frage des Fortschritts oder des Grades, sondern er kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist … Johannes sagt es immer in der ihm eigenen Absolutheit, gemäß der Wahrheit selbst … Es kann sein, dass wir dabei versagen, aber der Apostel gibt nicht derartige Ausnahmen an, sondern die Wahrheit selbst.[3]

Johannes spricht also von den Gläubigen im optimalen oder idealen Zustand, das heißt so, wie sie sind, wenn sie in der Kraft des Geistes wandeln und sich des ewigen Lebens erfreuen. Er sieht sie nicht als etwas, was weniger als das ist. Er schreibt, dass es in der Diskussion keinen Mittelweg gibt. Es gibt entweder Licht oder Finsternis, Leben oder die Abwesenheit von Leben, Liebe oder Hass, usw. Das muss man sich beim Lesen des Briefes immer vor Augen halten.

Die Gefahr, den Dienst des Johannes mit der Terminologie des Paulus zu interpretieren

Ein weiteres Problem, das viele dazu veranlasst hat, den Dienst des Johannes falsch zu verstehen, ist der Versuch, seine Begriffe und Ausdrücke mit den Bedeutungen des Paulus zu interpretieren. Das heißt, Johannes verwendet ein Wort, das Paulus verwendet, aber auf eine andere Art und Weise; wenn wir das nicht berücksichtigen, werden wir manche Abschnitte falsch verstehen. Daher kommt das oft wiederholte Sprichwort: „Importiere nicht die Terminologie des Paulus in den Dienst des Johannes.“

Zum Beispiel verwendet Paulus das Wort „wandeln“, um die christliche Praxis zu bezeichnen (Gal 5,16; Eph 4,1; 5,2.8.15 usw.); er zieht die Möglichkeit in Betracht, dass Christen schlecht wandeln, während Johannes dies nie tut. Johannes sieht alle Gläubigen als im Licht wandelnd an – unabhängig davon, ob sie in einem guten Zustand sind oder nicht. Sie können dem Licht den Rücken kehren und nicht danach leben, und wenn sie das tun, wird das Licht auf ihren Rücken scheinen, denn Gläubige sind immer im Licht. Johannes spricht also nicht davon, wie wir wandeln, sondern wo wir wandeln.

Ein weiteres Beispiel ist die Art und Weise, wie die beiden Apostel den Begriff „Kinder“ verwenden. In Galater 4,1-7 bezeichnet Paulus damit jemand, der sich auf alttestamentlichem Boden befindet; er ist von Gott geboren, hat aber nicht den innewohnenden Heiligen Geist. Johannes hingegen verwendet das Wort, um einen Gläubigen auf christlichem Boden zu beschreiben, dem der Heilige Geist innewohnt (1Joh 2,20.28; 3,24; 4,13).

Ein weiteres Beispiel ist die Art und Weise, wie Paulus und Johannes das Wort „in“ in Bezug auf den Gläubigen und den Herrn verwenden. Die charakteristische Formulierung des Paulus von „in Christus“ ist nicht gleichzusetzen mit „in ihm“ bei Johannes. Paulus bezieht sich auf die Stellung des Christen, der an dem Ort angenommen ist, wo Christus selbst vor Gott steht (Eph 2,6), während Johannes von unserer Verbindung mit Christus im Leben und in der Gemeinschaft mit Ihm spricht (Joh 14,20; 15,4).

Nur acht Ermahnungen

Eine weitere Besonderheit dieses Briefes ist, dass er nur acht Ermahnungen enthält (1Joh 2,15.24.28; 3,7.18; 4,1.7; 5,21).

Abgesehen von diesen Ermahnungen geht es in dem Brief hauptsächlich darum, verschiedene Kennzeichen des ewigen Lebens als Beweise dafür und dagegen vorzulegen, an denen jeder Anspruch geprüft werden kann. Das heißt aber nicht, dass der Brief nicht auch sehr praktisch ist. Ganz im Gegenteil. Wenn man die Punkte, die Johannes bezüglich der Kennzeichen des ewigen Lebens anführt, auf alle anwendet, die behaupten, Christus zu kennen, wird sein Dienst ungemein praktisch; wir können dadurch sofort erkennen, wer ein wahrhaft Gläubiger ist und  wer nicht. Da wir in einer Zeit leben, in der die Gefahr besteht, von falschen Lehrern verdorben zu werden und von vielen, die sich als Kinder Gottes ausgeben, es aber nicht sind, ist der Brief des Johannes eine große Hilfe, das eine vom anderen zu unterscheiden.

„Wissen“ und „erkennen“

Ein weiteres Kennzeichen des ersten Johannesbriefes ist die häufige Verwendung der Worte „wissen [know]“ und „erkennen [known]“. Sie kommen etwa vierzigmal vor. Er betont diese Worte, um den Behauptungen der Irrlehrer entgegenzutreten, sie hätten ein höheres Wissen als die Apostel. Mit diesen Worten unterstreicht er, was wir durch die Offenbarungen der Wahrheit, die wir von den Aposteln erhalten haben, wissen und was uns durch die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn zugesichert wurde.

Es gibt zwei Hauptwörter im griechischen Text, die in der englischen King-James-Übersetzung mit „wissen“ übersetzt werden: ginosko und oida. Johannes verwendet beide in seinen Briefen, und es ist aufschlussreich, wann und wie er das tut, wie wir in Kapitel 5 sehen werden.[4] Ginosko bezieht sich auf objektives Wissen, das aus Fakten über etwas oder jemand abgeleitet wird; oida ist ein inneres, bewusstes Wissen über etwas oder jemand, das durch intime, persönliche Bekanntschaft und Gemeinschaft erworben wird. Die beiden Wörter werden vom Herrn in Johannes 8,55 verwendet und dienen dazu, den Unterschied zwischen beiden zu verdeutlichen. In Bezug auf die Kenntnis des Vaters sagte der Herr zu den ungläubigen Pharisäern: „Ihr habt ihn nicht erkannt [ginosko]; ich aber kenne ihn [oida].“ Die Pharisäer hatten also kein Verständnis von Gott, dem Vater, aber der Herr lebte in persönlicher und inniger Gemeinschaft mit Ihm und hatte daher eine tiefe und vollständige Kenntnis des Vaters.

Ewiges Leben

Wie bereits erwähnt, zieht sich das große Thema „ewiges Leben“ durch den ganzen Dienst des Apostel Johannes. Sein Evangelium ergänzt seine Briefe und enthält den Samen für die in den Briefen entwickelten Gedanken. Im Evangelium werden die Kennzeichen des ewigen Lebens in der Lehre des Herrn dargelegt und in seinem Leben perfekt veranschaulicht; in dem Brief werden dieselben Kennzeichen in den Kindern Gottes dargestellt.

In 1. Johannes 2,8 spielt Johannes darauf an. Dort spricht er davon, dass das neue Gebot, einander zu lieben, das ist, was „in ihm und in euch“ war. Es ist, als würde man ein Familienalbum betrachten; manche Ähnlichkeiten ziehen sich durch die ganze Familie – von den Eltern bis zu den Kindern. So ist es auch in der Familie Gottes: Wir sehen die Kennzeichen des ewigen Lebens, die den Vater und den Sohn kennzeichnen, in den Kindern Gottes hervortreten. Sie mögen manchmal in uns verborgen sein, aber sie sind dennoch da. So wie es einen guten irdischen Vater erfreut, wenn seine Kinder in seinen Wegen wandeln und die Menschen sagen, dass sie ihm nacheifern, so erfreut es Gott, unseren Vater, wenn die Dinge, die Ihn charakterisieren, in den Handlungen seiner Kinder zum Vorschein kommen.

Nachdem wir festgestellt haben, dass das Thema des Johannes das ewige Leben ist, könnte man sich fragen: „Was genau ist das ewige Leben?“ Einfach ausgedrückt, ist es der Besitz des göttlichen Lebens in der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn in der Kraft des Heiligen Geistes. Der Herr sagte: „Dies aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“ (Joh 17,3). Damit uns dieses Leben zuteilwerden konnte, musste Christus vom Himmel herabkommen, um den Vater zu offenbaren und die ewige Beziehung, die Er zu seinem Sohn hat (Joh 1,18; 10,10; 1Joh 4,9). Darüber hinaus konnte dieses Leben nicht erlangt werden, ohne dass der Gläubige im Glauben auf dem vollbrachten Werk Christi ruhte (Joh 3,14.15) und der Heilige Geist in ihm wohnte (Joh 4,14). Das zeigt: Das ewige Leben ist eine eindeutig christliche Segnung, die wir „in Christus Jesus“ besitzen, dem auferstandenen, aufgefahrenen und verherrlichten Menschen zur Rechten Gottes (Röm 6,23; 2Tim 1,1).

F.G. Patterson sagt:

Ewiges Leben ist der christliche Begriff für das, was wir in Christus besitzen; dadurch werden wir in die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn gebracht und haben somit eine dem Himmel angemessene Natur.[5]

Wir haben ewiges Leben in Christus – Christus lebt in uns; und dieses ewige Leben bringt uns in Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn. Dies konnte nicht Wirklichkeit werden, bis der Vater in Ihm offenbart und der Heilige Geist gegeben wurde, durch den wir es genießen.[6]

H. Nunnerley sagt:

Das ewige Leben ist ein Leben der Gemeinschaft, eine Teilhabe an göttlichen Beziehungen, eine praktische Erkenntnis des Vaters und dessen, den Er gesandt hat.[7]

A.C. Brown sagt:

Ewiges Leben bezieht sich auf das Leben Gottes, das in Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn durch den innewohnenden Heiligen Geist genossen wird.[8]

Im Laufe der Jahre ist viel Verwirrung über die Bedeutung des ewigen Lebens entstanden. Viele Missionare, Evangelisten und Sonntagsschullehrer definieren es als „Leben, das ewig währt“. Wenn das jedoch eine korrekte Definition des ewigen Lebens wäre, dann müssten wir sagen, dass der Teufel und alle verlorenen Sünder ewiges Leben haben, weil sie auch ewig existieren werden! Das ist natürlich nicht die Bedeutung.

H. Nunnerley sagt:

Es ist viel Missverständnis über das ewige Leben entstanden, indem man seine Bedeutung beschränkt hat auf die endlose Dauer der Existenz und auf die ewige Sicherheit derer, die dieses Leben besitzen.[9]

A.C. Brown bestätigt dies, wenn er feststellt, dass ewiges Leben

nicht nur bedeutet, dass wir ein Leben haben, das ewig währt.[10]

H.M. Hooke bemerkt:

Nur sehr wenige von uns machen sich die Mühe, darüber nachzudenken, was ewiges Leben wirklich bedeutet. Ich erinnere mich, dass ich einmal eine alte gläubige Frau fragte, ob sie mir freundlicherweise sagen könne, was das ewige Leben sei. „O ja“, sagte sie, „nie aufhörendes Leben.“ „Dann“, sagte ich, „haben Sie nicht mehr als der Teufel, denn sein Leben wird ebenfalls niemals enden!“ Ich glaube, das, was sie sagte, ist eine weitverbreitete Vorstellung. Auch die Verlorenen haben eine ewige Existenz, denn sie werden die Ewigkeit im Feuersee verbringen, aber sie haben kein ewiges Leben.[11]

Der Begriff „ewiges Leben“ wird nicht wegen seiner unendlichen Dauer so genannt, sondern weil es ein Leben ist, das zur Ewigkeit gehört. Er bezieht sich auf die besondere Qualität des göttlichen Lebens, das der Vater und der Sohn seit ewigen Zeiten gemeinsam genießen. Durch das Kommen Christi, um den Vater zu offenbaren, und durch den Tod Christi, um die Frage unserer Sünden zu klären, sowie durch die Auferstehung und Himmelfahrt Christi, woraufhin der Geist gesandt wurde, ist es uns nun möglich, an diesem Leben in einer Beziehung mit dem Vater und dem Sohn teilzuhaben. Wir sind also in der Lage, das zu genießen, was die göttlichen Personen genießen (1Joh 1,3.4). Dies ist ein Segen, den die Gläubigen des Alten Testaments weder kannten noch besaßen, denn weder kannten sie Gott als Vater, noch war die Grundlage für die Erlösung durch den Tod Christi gelegt worden, noch war der Heilige Geist gesandt worden, um in den Gläubigen zu wohnen.

Vielen Christen fällt es schwer, zu verstehen, wie jemand sagen kann, dass die Gläubigen des Alten Testamentes kein ewiges Leben hatten. Für sie hört sich das so an, als ob wir sagen würden, dass diese Gläubigen nicht gerettet wurden und deshalb jetzt nicht im Himmel sind! Ihr Problem ist, dass sie eine falsche Vorstellung davon haben, was ewiges Leben ist, und das hat sie zu falschen Schlussfolgerungen geführt. Die Wahrheit ist, dass die Gläubigen des Alten Testamentes von neuem geboren waren und somit göttliches Leben hatten und deshalb jetzt im Himmel sind – aber sie konnten aus den oben genannten Gründen nicht die Qualität und den Charakter des Lebens haben, die zum ewigen Leben gehören.

J.N. Darby wurde gefragt:

Hatten die Gläubigen des Alten Testamentes nicht das ewige Leben? Antwort: Was die alttestamentlichen Gläubigen betrifft, so war das ewige Leben kein Teil der alttestamentlichen Offenbarung, selbst wenn man annimmt, dass die alttestamentlichen Gläubigen es hatten.[12]

H.M. Hooke sagt:

Ich war sehr erstaunt, als ich die alttestamentlichen Schriften durchsah und nicht ein einziges Beispiel dafür fand, dass ein alttestamentlicher Gläubiger erwähnt wurde, dass er ewiges Leben hatte; es war nicht bekannt.[13]

Es ist auch nicht so, dass sie das ewige Leben hatten, es aber nicht wussten (wie einige fälschlicherweise gelehrt haben), denn das Wesen und die Bedeutung des ewigen Lebens besteht darin, bewusste Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn zu haben (Joh 17,3). Wie könnte ein Mensch bewusste Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn haben (das Wesen des ewigen Lebens) und sich dessen nicht bewusst sein?

Das ewige Leben ist ein „himmlisches“ Leben (Joh 3,12.13), das erstmals sichtbar wurde, als Christus vom Himmel kam und unter den Menschen wohnte (Joh 1,14). Bevor Christus in die Welt kam, war das ewige Leben (das Leben „beim Vater“ im Himmel, 1Joh 1,2) den Menschen unbekannt. Jetzt ist es den Christen geschenkt worden (Joh 3,15.16.36 usw.), wodurch wir die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn genießen und die daraus resultierende Fülle der Freude haben können (1Joh 1,3.4). F.G. Patterson sagt:

Man konnte damals nicht sagen, dass sie [die Gläubigen des Alten Testamentes] ewiges Leben hatten. Es wurde erst durch das Evangelium ans Licht gebracht (2Tim 1,10; Tit 1,2 usw.).[14]

Die Lehre, dass die Gläubigen des Alten Testamentes ewiges Leben hatten, verwischt den Unterschied zwischen den beiden Testamenten und den Segnungen und Vorrechten, die die Kirche von Israel unterscheiden. Dies ist ein Irrtum, der in der reformierten (Bundes-)Theologie wurzelt, die Israel und die Kirche als ein Volk mit denselben Segnungen betrachtet. Viel Ärger und Verwirrung ist dadurch entstanden, dass Menschen das Thema des ewigen Lebens missverstanden haben, und folglich haben sie diesbezüglich Irrtümer gelehrt. Beispiel: F.W. Grant versuchte, es den Gläubigen des Alten Testamentes zu geben, während F.E. Raven versuchte, es den Gläubigen des Neuen Testaments wegzunehmen![15]

Das ewige Leben wird auch allgemein mit der „Neugeburt“ (Joh 3,3-8) verwechselt, aber diese Begriffe sind nicht synonym. Beide haben mit dem Besitz des göttlichen Lebens zu tun, aber das ewige Leben hat, wie wir gesagt haben, mit dem Besitz des göttlichen Lebens in seinem vollsten Sinne zu tun, in der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn. Es ist nicht so, dass es zwei Arten von göttlichem Leben gibt; das Leben, das in der neuen Geburt vermittelt wird, und das ewige Leben sind ihrem Wesen nach dasselbe Leben. Es ist das Leben Christi selbst – der Herr Jesus wird in diesem Brief sogar „das ewige Leben“ genannt (1Joh 1,2). Der Unterschied besteht darin: Ein Mensch, der von neuem geboren wird, hat das göttliche Leben sozusagen als Embryo, während ein Mensch, der das ewige Leben durch den Glauben an Christus empfängt, das göttliche Leben in seiner höchsten Form erhält – er kennt den Vater und den Sohn durch die Kraft des Heiligen Geistes. In ähnlicher Weise ist das Leben in einem Apfelkern dasselbe wie in einem ausgewachsenen Apfelbaum; der Unterschied besteht darin, dass das Leben im Baum voll entwickelt ist.

Zwei Aspekte des Lebens im Überfluss

Dieses Leben in Überfluss hat zwei Aspekte:

  1. Es bezieht sich auf das göttliche Leben im Gläubigen als gegenwärtiger Besitz, durch den er sich der bewussten Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn erfreut (Joh 3,15.16.36 usw.; „hat“). Das ist der Aspekt, um den es im Dienst des Johannes geht.

  2. Es wird als die Lebenssphäre betrachtet, auf die der Gläubige am Ende seines Weges zusteuert, wenn er in den Himmel kommt. Es handelt sich also um eine zukünftige Sache. So spricht Paulus davon (Röm 2,7; 5,21; 6,22.23; Gal 6,8; 1Tim 1,16; 6,12.19; Tit 1,2; 3,7). Auch Judas spricht auf diese Weise davon (Jud 21). In diesem letztgenannten Sinn ist das ewige Leben eine Umgebung des geistlichen Lebens, in der alles Licht, Liebe und Gerechtigkeit ist und in der man die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn genießt.

Der erste Aspekt hat also mit dem Leben in uns zu tun, und der zweite Aspekt ist das Leben, in dem wir sein werden.

In unserer Alltagssprache verwenden wir das Wort „Leben“ auf diese beiden Arten. Wir können von einer Pflanze, einem Tier oder einem Menschen sagen, dass sie Leben in sich tragen. Wir sprechen aber auch von Leben als einem Element oder einer Sphäre, in der eine Person wohnen kann – zum Beispiel „Landleben“, „Stadtleben“, „Gemeindeleben“ usw. So können wir jetzt durch den Geist das ewige Leben genießen, aber dann werden wir in diesem Lebensbereich in seinem vollsten Sinne wohnen, wenn wir verherrlicht werden. Diese beiden Aspekte des Lebens werden durch das Beispiel eines Tiefseetauchers veranschaulicht. Er arbeitet unter Wasser, atmet aber Luft durch einen Sauerstoffschlauch, der ihn am Leben erhält. Dies entspricht dem Gläubigen, der das ewige Leben in der Gegenwart besitzt. Wir leben in dieser Welt und bewegen uns in einem Element, für das wir von Natur aus nicht geeignet sind, denn wir gehören der neuen Schöpfung an und sind himmlische Menschen. Wir sind also nicht von dieser Welt, sondern werden von unserem „Sauerstoffschlauch“ der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn getragen, während wir in dieser Welt sind. Wenn der Taucher seine Arbeit beendet hat und aus dem Wasser in sein natürliches Element aufsteigt, legt er seinen Taucherhelm und -anzug ab und atmet die Luft ohne diese Apparatur ein. In ähnlicher Weise werden wir, wenn unsere Arbeit hier auf der Erde beendet ist und wir in unserem verherrlichten Zustand in den Himmel heimgerufen werden, in dem Element des ewigen Lebens sein, für das wir perfekt geeignet sind.

Der gegenwärtige Besitz dieses Lebens kann als „ewiges Leben“ bezeichnet werden und der zukünftige Aspekt als ein „Leben in der Ewigkeit“. Wir sind der Darby-Übersetzung zu Dank verpflichtet, die diese Dinge auf diese Weise unterscheidet.[16] Wenn von Christus persönlich gesprochen wird, heißt es „ewiges Leben“ (1Joh 1,2).

Ewiges Leben in den synoptischen Evangelien

In den synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas) bezieht sich der Begriff „ewiges Leben“ auf das göttliche Leben auf der Erde im Tausendjährigen Reich Christi (Mt 19,16.29; 25,46; Mk 10,17.30; Lk 10,25; 18,18.30 usw.). Dies wurde bereits im Alten Testament verheißen (Ps 133,3; Dan 12,2) und wird von dem Überrest Israels (Off 7,1-8) und den gläubigen Heidenvölkern (Off 7,9.10) an einem kommenden Tag verwirklicht. Dieser Aspekt des göttlichen Lebens wird weder im Johannesbrief noch in seinem Evangelium behandelt.

Das Ende naht

Johannes sieht die Dinge im christlichen Zeugnis so, wie sie in den allerletzten Momenten vor der Ankunft des Herrn (der Entrückung) sein werden. Seine Sichtweise ist die späteste aller neutestamentlichen Autoren, wie das folgende Diagramm zeigt:

Dieses einfache Schema zeigt, dass sich das christliche Zeugnis immer mehr verschlechtert, je näher wir dem Ende kommen (2Tim 3,13), und schließlich im Gericht Gottes endet (Röm 11,17-22; Jud 14-16). Das Ende des christlichen Zeugnisses ist also nicht die Wiederherstellung, sondern das Gericht.

Ein kurzer Abriss des Briefes

1Joh 1,1-4: Einleitung

1Joh 1,5–5,5: Eine dreifache Untersuchung der wesentlichen Kennzeichen von Gottes Wesen in seinen Kindern:

  • Licht: 1Joh 1,5–2,11

        1Joh 2,12-28: Einschub

  • Leben: 1Joh 2,29–4,6
  • Liebe: 1Joh 4,7–5,5

1Joh 5,6-21: Epilog


Quelle: The First Epistle of John: The Characteristics of Life Eternal in the Children of God in Times of Apostasy
E-Book Version 1.4. 2019

Übersetzung: Stephan Isenberg

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Anmerkungen

[1] J.N. Darby, „Hebrews 7. Reading Meeting held at 3, Lonsdale Square“ in Notes and Jottings, S. 36.

[2] F.B. Hole, Grundzüge des Neuen Testaments, Bd. 6: Johannesbriefe. Judasbrief. Offenbarung, Hückeswagen (CSV) 1991, S. 35.

[3] J.N. Darby, „Notes on the First Epistle of John“ in Collected Writings, Bd. 28, S. 214.

[4] Wir sind den Fußnoten der Darby-Übersetzung zu Dank verpflichtet, die angeben, welches Wort an einer bestimmten Stelle verwendet wird. Siehe seine ausführliche Anmerkung zum Gebrauch dieser Wörter in 1. Korinther 8,1.

[5] F.G. Patterson, Scripture Notes and Queries, 1871, S. 112.

[6] F.G. Patterson, „Scripture Queries and Answers“ in Words of Truth, Jg. 3, 1868, S. 179.

[7] H. Nunnerley, „Eternal Life“ in Scripture Truth, Jg. 1, 1909, S. 197.

[8] A.C. Brown, „Eternal Life“ in Things that differ, S. 4.

[9] H. Nunnerley, „Eternal Life“ in Scripture Truth, Jg. 1, 1909, S. 195.

[10] A.C. Brown, „Eternal Life“ in Things that differ, S. 4.

[11] H.M. Hooke, „John’s First Epistle – Chapter 1“ in The Christian’s Friend and Instructor, Jg. 12, 1885, S. 230.

[12] J.N. Darby, „Readings on 1 Peter“ in Notes and Jottings, S. 351.

[13] H.M. Hooke, „John’s First Epistle – Chapter 1“ in The Christian’s Friend and Instructor, Jg. 12, 1885, S. 230.

[14] F.G. Patterson, Scripture Notes and Queries, 1871, S. 66.

[15] F.E. Raven würde das wahrscheinlich bestreiten, aber wenn man seine Lehren genau untersucht, wird man feststellen, dass sie im Wesentlichen genau das aussagen. Siehe Life Eternal with F.E.R.’s Heterodoxy as to it von William Kelly.

[16] J.N. Darby versäumt es, das ewige Leben als solches in 1. Johannes 3,15; 5,11.13.20 zu erwähnen, aber W. Kellys Übersetzung tut dies.


Note from the editors:

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