Ist für den Reinen wirklich alles rein?
Titus 1,15

David R. Reid

© SoundWords, online: 15.07.2021, updated: 17.11.2022

Leitvers: Titus 1,15

Tit 1,15: Dem Reinen ist alles rein.

Einleitung

Kann ein Christ sich mit unsauberer Literatur beschäftigen und in seinen Gedanken rein bleiben? Kann ein Christ Filme voller Gewalttat und moralischem Schmutz anschauen und dabei in seinem Denken rein bleiben?

In Titus 1,15 heißt es: „Dem Reinen ist alles rein.“ Manche Christen zitieren diesen Vers, um diese Fragen mit Ja zu beantworten. Sie meinen, Christen mit reinen Motiven könnten rein und unbefleckt bleiben – egal, was sie lesen oder anschauen. Nur Menschen mit unreinen Gedanken würden durch solche Dinge verunreinigt.

Aber bedeutet unser Vers das wirklich? Bedeutet dieser Vers, dass Christen zum Beispiel pornographische Darstellungen lediglich als eine neutrale Form von „Kunst“ betrachten könnten? Bedeutet dieser Vers, dass gottesfürchtige Gläubige sich keine Gedanken über die verderblichen Einflüsse mancher Filme oder Internetseiten machen müssten?

Nein! Titus 1,15 bedeutet nicht, dass Christen alles anschauen oder lesen könnten, weil sie immun dagegen wären. „Dem Reinen ist alles rein“ – dieser Vers bedeutet nicht, dass Pornographie oder Schund wie durch ein Wunder harmlos wird, wenn „reife“ Christen so etwas anschauen oder lesen. Dieser Vers bedeutet nicht, dass Christen so etwas arglos und unbefangen ausprobieren und unbeschadet davonkommen könnten – selbst dann nicht, wenn sie sich damit beschäftigen, um vor Ungläubigen als „informiert“ zu gelten!

Falsche Auslegungen von Titus 1,15 sind nichts anderes als verschwurbelte Versuche, die sündigen Begierden unserer gefallenen menschlichen Natur zu rechtfertigen. Wird dieser Vers falsch ausgelegt, werden damit zwei grundlegende Regeln für die Auslegung der Bibel gebrochen:

  1. Erstens muss die Bibel immer anhand der Bibel ausgelegt werden.
  2. Zweitens darf ein Bibelvers niemals aus seinem Zusammenhang herausgerissen werden.

Werden diese beiden Prinzipien nicht beachtet, dann führt das dazu, dass sogar Christen Titus 1,15 als Vorwand für unmoralische Handlungen benutzen!

1. Die Bibel anhand der Bibel auslegen

„Dem Reinen ist alles rein“ – das kann nicht bedeuten, dass Christen alles lesen oder anschauen könnten, was sie wollen, denn der überwältigende Tenor der Bibel, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament, lautet: Gläubige sollen sich von allen verderblichen Einflüssen fernhalten. Und die Bibel muss anhand der Bibel auslegt werden.

Als die Israeliten in Kanaan einzogen, sollten sie sich noch nicht einmal nach den Praktiken der heidnischen Religionen erkundigen, damit sie nicht in Versuchung kämen, sich in deren unmoralische Handlungen hineinziehen zu lassen. (Siehe 5. Mose 12,30: „So hüte dich, … dass du nicht nach ihren Göttern fragst und sprichst: Wie dienten diese Nationen ihren Göttern?“) Die Archäologie hat gezeigt, dass zu den religiösen Ritualen der Kanaaniter auch unmoralische Handlungen gehörten. Der HERR sagte, dass all diese Dinge zerstört werden sollten. Gott wollte nicht, dass sein Volk durch den Götzendienst und die Unmoral Kanaans verunreinigt wurde. Also sollte Israel auch nicht bloß aus Neugierde „nachschauen“ und das Ganze „unter die Lupe nehmen“. Sie sollten ahnungslos bleiben, unschuldig – und genau darum geht es im Neuen Testament in Römer 16,19: „Ich will aber, dass ihr weise seid zum Guten, aber einfältig[1] zum Bösen.“ Wir sollten weiser werden zum Guten, zu dem, was anständig und ehrbar ist [vgl. Phil 4,8]! Wir sollten Experten darin sein, Gutes zu tun! Wir sollten einfältig und arglos bleiben und „verständig unwissend“ gegenüber allem, was unser Denken verderben oder uns in Versuchung führen könnte.

So wie die Israeliten die unreinen heidnischen Gegenstände des alten Babylon nicht anrühren sollten (Jes 52,11), so soll auch Gottes Volk heute in unserer nachchristlichen Kultur „Unreines nicht anrühren“ (2Kor 6,17). Wir können schwerlich „jeden Gedanken unter den Gehorsam des Christus gefangen nehmen“ (2Kor 10,5), wenn wir Dinge lesen oder anschauen, die geschrieben oder aufgeführt werden, um unsere gefallene, sündige Natur zu reizen. Die Bibel fordert uns auf, „die jugendlichen Begierden[2] zu fliehen“ (2Tim 2,22) und alles abzulegen, was uns „leicht umstricken“ könnte (Heb 12,1)!

Im Licht dieser Bibelstellen (und auch vieler anderer Stellen) kann unser Vers also nicht bedeuten, dass reife Christen keinen Schaden erleiden, wenn sie sich weltlichen und unmoralischen Einflüssen aussetzen. Auch für die, deren Sinn in Christus gereinigt worden ist, sind durchaus nicht alle Dinge rein! Weil die Bibel sich nicht selbst widerspricht, kann der Vers „Dem Reinen ist alles rein“ nicht dazu benutzt werden, um zu behaupten, „reine“ Christen seien gegen das Unreine immun.

2. Bibelverse nicht aus dem Zusammenhang reißen

Die Bibel widerspricht sich nicht selbst und jede Bibelstelle muss im Licht der Verse und Kapitel ausgelegt werden, die sie umgeben. Nur wenn man Titus 1,15 aus dem Zusammenhang reißt, kann der Vers als Vorwand benutzt werden, um sündiges Verhalten durchgehen zu lassen. Der Apostel Paulus schrieb diesen Text an Titus, der dabei half, die Gemeinden auf der Insel Kreta zu leiten. Sicherlich war es nicht die Absicht von Paulus, Titus und den Christen auf Kreta zu sagen, dass sie ihren Geist mit Unrat füllen könnten und sich keine Sorgen darüber machen müssten, dass das vielleicht schlimme Auswirkungen hätte. Christen, die meinen, Titus 1,15 verleihe Immunität gegen Unrat, lassen den Zusammenhang dieser Bibelstelle völlig außer Acht:

  • Manche Christen legen den Vers so aus, als warne er die Gläubigen in gewisser Weise. Sie meinen: Weil Christen „reinen Herzens“ sind und die Wege der Welt nicht durchschauen, neigen sie dazu, naiv und arglos gegenüber dem Bösen in dieser Welt zu sein. Für sie scheinen alle Dinge rein zu sein, aber weil eigentlich nicht alle Dinge rein sind, sollten die Gläubigen besser auf der Hut sein.
  • Andere wiederum legen den Vers so aus, als bedeute er, dass für „reine“ Christen „alles rein“ sei, weil gottesfürchtige Gläubige immer die reine Seite der Dinge betrachten. So könne beispielsweise Sex falsch gebraucht und pervertiert werden, aber der unverdorbene Christ betrachte Sex immer als ein wunderbares und reines Geschenk Gottes, das mit aller Reinheit benutzt werden solle, wie Gott es beabsichtigt hat.

Diese beiden Auslegungen stimmen sicherlich mit der biblischen Lehre überein, aber sie ergeben sich nicht logischerweise aus dem Zusammenhang. Sie passen nicht in den Sinnzusammenhang in Titus 1.

Die Verse, die Titus 1,15 umgeben, beziehen sich auf die Irrlehrer auf der Insel Kreta, die lehrten, dass man unrein werde, wenn man bestimmte Speisen esse oder wenn man esse und gleichzeitig zeremoniell unrein war. Diese Irrlehrer waren „die aus der Beschneidung“ (Tit 1,10), das heißt die ungläubigen Judaisten des ersten Jahrhunderts. Diese Irrlehrer nahmen strenge Regeln in ihre „Gebote“ (Tit 1,14) mit auf und lehrten, man dürfe bestimmte Dinge nicht essen und trinken. Sie setzten sich für die alttestamentlichen Speisegebote ein und lehrten, man müsse die Hinzufügungen und Traditionen der Judaisten befolgen, um geistlich und heilig zu werden. Sie betonten, dass man einzig und allein äußere Regeln einhalten müsse, um rein zu sein, erkannten jedoch nicht an, dass das Herz innerlich verändert werden muss.

Die Judaisten missachteten völlig, was Jesus Christus gesagt hatte: „Begreift ihr nicht, dass alles, was in den Mund eingeht, in den Bauch geht und in den Abort ausgeschieden wird? Was aber aus dem Mund ausgeht, kommt aus dem Herzen hervor, und das verunreinigt den Menschen. Denn aus dem Herzen kommen hervor böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse, Lästerungen; diese Dinge sind es, die den Menschen verunreinigen, aber mit ungewaschenen Händen essen verunreinigt den Menschen nicht“ (Mt 15,17-20). In der Parallelstelle in Markus 7,19 lesen wir, dass der Herr Jesus „alle Speisen für rein erklärte“. Er sagte den Pharisäern auch, dass ihnen „alles rein“ sei, wenn ihr Herz innerlich verändert worden sei (Lk 11,41).

Die „Reinen“ sind also alle, die an unseren Herrn Jesus Christus glauben, alle, deren Herz durch das Werk Gottes verändert worden ist, als sie sich bekehrt haben. Alle Christen sind grundsätzlich „rein“, weil wir alle des göttlichen Lebens teilhaftig sind (1Pet 1,4). Wir haben zwar immer noch unsere sündige menschliche Natur, doch das neue geistliche Leben, das wir besitzen, ist „rein“.

Weil wir in Christus neues Leben haben, gelten die alttestamentlichen Speisevorschriften über bestimmte „unreine“ Speisen für uns heute nicht mehr. Diese zeremoniellen Vorschriften sind mit dem Kommen Christi allesamt beiseitegesetzt worden. Menschengemachte Satzungen über verbotene Speisen und Vorschriften über rituelle Waschungen haben nichts mit dem christlichen Leben zu tun. Christen sind frei, an jedem beliebigen Tag der Woche Rindfleisch oder Schweinefleisch oder Fisch oder irgendeine andere Speise zu essen – mit gewaschenen oder ungewaschenen Händen –, weil „alles rein ist“. Natürlich sollten wir aus Gründen der Gesundheit und der Hygiene und auch der christlichen Freiheit darauf achten, was wir essen und wie wir essen. Aber für den Christen ist keine Speise oder kein Getränk an sich „unrein“, denn „jedes Geschöpf Gottes ist gut und nichts verwerflich, wenn es mit Danksagung genommen wird; denn es wird geheiligt durch Gottes Wort und durch Gebet“ (1Tim 4,4.5).

Dann befasst sich Titus 1,15.16 mit den Ungläubigen: „Den Befleckten aber und Ungläubigen ist nichts rein, sondern befleckt ist sowohl ihre Gesinnung als auch ihr Gewissen. Sie geben vor, Gott zu kennen, aber in den Werken verleugnen sie ihn und sind abscheulich und ungehorsam und zu jedem guten Werk unbewährt.“ Die Ungläubigen werden „Befleckte“ [Verunreinigte] genannt, weil ihr Herz nicht innerlich verändert worden ist (was bei der Bekehrung zu Jesus Christus geschieht). Sie sind nicht rein, denn sie sind keine „neue Schöpfung in Christus“ (2Kor 5,17). Weil sie nicht „von neuem geboren“ sind (Joh 3,3), sind aus Gottes Sicht „sowohl ihre Gesinnung als auch ihr Gewissen befleckt [verunreinigt]“. Für diese Ungläubigen ist „nichts rein“.

Enthaltsam zu leben und bestimmte Regeln und Rituale einzuhalten hilft einem Ungläubigen kein bisschen dabei, rein zu werden. Sein Problem ist nicht äußerlich, sondern innerlich. Er ist Gott erst dann wohlgefällig, wenn er innerlich verändert ist – und das geschieht bei der Bekehrung. Regeln und rituelle Zeremonien einzuhalten bringt ihm keine Punkte bei Gott ein. Vielmehr zeigt Titus 1,16, dass die Werke des Ungläubigen beweisen, dass er Gott nicht kennt. Würde er den Herrn wirklich kennen, dann würde er aufhören, Gott zu beleidigen, indem er lehrt, dass man heilig und annehmbar für Gott werden könne, wenn man Regeln und Rituale befolgt. Wer das meint, ist (damals wie heute) „abscheulich und ungehorsam und zu jedem guten Werk unbewährt“ (Tit 1,16).

Aus der Perspektive eines Humanisten heraus betrachtet, ist die Sichtweise der Bibel unglaublich borniert und engstirnig. Doch entscheidend ist letztlich nicht das, was Menschen denken, sondern was das Wort Gottes sagt!

Zusammenfassung

Wir haben gesehen: Der Satz „Dem Reinen ist alles rein“ wurde im Blick auf das Essen bestimmter Speisen geschrieben; es geht hierbei nicht darum, gewisse Literatur zu lesen oder bestimmte Filme oder Webseiten anzuschauen! Dieser Vers bedeutet nicht, dass Unrat auf irgendeine Weise aufgewertet wird, wenn Christen ihn anschauen, oder dass Christen immun wären gegen die Auswirkungen des Unrats, den sie sehen, lesen oder hören. „Wo man Müll hineinsteckt, kommt auch Müll heraus“ – das gilt nicht nur für Computer. Dieser Satz stammt zwar nicht aus der Bibel, doch er trifft zweifellos auf den menschlichen Geist zu. Egal, wie reif Christen sind und auf welcher geistlichen Wachstumsstufe sie stehen – sie müssen äußerst sorgfältig darin sein, was sie durch Lesen, Sehen und Hören in ihren Geist eindringen lassen.

Unser Studium von Titus 1,15 hat uns auch zwei sehr wichtige Prinzipien gelehrt, die wir anwenden müssen, wenn wir die Bibel richtig auslegen wollen.

  • Das eine Prinzip lautet: Einzelne Verse in der Bibel müssen immer im Licht des historischen Zusammenhangs [soweit uns das Wort Gottes darüber informiert] ausgelegt werden, in dem sie geschrieben wurden, und in Bezug auf den literarischen Zusammenhang der umgebenden Verse.
  • Das andere Prinzip lautet: Die Auslegung eines einzelnen Bibelverses widerspricht nie dem Rest der Bibel, weil die Bibel durch die Bibel ausgelegt werden muss.

Originaltitel: „All Things are Pure“ 
Quelle: www.growingchristians.org
Online nur noch im Webarchiv verfügbar.

Übersetzung: Gabriele Naujoks

Anmerkungen

[1] Anm. d. Übers.: Das griechische Wort, das hier mit „einfältig“ übersetzt ist, lautet akeraios und bedeutet „lauter“, „ohne Falsch“, „unverdorben“, „unschuldig“.

[2] Anm. d. Übers.: Reid schreibt: „to ,flee the flesh‘“ (das Fleisch fliehen).


Note from the editors:

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