Das Toleranzdenken in unserer Zeit
Wo müssen wir und wo dürfen wir nicht tolerant sein?

H.B.

© SoundWords, online: 21.02.2001, updated: 30.10.2022

Leitverse: Johannes 18,38; 2. Timotheus 1,12; 1. Korinther 2,11-15; 4,3

Joh 18,38: Was ist Wahrheit?

2Tim 1,12: Ich schäme mich nicht, denn ich weiß, wem ich geglaubt habe.

1Kor 2,11-15: So weiß auch niemand, was in Gott ist, als nur der Geist Gottes. Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott ist, um die Dinge zu kennen, die uns von Gott geschenkt sind … Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird.

1Kor 4,3: Mir aber ist es das Geringste, dass ich von euch oder von einem menschlichen Tag beurteilt werde; ich beurteile mich aber auch selbst nicht.

Toleranz – das Motto von heute

Immer mehr Menschen ärgern sich heute über Intoleranz und Engstirnigkeit. Dementsprechend populär sind Toleranz und Liberalität. Entschiedene Worte erwecken Angst. Da lässt man sich schon eher durch sanfte und weiche Worte verführen. Letztendlich glaubt man dann schon durch bloße Gewöhnung an das, was man behauptet, oder an das, was andere einen glauben machen wollen. Man kommt zu dem Entschluss, dass Toleranz das Richtige sei. Dogmatische Lehren und Meinungen sollen den Fortschritt bei der Suche nach der Wahrheit behindern – jedenfalls nach dem, was die Welt Wahrheit nennt.

In weltlichen Dingen, wie zum Beispiel in der Naturwissenschaft, hat man nichts gegen Dogmatismus. In geistlichen Dingen dagegen, vor allem solchen, die die Wahrheit von Gott und die Rettung von verlorenen Menschen betreffen, soll Dogmatismus unangebracht sein. Vielleicht muss die „Wahrheit“ von heute schon morgen korrigiert werden oder sie erweist sich als ganz falsch. Lehren und praktische Verhaltensweisen, die zu ihrer Zeit gut und nützlich waren, taugen nicht mehr für eine neue Zeitepoche. Mit anderen Worten: Was einmal völlig ausgereicht hat als Grundlage für die Hoffnung von Menschen in Bezug auf die Ewigkeit, ist nun völlig unpassend für unsere moderne Zeit. Von alten Lehrsätzen verabschiedet man sich heute der Reihe nach. Es folgen andere Lehren, die fortschrittlicher sind. Damit ist es eine Anmaßung, eine feste Überzeugung über irgendeine religiöse Frage oder Lehre zu vertreten. In der Tat fragen viele: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38), und: „Wer wird uns Gutes schauen lassen?“ (Ps 4,7). Aber nur wenige warten wirklich auf eine Antwort. Toleranz ist also das Motto von heute. Man kann glauben, was man will, vorausgesetzt, man mischt sich nicht in die Meinung seiner Nachbarn ein und handelt sonst nach dem Motto: „Was für mich stimmt, muss für dich noch lange nicht richtig sein!“ Aber dieses Verhalten gab es nicht immer noch wird es immer so bleiben, sondern es ist der cry of the moment, „der Schrei des Augenblicks“. Wir wollen deswegen dieses Verhalten untersuchen.

Koexistenz von Gut und Böse – die Voraussetzung für Toleranz

Was ist nun Toleranz? Warum und was sollen wir tolerieren? Das Wort Toleranz setzt einen Zustand der Unvollkommenheit voraus. Wenn alle eines Sinnes wären, dann brauchte man keine Toleranz. Wenn sich das Gute allgemein behaupten würde, dann gäbe es nichts, was man tolerieren müsste. Wenn das Böse allgemein herrschen würde, dann wäre es sicherlich intolerabel, obwohl es alle aushalten müssten (so wird es an dem Ort sein, der dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist; Mt 25,41).

Toleranz setzt also die Koexistenz, das gleichzeitige Vorhandensein von Gut und Böse voraus. Das Böse wird von dem Guten (bzw. was als gut angesehen wird) toleriert, denn Toleranz muss notwendigerweise von dem moralisch Höheren dem Niedrigeren gegenüber ausgeübt werden.

Die Toleranz eines unfehlbaren Gottes

Dass in einem gewissen Sinn und in einem gewissen Maß Toleranz in Ordnung ist, wird niemand leugnen, denn Gott selbst übt Toleranz, Er offenbart Geduld und Langmut. Sein eigenes Wort und die Erfahrung eines jeden Menschen lehren dies. Aber bei Gott hat die Toleranz eine Grenze, und das muss auch so sein, denn wenn Er auch in Gnade für eine Zeit mit großer Langmut ausharren kann, so kann Er doch nicht für immer so handeln, ohne seinen Charakter und sein Wesen zu verleugnen. Ein Wesen, das ewig das Böse tolerieren würde, wäre nicht gut, heilig oder gerecht. Und ein Zustand, in dem Toleranz ewig gefordert würde, wäre nie ein vollkommener Zustand. Toleranz, selbst aufseiten Gottes, muss deswegen begrenzt sein, sowohl in ihrem Ausmaß wie auch in ihrer Dauer.

Die Toleranz eines fehlbaren Wesens

Aber es gibt noch eine andere Seite der Frage. Ein Wesen, das vollkommen gut ist, mag in Geduld und Gnade für eine Zeit und aus einem ganz bestimmten Grund das Böse tolerieren. Es ist jedoch etwas völlig anderes, wenn die Toleranz von Wesen ausgeübt wird, die in sich selbst nicht gut, sondern böse sind. Wenn ein Wesen, das vollkommen gut ist, Böses toleriert, dann muss das für ein gutes Ziel sein, anderenfalls wäre das Wesen selbst eben nicht gut. Aber wenn ein unvollkommenes Wesen Toleranz ausübt, dann müssen wir Befürchtungen sowohl hinsichtlich des Beweggrundes als auch des Zieles haben. Eigentlich erscheint es paradox, darüber zu sprechen, dass Böses Böses toleriert – und doch ist es eine Tatsache, der wir ständig in der Welt begegnen. Es ist der Geist dessen, was man heute agree to disagree nennt – das heißt, man erkennt an, dass man verschiedener Meinung ist.

Beweggründe für Toleranz

Wenn ein fehlbares oder unvollkommenes Wesens Toleranz übt, kann das verschiedene Beweggründe haben. Erstens kann es sein, dass man sich so sehr selbst verurteilt, dass man es für unmöglich hält, andere in gleich schwierigen Umständen zu beurteilen. Zweitens fühlt man sich unfähig, Sichtweisen und Meinungen anderen aufzudrücken aufgrund eines Machtgleichgewichts mit solchen, die ganz anderer Meinung sind. Drittens ist man oft gar nicht so richtig überzeugt von der Wahrheit dessen, was man festhält.

Der erste Beweggrund trifft auf Menschen in ihrem natürlichen Zustand zu (Röm 1,31; 2,1), und der zweite Beweggrund liegt unzweifelhaft allen Formen lehrmäßigen Irrtums zugrunde, sei es Unglaube oder Aberglaube. Der Hauptgrund ist jedoch der dritte Beweggrund – und das ist das Motiv der religiösen Toleranz in unseren Tagen. Man ist sich unsicher in seiner Meinung, hat kein solides Fundament für seinen Glauben und keine sichere Gewähr für seine Hoffnungen. In den Dingen, die die Errettung der Seelen betreffen (was selbst die Welt als wichtigstes aller Themen betrachtet), klaffen die Meinungen der Menschen so weit auseinander wie die Pole. Daher wagt niemand, in seinem Herzen zu sagen und noch weniger mit seinen Lippen zu bekennen, er habe die Wahrheit gefunden.

Toleranz – Konsequenz eines Machtgleichgewichts

Ein bestimmtes Religionssystem in der Christenheit allerdings hat die alleinige Unfehlbarkeit für sich beansprucht. Solange dieses System die Macht hatte, hat es nicht nur Unfehlbarkeit beansprucht, sondern auch – ganz damit in Übereinstimmung – Intoleranz ausgeübt. Seine Macht allerdings nimmt immer mehr ab und wird überall in Frage gestellt. Seine Anmaßungen erwecken nicht länger Angst in den Herzen der Menschen, sondern vielmehr ein Lächeln auf ihren Lippen. Ein anderer Geist hat langsam eine größere Macht entwickelt. Der menschliche Verstand beansprucht sein Recht. Die Nachsicht und Toleranz unserer Tage ist hauptsächlich die Frucht des gleichzeitigen Vorhandensein und Konfliktes dieser beiden Mächte, dem Geist des Aberglaubens und dem Geist des Unglaubens. Wir sagen „hauptsächlich“, denn wir leugnen nicht, dass auch ein gewisses Maß an wahrer christlicher Langmut vorhanden ist, wenn auch oft in Verbindung mit weniger reinen Motiven.

Bald wird die Welt die Intoleranz einer rücksichtslosen Macht wieder erfahren. In dem Maße wie der Einfluss des Aberglaubens immer weiter zurückgeht und die gegenwärtige Notwendigkeit der gegenseitigen Toleranz aufhört, wird sich die Tyrannei und Selbstsucht des Menschen – unkontrolliert durch die Religion, sei sie nun falsch oder wahr – in dem Antichristen entwickeln, das heißt in dem Menschen der Sünde, dem Gesetzlosen, dem Bösen, von dem in den Schriften gesprochen wird (Dan 8,23-26; 11,36-39; 2Thes 2; Off 13). Toleranz wird nämlich immer weniger, je mehr sich das Gleichgewicht der Kräfte mehr und mehr in eine Richtung neigt, und wird aufhören, wenn sich eine Macht ganz behaupten kann.

Toleranz in geistlichen Dingen – eine Folge von Unsicherheit

Bis jetzt haben wir von dem Wesen und dem Geist der Toleranz, wie wir ihn in der Welt finden, gesprochen. Es gibt jedoch Gläubige, die begehren, den Willen Gottes zu erkennen und zu tun, jedoch Schwierigkeiten haben in Bezug auf das, was sie erlauben können, und das, was sie zurückweisen sollen. Als Hilfe für solche möchten wir gern noch ein paar Worte sagen.

Bezüglich dieses Gegenstandes – das gilt natürlich genauso für alle anderen Dinge, von denen das bekennende Volk Gottes betroffen ist – können wir, um Unterweisung zu bekommen, nirgendwo anders hingehen als zu Gott und seinem Wort. Seine Wege müssen unser Beispiel sein, sein Wort unsere Vorschrift. Alle werden zugestehen: Wenn es überhaupt eine Offenbarung Gottes gibt, dann muss in Verbindung damit auch ein Maßstab für das Richtige und die Wahrheit existieren. Wir haben nur nötig, dieses zu erkennen. Im Allgemeinen wird das auch bejaht. Aber das Zögern ist groß, diesen Maßstab auf sich selbst anzuwenden, ja sogar zuzugestehen, dass andere ihn erreicht haben.

Es wird von der ganzen Christenheit anerkannt, dass das Christentum eine Offenbarung Gottes ist. Sie argumentiert aber zum größten Teil so, als wenn es unmöglich wäre, eine göttliche Sicherheit bezüglich der Wahrheit Gottes zu erreichen. Als ob Gott tatsächlich eine Offenbarung gegeben hätte und dann nicht in der Lage gewesen wäre, sie denen nahezubringen, denen Er diese Offenbarung gegeben hat. So wird die Überzeugung von „einer Wahrheit“ verachtet. Selbst das System, das in seiner eigenen Selbstanmaßung ohne zu zögern Glaubens- und Lehrsätze aufstellt, hört auf, von „einer Wahrheit“ überzeugt zu sein, sobald es um den wichtigsten Gegenstand göttlicher Offenbarung geht. Wie ist nämlich möglich, dass ein heiliger Gott mit sündigen Menschen Gemeinschaft haben kann, so dass der Mensch sich wohl fühlen kann?

Dieses System behauptet, dass dieses Ziel in diesem Leben nie erreicht werden könne. Kein Mensch könne wissen, ob Gott ihm zugeneigt sei oder nicht. Das wird behauptet, obwohl es in direktem Widerspruch zu der ganzen Belehrung der neutestamentlichen Offenbarung der Gnade und Liebe Gottes steht. Wir selbst aber sind davon überzeugt, dass Gott uns eine fehlerlose und vollkommene Offenbarung gegeben hat, worin Er selbst unfehlbar erkannt und seine Wahrheit unfehlbar erfasst werden kann, trotz aller Unterschiede und Unsicherheiten menschlicher Meinungen.

Bevor wir es also wagen können, tolerant oder intolerant zu sein, muss man selbst eine feste und sichere Grundlage haben. Wenn wir die Wahrheit nicht kennen oder nicht von ihr überzeugt sind, dann ist es für uns unmöglich, in irgendeiner Weise Intoleranz gegenüber anderen Meinungen auszuüben. Beispiel: Wenn man für sich selbst die eigene Errettung nicht als einen Besitz kennt, dann kann man ehrlicherweise nicht intolerant sein gegenüber solchen, die behaupten, dass man seiner Errettung nie sicher sein kann. Man mag diese Sichtweise nicht unterstützen, aber man muss sie tolerieren. Auf der anderen Seite gibt es für denjenigen, der durch göttlichen Glauben weiß, dass er die Errettung aufgrund der Auferstehung Christi besitzt, über dieses Thema nichts mehr zu diskutieren. Das macht ihn notwendigerweise intolerant gegen jede andere vorgebrachte Meinung. „Ich weiß, wem ich geglaubt habe“ (2Tim 1,12) ist die Sprache eines solchen. Es gibt gewisse Dinge, wo Theorien nicht standhalten können gegenüber Besitz, und das hier ist solch ein Fall. Theorien über die Errettung der Seele mögen sonnenklar sein, aber derjenige, der diese Sache selbst besitzt, kann allein ihren Wert beurteilen.

Deshalb ist persönliche Sicherheit, gegründet auf göttliche und deswegen vollkommene Autorität, notwendig. Nur wenn man diese Sicherheit besitzt, kommt man dahin, zu erkennen, was man tolerieren kann und was nicht. Gottes Wahrheit ist der Maßstab der Lehre, seine Wege der Maßstab der Praxis.

Christen dürfen Sünde und böse Lehren nicht tolerieren

Dass Christen nicht einfach das tolerieren können, was gegen Gott ist, lehrt sein Wort ganz klar. Wir haben hier eine große Verantwortung. Duldung der Sünde und böser Lehre wird in vielen Stellen der Heiligen Schrift verurteilt (1Kor 5; 1Tim 5,22; 3Joh 10.11; Off 2,14-16; 3,15.16). Die Warnungen Christi an die Versammlungen (Off 2–3) sind ernste Worte, besonders heute, wo man jede Form des Bösen unter dem Dach des Christentums toleriert. Man missbilligt es sogar, wenn man Lehren verurteilt, die Christus und sein Werk verunehren. Wie passen doch die Worte aus Maleachi 2,17 auf solche: „Ihr habt den HERRN mit euren Worten ermüdet; und ihr sprecht: ,Womit haben wir ihn ermüdet?‘ Damit, dass ihr sagt: Jeder Übeltäter ist gut in den Augen des HERRN, und an ihnen hat er Gefallen.“ Wenn bekennende Christen aufgefordert werden, böse Lehren und böse Praxis zu verurteilen und sich davon zu trennen, dann antworten sie oft: Wie sollen wir das als falsch verurteilen, was gewissenhaft vertreten wird?, oder weit öfter bemerken sie: Wer bist du, dass du andere richten willst? Und ist das nicht deswegen so, weil viele Menschen, die sich nach dem Namen Christi nennen, nicht die Kraft des Christentums als Offenbarung Gottes über Ihn selbst festhalten? Davon hängt jedoch alles ab.

Meine Meinung oder Gottes Wort?

Wenn ich die Lehre als reine Ansichtssache betrachte, wie kann ich dann gegen gegensätzliche Sichtweisen und Meinungen vorgehen, die von anderen auf derselben Grundlage und mit demselben Recht vertreten werden?

Aber wenn wir völlig überzeugt und durchdrungen sind von der Wahrheit Gottes, dann reden wir nicht von „meiner Meinung“ und „meinen Ideen“. Wir sollten nicht einmal unsere Meinung gegen die von anderen aufstellen. Es gar nicht darum: „Ich denke so“, und: „Du denkst anders“, und: „Wir werden sowieso nie übereinstimmen“, sondern es ist einfach so, dass ich Gott glaube, dass ich mich seinem Wort unterworfen habe, dass Er jede Frage meines Herzens beantwortet hat und dass Er allein, in Wahrheit, alle Fragen, von wem auch immer, beantworten kann. Was dann dagegen angeführt wird, ist dann nicht nur gegen die Meinung des Gläubigen gerichtet, sondern gegen das Wort Gottes, an das er glaubt.

Wie behandelt man solche, die böse Lehren haben?

Solche falsche Lehren oder Meinungen, die gegen den Glauben eines solchen Gläubigen sind, können von diesem nicht einfach toleriert werden. Es kann ihnen nicht einmal irgendein Gewicht oder Recht zugebilligt werden. Wenn man mit solchen Menschen – die eine andere Sichtweise haben – spricht, sind Gnade und Weisheit nötig. Doch der Gläubige muss hier die Situation beurteilen, und er hat auch die Fähigkeit dazu bekommen, den Geist zu beurteilen (1Kor 2,11-15), in dem diese Gegenargumente gebracht werden.

Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen dem Lehrer einer bösen Lehre und jemand, der durch einen solchen verführt wird. Während der Gläubige den Ersteren nach Zurechtweisung abweisen wird (2Tim 2,25; Tit 3,10; Röm 16,17-19) und damit weder ihn noch die Lehre toleriert, wird er Mitleid haben mit dem Verführten – mit dem, der unwissend ist. Und während er den Irrtum zurückweist und korrigiert, wird er doch in keiner Weise eine solche Person zurückweisen. Der Gläubige wird Mitleid haben mit den Unwissenden und den vom Weg Abgekommenen; er wird „die erschlafften Hände und die gelähmten Knie aufrichten“ und er wird „gerade Bahn machen für die Füße, damit nicht das Lahme vom Weg abkomme, sondern vielmehr geheilt werde“ (Heb 12,12.13). In Sanftmut wird er versuchen, solche, die sich widersetzen, zu unterweisen. Hier besteht allerdings die Gefahr, einen Fehler zu begehen. Oft fehlt uns die Geduld mit solchen, deren Herzen wahrhaft aufrichtig sind, die aber im Gebrauch des Wortes der Gerechtigkeit ungeschickt sind oder durch falsche Lehre verführt worden sind. Andererseits gehen wir schnell zu weit. Wir tolerieren eine solch unwissende Person und deren Meinungen und Wege (oder geben zumindest den Anschein). Wir sind dann nicht nur der Person gegenüber untreu, sondern auch Gott und seinem Wort.

„Jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit!“ (2Tim 2,19). Und wenn ein Gläubiger jemand sieht, der unwissentlich in Verbindung mit Bösen steht, dann darf er doch mit Bösen selbst nicht in Berührung kommen, wenn er weiß, dass es böse ist – auch nicht aufgrund der Nächstenliebe. Denn echte Nächstenliebe lässt nicht das Böse auf dem anderen. Zum Beispiel kann jemand, der uns sehr nahesteht, verbunden sein mit einem falschen System religiöser Lehre, von dem wir wissen, dass es gegen Gott ist. Sollen wir nun sagen: „Er glaubt das nun einmal so.“ Da werden wir sein Recht, dies auch zu praktizieren, anerkennen und ihn darin vielleicht noch unterstützen? Sicherlich nicht! Genauso wenig, wie wir selbst das Recht haben, einen Irrtum zu glauben oder zu praktizieren, genauso wenig dürfen wir das bei einem anderen anerkennen. Es kann sein, dass wir nicht fähig sind, ihn bezüglich dieses Gegenstandes zu überzeugen oder uns mit ihm darüber zu unterhalten. Eins steht jedoch fest: Wir dürfen ihm darin keine Beihilfe leisten, genauso wenig wie wir den Selbstmord eines Freundes erleichtern würden, nur weil der uns bei seinem Ehrenwort versichert hat, dass er lebensmüde sei. 

Wir können sicher sein: Je mehr unsere Seelen durchtränkt und gesättigt sind mit der Wahrheit Gottes, wie sie in Christus geoffenbart ist, umso weniger tolerant werden wir sein gegen alles, was dieser Wahrheit entgegensteht; auf der anderen Seite jedoch auch umso fähiger, die Geduld und Gnade Christi zu offenbaren gegenüber der Person, die einem Irrtum verfallen ist. Denn während in gewissem Sinn nichts so intolerant ist wie die Wahrheit, so sollte sich jeder, der die Wahrheit hat, daran erinnern, dass beides, Gnade und Wahrheit, durch Jesus Christus geworden ist (Joh 1,17) und er deshalb das nicht trennen kann, was Gott in der Offenbarung seiner selbst zusammengefügt hat. (Auf der anderen Seite kennt der Irrtum keine Gnade und kann sie auch nicht erweisen. Wenn der Irrtum ungehindert von einer ihm entgegenstehenden Macht wirken kann, breitet er sich aus durch mancherlei Betrug, Gewalt und Grausamkeit. Gerade so war es bei dem religiösen System des dunklen Mittelalters, das die Unfehlbarkeit für sich beanspruchte. Der Unglaube wird es in späteren Tagen ähnlich so machen [1Tim 4; 2Tim 3; Off 14–15].)

Wenn wir in unseren eigenen Seelen davon überzeugt sind, dass – so weit wir gelangt sind („denn wir erkennen nur stückweise“ [1Kor 13,9; Phil 3,12.13]) – wir die Wahrheit Gottes selbst besitzen, dann gibt uns das eine unermessliche Überlegenheit in der Seelsorge und befähigt uns, schonungslos gegen den Irrtum anzugehen, während wir gleichzeitig die Toleranz und Langmut Gottes offenbaren gegen solche, die durch den Irrtum verführt worden sind. Indem wir selber mit Schwachheit umgeben sind und nichts als die Gnade Gottes haben, der wir uns rühmen können, so brauchen wir doch nicht uns selbst zu behaupten, sondern dürfen ganz schlicht das vertreten, was dem würdig ist, der uns hier auf der Erde als Zeugen für seine Wahrheit gelassen hat.

Jeder Christ sollte offen für Beurteilung sein

Bezüglich der Toleranz religiöser Meinungen, die heute sehr stark befürwortet wird, sollten wir beachten, dass von der Mehrheit der bekennenden Christen heute nichts mehr übelgenommen wird, als wenn sie ihr Bekenntnis verurteilt finden.

Und sie glauben, dass sie im Recht sind, denn sie verlangen auch für sich selbst die Freiheit, die sie anderen zugestehen wollen. Allerdings ist diese Position, wenn man sie durch das Wort Gottes beurteilt, völlig unhaltbar. Auch wenn das Chaos noch so groß geworden ist: Es gibt in der Schrift ein ganz klares Anerkennen eines „Drinnen“ und eines „Draußen“. In der allgemeinen Christenheit ist diese Linie allerdings ziemlich verwischt. Aber nichtsdestoweniger nehmen alle, die den Namen Christi annehmen und sich Christen nennen, den Platz drinnen ein und unterliegen somit dem Urteil ihrer Mitgeschwister: „Ihr, richtet ihr nicht, die drinnen sind?“ (1Kor 5,12).[1] Jeder bekennende Christ ist daher jedem anderen Christen der Beurteilung ausgesetzt. Alles, was so jemand fordern kann, ist, dass er beurteilt wird nach dem Wort Gottes und nicht nach dem Maß des Gewissens eines anderen oder auch seines eigenen. Wenn wir dieser Beurteilung standhalten, können wir mit dem Apostel sagen, dass „es für uns das Geringste ist, von einem menschlichem Gericht beurteilt zu werden“ (1Kor 4,3). Zu befürchten ist allerdings, dass die Empfindlichkeit, die wir oft in Bezug auf diesen Punkt finden, daher rührt, dass man unmöglich dieser Prüfung standhalten kann.

Schluss: Ist dein Herz wirklich tief überzeugt von der Offenbarung Gottes?

Zum Schluss bitten wir unsere Leser, ihre eigene Position und Praxis in Bezug auf Toleranz zu untersuchen und sich zu vergewissern, ob sie selbst völlig überzeugt sind von der Offenbarung Gottes (nicht von menschlichen Interpretationen dieser Offenbarung, sondern von ihr selbst), von Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes, von Ihm, der Worte ewigen Lebens hat, der Gott offenbart im Fleisch ist, in Schwachheit gekreuzigt wurde, als Sohn Gottes erwiesen wurde durch Totenauferstehung und jetzt zur Rechten Gottes erhöht wurde? Ist Er so die Grundlage Ihres Friedens und Ihrer Zuversicht? Hat das Wort, das Ihn offenbart, so Besitz genommen von Ihrer Seele, dass Sie sagen können: „Gott ist wahrhaftig, auch wenn ich dadurch jeden Menschen zum Lügner machen würde?“ (Röm 3,4). Glauben Sie Gott mehr als dem Menschen? Und sollte der unermessliche Anspruch, den Er an uns hat, nicht nur an unserer Liebe, sondern auch an unserem Gehorsam und an unserem Leben gesehen werden?

Lauheit ist eine hassenswürdige Sache in den Augen dessen, der nichts geschont hat zum Wohl und Segen derer, die Er liebt. Wo Liebe stärker ist als der Tod, wie hassenswürdig ist es da, die Gegenstände der Liebe gefühllos und gleichgültig zu finden. Zu solchen sagt Christus: „Weil du lau bist und weder kalt noch warm, so werde ich dich ausspeien aus meinem Mund“ (Off 3,16). Aber selbst das ist nicht sein letztes Wort an solche, denn Er fügt hinzu: „Ich überführe und züchtige, so viele ich liebe. Sei nun eifrig und tu Buße. Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an, wenn jemand meine Stimme hört und die Tür aufmacht, zu dem werde ich eingehen und das Abendbrot mit ihm essen, und er mit mir. … Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Versammlungen sagt“ (Off 3,19.20.22).


Originaltitel: „Toleration“
aus The Present Testimony, Jg. 17, 1869, S. 458–466

Anmerkungen

[1] Der Christ ist nicht berufen, die Welt zu richten: „Die draußen sind richtet Gott“ (1Kor 5,13). Aber wir kommen heutzutage in Schwierigkeiten, wenn wir solche finden, die sich Christen nennen und damit behaupten, drinnen zu sein, die allerdings so sehr mit der Welt draußen verbunden sind, dass es uns unmöglich ist, sie zu klassifizieren. Alles, was wir sagen können, ist: Während sie sehr schlechte Christen sind, sind sie eine sehr gute Imitation dessen, was im Allgemeinen „die Welt“ genannt wird.


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