Praktische Lehren aus dem Buch Hiob (1)
Verdächtigungen

William Kelly

© CSV, online: 24.10.2005, updated: 30.04.2023

Nichts ist für einen aufrechten Gläubigen verletzender, als lediglich aufgrund unbewiesener Vermutungen angeklagt zu werden. Und dies taten die drei Freunde Hiob gegenüber. Tatsachen, die imstande gewesen wären, sein Gewissen zu überzeugen, konnten sie nicht vorbringen. Statt dessen suchten sie nach einem Beweis für ihren Verdacht und trachteten diesen in den unbeherrschten, oft rebellischen Worten des schwer geprüften Hiob zu finden.

Dies war für ihn äußerst kränkend, und wir wissen, wie schmerzlich er es empfunden hat. Der Geist der Kritik, der die Freunde beherrschte, hinderte sie daran zu warten, bis Gott die Wahrheit der Dinge ans Licht bringen würde. Denn ohne Zweifel war an Hiob manches auszusetzen, aber die verborgenen Sünden, auf die sie anspielten, hatte er nicht begangen. Sie überschritten alle Grenzen, die eine liebreiche Fürsorge geboten hätte, und scheuten sich nicht, unumwunden ihr hartes Urteil auszusprechen. Gewiss teilt Gott uns dies alles mit, um uns vor diesem grundsätzlichen Fehler in der Beurteilung anderer Gläubiger zu warnen.

Nichts ist gefährlicher, als nach dem Schein zu urteilen. Selbst wenn sich ernstere und begründetere Beschwerden erheben sollten, als die Freunde gegen Hiob vorbringen konnten, so darf von der Versammlung keine Zucht ausgeübt werden – und man sollte auch persönlich nicht urteilen –, solange Gott die Wahrheit nicht offenbar gemacht hat. Zu mancher Spaltung oder persönlichen Entfremdung wäre es wohl nie gekommen, wenn dies mehr beachtet worden wäre. Und da wir in der Schrift ein Buch haben, das unter anderem zum Ziel hat, uns vor derartigen Irrtümern zu bewahren, sind wir noch viel weniger zu entschuldigen als die Freunde Hiobs.

Für Hiob war es schwierig, die Freunde auf andere Gedanken zu bringen, da sie sich auf seine verkehrten Äußerungen beriefen. Hierin hatten sie leider nur allzu recht! Dennoch ist sein Gewissen rein: Er weiß, dass die Freunde ihm in ihren Folgerungen Unrecht tun. Von den furchtbaren geheimen Sünden, deren sie ihn beschuldigten, weiß er sich frei. Wenn er auch nicht begreift, warum dieses Leiden über ihn kommt, so glaubte er doch, dass Gott in allem Seine Hand hat. Und nun wird seine Seele in diesem Lebenssturm, der über ihn hinweggeht, hin und her gerissen zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Aufruhr und Vertrauen. Dass auch Hoffnung und gläubiges Vertrauen bei ihm zu finden sind, können wir aus den folgenden Gesprächsreihen erkennen (Hiob 15–19). Da sehen wir, dass hinter Hiobs Worten ein großes Vertrauen auf Gottes Liebe steht, dass er imstande ist, mitten in seinem Elend einem Glauben Ausdruck zu geben, der viel stärker und fester ist als der der anderen. Und als am Ende seiner Geschichte Gott selbst dies ans Licht bringt, werden die Freunde, die davon nicht gewusst haben, beschämt: Hiob selber muss für sie bitten.

Die erste Gesprächsserie (Hiob 3–14) macht deutlich, wie der Verdacht der drei Freunde Hiob gegenüber nach und nach wuchs. Nicht sofort kamen sie zu den ärgsten Folgerungen. Zuerst war es Besorgtheit gewesen, vor allem bei Eliphas; später nahm der Verdacht zu. Und mit wachsender Heftigkeit verwahrte sich Hiob gegen ihre bösen Beschuldigungen, wobei er selber durch sein Auftreten das gute Vertrauen der Freunde in die Wahrhaftigkeit seiner Geradheit untergrub.

Ab Kapitel 15 wird sichtbar, dass die Meinung der drei Freunde sich mehr und mehr festigt. Offener kommen sie mit der Sprache heraus. Hiob dagegen, soweit er sich an die Freunde wendet, wird äußerlich ruhiger, auch würdiger. Aber innerlich ist er mehr denn je zuvor von ihnen entfernt. Er behandelt sie wie Menschen, die von der Lage, in der er sich befindet, nicht den geringsten Begriff haben und ebenso wenig eine klare Einsicht in Gottes Wege besitzen. So geht auf beiden Seiten jeder gute Einfluss, sowohl des Trostes als auch der göttlichen Ermahnung, vollkommen verloren. In ihnen allen wird nur bedauernswertes Versagen gefunden. Keiner von ihnen kann auf die schwierigen Fragen die wahre Antwort geben, bis Gott selbst am Ende des Buches sie alle unterweist.

Nächster Teil


Originaltitel: „Praktische Lehren aus dem Buch Hiob. (1) Verdächtigungen“
aus Ermunterung und Ermahnung, Jg. 46, 1992, S. 138ff.

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