Besitzen hebräische Christen besondere Segnungen? (3)
Paulus folgt den jüdischen Vorschriften

Roy A. Huebner

© SoundWords, online seit: 13.10.2017, aktualisiert: 19.07.2022

Leitverse: Apostelgeschichte 21,20-27

Apg 21,20-27: Du siehst, Bruder, wie viele Tausende es unter den Juden gibt, die gläubig geworden sind, und alle sind Eiferer für das Gesetz. Es ist ihnen aber über dich berichtet worden, dass du alle Juden, die unter den Nationen sind, Abfall von Mose lehrst und sagst, sie sollen die Kinder nicht beschneiden noch nach den Gebräuchen wandeln. Was ist nun? Jedenfalls muss eine Menge zusammenkommen, denn sie werden hören, dass du gekommen bist. Tu nun dies, was wir dir sagen: Wir haben vier Männer, die ein Gelübde auf sich haben. Diese nimm zu dir, reinige dich mit ihnen und trage die Kosten für sie, damit sie sich das Haupt scheren lassen können; und alle werden erkennen, dass nichts an dem ist, was ihnen über dich berichtet worden ist, sondern dass auch du selbst in der Beachtung des Gesetzes wandelst. In Bezug auf die Gläubigen aus den Nationen aber haben wir geschrieben und verfügt, dass sie nichts dergleichen halten sollen als nur, dass sie sich sowohl vor dem Götzenopfer als auch vor Blut und Ersticktem und Hurerei bewahren. Dann nahm Paulus die Männer zu sich, und nachdem er sich am folgenden Tag gereinigt hatte, ging er mit ihnen in den Tempel und kündigte die Erfüllung der Tage der Reinigung an, bis für einen jeden von ihnen das Opfer dargebracht war. Als aber die sieben Tage beinahe vollendet waren, sahen ihn die Juden aus Asien im Tempel, brachten die ganze Volksmenge in Erregung und legten die Hände an ihn.

Diese falsche Lage, in die sich Paulus hier begab, ist nicht bis zum letzten Ende gebracht worden. So wie Gott David davor bewahrte, mit den Philistern in den Kampf gegen Israel zu ziehen, so bestimmte Er in seiner Autorität, dass Paulus unmittelbar vor der eigentlichen Opferhandlung von seinen Feinden in Gewahrsam genommen wurde. Gott sei Dank wurde Paulus davor bewahrt, an den Opfern teilzunehmen, die offenbar von den Nasiräern am Ende ihrer Gelübde geopfert werden sollten (4Mo 6,14). Die Prophezeiung des Agabus (Apg 21,10.11) entsprach der Wahrheit. Aber um die Prophezeiung zu erfüllen, erlaubt Gott seinem Knecht, in den falschen Rat der Leiterschaft in Jerusalem einzuwilligen und ihm zu folgen.

Wir könnten uns fragen, ob Paulus darüber nachdachte, als er infolge dieser Handlung in einem römischen Gefängnis sitzend den Brief an die Hebräer schrieb und dabei deutlich machte, dass kein Opfer für Sünden mehr übrig ist (Heb 10,18). Außerdem könnten wir uns fragen, was die Führer wohl dachten, als sie den Hebräerbrief lasen. Ja, Gott verhinderte in seinem Regierungshandeln, dass ihr irreführender Rat ganz zur Ausführung kam. Wie gnädig von Ihm, wenn Er uns davon abhält, einen Weg, der nicht sein Wille ist, bis zum Ende zu gehen. Paulus’ Reise nach Jerusalem beendete sein öffentliches Wirken, weil Gott in Paulus’ Handlungen eingriff und ihn als Gefangenen nach Rom brachte, von wo aus er die sogenannten „Gefängnisbriefe“ schrieb.

Auf diese Weise werden zweierlei Dinge deutlich: Zunächst drückt Gott deutlich sein Missfallen über das Verhalten seines Dieners aus; denn dieses Verhalten hatte drastische Konsequenzen. Und doch erhält Er Paulus aufrecht und brachte ihn nach Rom. Das geschah zwar unter völlig anderen Bedingungen, als Paulus sich das erhofft hatte, denn eigentlich hatte er sich gewünscht, die Heiligen unter anderen Umständen treffen zu können. Weiterhin wird auch diese Situation von Gott noch zum Segen verwendet. Dieser Segen liegt in den inspirierten Schriften des Apostels der Heiden. In der Tat wurde der Hebräerbrief, der die Empfänger dazu auffordert, aus dem „Lager“ hinauszugehen – das ist, aus dem Judentum hinauszugehen (Heb 13,13) –, im Gefängnis geschrieben. Gott gab diesen inspirierten Hinweis in seiner Gnade, bevor das schreckliche Gericht im Jahr 70 n.Ch. über Jerusalem kam. Damit verhinderte Er, dass die Christen weiterhin Verbindung mit dem dortigen Tempel hatten. Die Gnade forderte sie dazu auf, sich vom Judentum abzusondern, bevor sein Regierungshandeln über dessen Hauptsitz kam. Dieser Aufruf der Gnade, aus dem „Lager“ hinauszugehen, bevor die Demonstration seiner Regierungsmacht eintritt, ist seitdem für alle gläubig gewordenen Juden die Richtschnur.

Dass die messianischen Juden auf die Praxis der gläubigen Juden aus der Zeit vor dem Hebräerbrief verweisen, um zu rechtfertigen, dass sie die Gebote des Judentums halten, steht dem Wort Gottes entgegen. Die Geduld Gottes, die Er bis zum Hebräerbrief denen gegenüber erwies, die aus einem System kamen, das einst von Ihm anerkannt wurde, darf nicht missbraucht werden, um zu rechtfertigen, dass man sich fortdauernd an dessen Regeln hält.

Mit dem Hebräerbrief gibt es eine klare Anweisung aus dem Wort Gottes bezüglich des Judentums. Weiterhin haben wir Gottes Gericht gegen den Sitz des Judentums als deutliches Zeichen. Folglich steht das messianische Judentum im Widerspruch zu Gottes Wort und zu seinem Regierungshandeln. Messianisches Judentum ist ein von Menschen gemachtes System, das dem Wort Gottes entgegensteht und hebräische (ethnisch gesehen) Gläubige judaisiert.

Das Wort Gottes zeigt deutlich, dass das Argument des messianischen Judentums – „Man kann einen Juden nicht judaisieren“ – falsch ist. Denn genau das passiert im messianischen Judentum.

Das messianische Judentum ist sehr weit davon entfernt, einfach nur ein „schwacher Bruder“ im Sinn von Römer 14 zu sein. Ein solcher „schwacher Bruder“ ist ein jüdischer Gläubiger in der Versammlung, der in der christlichen Freiheit nicht feststeht und Gewissensbisse in Hinblick auf eine jüdische Regel hat. Das messianische Judentum hingegen ist ein entzweiendes System. Es gibt vor, dass es besondere geistliche Segnungen und Werte für gläubige Juden gibt, die Gläubige aus den Heiden nicht besitzen. Außerdem fordert es, dass alle gläubigen Juden diesem System untertan werden.

William Kelly hat eine sehr hilfreiche Abhandlung darüber geschrieben, wie die Wege Gottes in der Entscheidung des Paulus sichtbar werden. Wir können aus dieser Abhandlung vieles lernen. Kelly hält als Erstes die Gedanken der jüdischen Gläubigen in Jerusalem fest:

„Du siehst, Bruder, wie viele Tausende es unter den Juden gibt, die gläubig geworden sind, und alle sind Eiferer für das Gesetz. Es ist ihnen aber über dich berichtet worden, dass du alle Juden, die unter den Nationen sind, Abfall von Mose lehrst und sagst, sie sollen die Kinder nicht beschneiden noch nach den Gebräuchen wandeln“ (Apg 21,20.21). Dies stimmte nicht; denn der Apostel handelte nicht so.

In Wirklichkeit lehrte Paulus, dass es unangebracht sei, die Nichtjuden unter das Gesetz zu stellen. Zu jener Zeit mischte er sich nicht in jüdische Angelegenheiten. Später kam vom Heiligen Geist eine andere, diesmal endgültige Botschaft. Doch der Herr führte die Juden schrittweise weiter. Ich halte seine Verfahrensweise mit seinem alten Volk auch für uns von Bedeutung, so dass wir sie lernen und nachahmen sollten. Es stimmt natürlich vollkommen, dass Gott in seinem Herzen hatte, zur rechten Zeit sowohl die Befreiung der Juden als auch der Nichtjuden vom Gesetz gänzlich herauszustellen. Das geschah jedoch nicht auf einmal – auf jeden Fall nicht in Bezug auf die Juden. Wogegen sich der Apostel nachdrücklich wehrte, war der Versuch, die Nichtjuden unter das Gesetz zu bringen; und gerade dieses Ziel wurde von den Brüdern, die von den Pharisäern kamen, mit Eifer verfolgt. Seien es judaisierende Christen, seien es die Nichtjuden selbst – wenn sie die Erfüllung des Gesetzes auf sich nahmen, trat der Apostel ihnen entschlossen entgegen, um den verhängnisvollen Irrtum zurückzuweisen und zu verurteilen. In Bezug auf die Juden selbst finden wir echte Langmut. Diese entströmte jedoch nicht allein einer kennzeichnenden Herzensgröße, sondern vor allem einer zarten Rücksichtnahme auf ihre überängstlichen Gewissen. Solange Gott das abschließende Wort noch nicht gesandt hatte, um ihnen mitzuteilen, dass der alte Bund im Begriff stand zu verschwinden, wie konnte er, der seinem Herrn so nah auf seinen Wegen folgte, voreilig sein? Diese frühen Tage waren wirklich Tage des Übergangs, an denen Christus zuerst den Juden und dann den Nichtjuden verkündigt wurde. Für Letztere, die nie unter dem Gesetz standen, war es viel einfacher als für die Juden, die Freiheit des Evangeliums zu schätzen. Der Jude mit seinen Vorurteilen wurde so lange ertragen, bis die abschließende Botschaft von Gott kam, welche ihn vor der Gefahr des Abfalls vom Evangelium durch sein Festhalten am Gesetz warnte.

Da ich mich mit diesem Thema schon beim Überblick über den Hebräerbrief beschäftigt habe, besteht umso weniger Anlass, mehr darüber zu sagen. Aber jener Brief war für die hebräischen Gläubigen der letzte Trompetenruf, jede Verbindung mit dem alten System abzubrechen. Bis in jene Tage geschah ein schrittweiser Übergang, indem sich der Spalt immer mehr auftat und der Unterschied immer offensichtlicher wurde. Dennoch wurde vor diesem letzten Ruf nicht jedes Band zerrissen. Eine solche Handlungsweise beeindruckt mich als unseres Gottes würdig – eine Handlungsweise, die unserem überstürzenden Wesen schwierig erscheint, da wir gewohnt sind, als Nichtjuden zu denken. Denn seitdem wir die Wahrheit Gottes immer besser verstehen, erkennen wir das große Unheil, welches entsteht, wenn das Gesetz eingeführt und mit dem Evangelium vermischt wird.

Erinnern wir uns also daran, dass der Heilige Geist stets an der Freiheit für die Nichtjuden festhielt, während es unzweifelhaft eine Zeitspanne der Rücksichtnahme auf die Juden gab. Sogar der Apostel Paulus war darin keine Ausnahme, indem er mit ihren Vorurteilen Geduld hatte. Die übrigen zwölf Apostel scheinen nur sehr langsam in diese Freiheit vom Gesetz eingedrungen zu sein. Zweifellos erfasste Paulus als Apostel der Nichtjuden diese Wahrheit in ganz anderer Weise und in einem viel größeren Umfang, denn er war vom Himmel aus von einem auferstandenen Jesus berufen worden und Zeuge einer besonderen Gnade. Wir werden jedoch finden, dass selbst er in großem Maß warm mit den Gefühlen eines Juden empfinden konnte. Er ist derjenige, dem wir unter Gottes Leitung für die Kenntnis aller Wahrheiten des Christentums in ihrer ganzen Gestalt und wahren Kraft verpflichtet sind. Trotzdem ist offensichtlich, dass er trotz allem, wenn schon nicht jüdische Vorurteile, so doch sicherlich die wärmsten jüdischen Zuneigungen zeigte. Tatsächlich war es ja gerade die Stärke seiner Gefühle für das alte Volk Gottes, welche ihn in die Schwierigkeiten führte, die in den letzten Kapiteln dieses Buches, der Apostelgeschichte, geschildert werden.

Wir müssen uns auch daran erinnern, dass sein Verhalten in einem gewissen Maß eine Antwort auf die Liebe war, die wir auch in unserem gesegneten Herrn selbst finden. Doch es gibt auch auffallende Unterschiede. Bei unserem Herrn war seine Liebe zu Israel, wie in allen Dingen, vollkommen. Bei Ihm gab es nicht die geringste Beimischung von irgendetwas Tadelnswertem; denn das konnte nicht sein. Wir wissen gut, wie anstößig schon die Spur eines Gedankens in diese Richtung für unseren Glauben und unsere Liebe zu Ihm ist. Für einen Christen ist es unmöglich, nur einen Augenblick daran zu denken. Indessen wissen wir, dass seine Liebe für jenes Volk bis zum Letzten gefühlt und zum Ausdruck gebracht wurde. Seine beharrliche Liebe führte Ihn in die Umstände seiner völligen Verwerfung, als Gottes Zeit gekommen war; und Er ertrug all die Folgen ihres Hasses. (Allerdings ging sein Leiden in der Sühne unendlich weiter; und diese war ausschließlich sein Teil.) Auch der Apostel wusste, was es heißt, Israel zu lieben und für diese Liebe zu leiden. Es galt nicht nur in Bezug auf die Nichtjuden, sondern unter allen Erlösten, dass er umso weniger geliebt wurde, je mehr er liebte. Dem war wirklich so. Aber wenn dies im Allgemeinen zutraf, dann ganz bestimmt in Hinsicht auf die Juden. So steht die wunderbare Tatsache in der Geschichte des Apostel Paulus’ fest: Der Mann, der das wahre Wesen der Kirche (Versammlung) am deutlichsten offenbart hat und ihren himmlischen Charakter wie niemand sonst aufzeigte – der Mann, welcher die bedingungslose Beseitigung der alten Bande und Beziehungen unter Beweis stellte, weil in einem erhöhten Christus zur Rechten Gottes alles dies beiseitegesetzt ist – gerade er ist der Mann, dessen Herz die festesten Zuneigungen der Liebe zum alten Volk Gottes festhielt. Ich habe daher nicht den geringsten Zweifel, dass Gott uns an diesem Beispiel eine ernste, aber gnädige Warnung vor dieser Gefahr geben will. Handelte es sich auch um einen Apostel, sogar den größten der Apostel – dennoch war Paulus nicht Christus. Was in Christus nur absolute Vollkommenheit sein konnte und auch war, war es in Paulus nicht. Und doch war Paulus ein Mensch, der alle, die seit jenen Tagen gelebt haben, in den Schatten stellt.

Falls ich meine gegenwärtigen Empfindungen zum Ausdruck bringen darf, dann möchte ich sagen, dass nichts für meinen Geist eine größere Übung darstellt, als dieses Thema zu berühren. Wenn ich diese Dinge erwähne, fürchte ich mich außerordentlich davor, ich könnte den Eindruck erwecken, über einen solchen Knecht Christi zu urteilen. Doch Gott hat die Geschichte all dieser Umstände niederschreiben lassen; und Er hat es wohl keineswegs getan, damit wir es gefühlsbetont stillschweigend übergehen, sondern vielmehr zur Verkündigung und zum allgemeinen Nutzen. Er hat es zweifellos auch mitgeteilt, damit wir unser eigenes großes Zukurzkommen fühlen und unseren Geist hüten, sich auf den Platz eines Richters zu setzen, um jemanden wie den großen Apostel der Nationen zu verurteilen.

Dennoch muss ich wiederholen, dass der Heilige Geist hier auf der einen Seite von seinen Warnungen berichtet und, falls ich es wagen darf, so zu reden, auf der anderen von der Weigerung des Apostels, entsprechend zu handeln, auch wenn dieses Verhalten durch die Fülle zarter Liebe und eine stets brennende Zuneigung zu seinen Brüdern nach dem Fleisch hervorgerufen wurde. Ach, wenn wir an unsere Fehler denken; wenn wir uns vergegenwärtigen, aus welch wenig lieblichen Quellen sie entspringen; wenn wir uns daran erinnern, wie sehr sie mit Weltlichkeit, Ungeduld, Stolz, Eitelkeit und dem Ich vermischt sind; wenn wir sehen, wie Paulus so tiefgehend gezüchtigt wurde und ihm ein solch trauriges „Halt!“ in seinem weltweiten Werk, das Gott ihm gegeben hatte, zugerufen wird – in welchem Licht erscheinen dann unsere Fehler! Er stand unter einem Druck der Versuchung, den nur wenige außer ihm jemals kannten. Und was ihm alles noch bitterer machte: Diese Züchtigungen waren eine natürliche Folge seiner Missachtung der Warnungen des Geistes Gottes, indem er sich mit nicht endender Liebe einem Volk hingab, aus dem er letztlich durch die Wirksamkeit Gottes für das Werk, das der Herr ihm übertragen hatte, abgesondert worden war. Gott hat uns diesen Bericht gegeben. Welche Gefühle uns auch immer erfüllen – können wir bezweifeln, dass wir verpflichtet sind, ihn zu lesen und durch die Gnade zu verstehen lernen? Ja, nicht nur das, mögen wir ihn auch zum gegenwärtigen Segen unserer Seelen und zu einem Fortschreiten auf dem Pfad Christi hienieden, welcherart er auch sei, nutzen! Unser Wirkkreis mag so klein sein wie möglich. Trotzdem ist ein Heiliger ein Heiliger und in den Augen Gottes sehr teuer, welcher sich in dem Geringsten verherrlichen möchte, der sein Eigentum ist.

Es ist sicherlich für uns zum Nutzen und zur Verherrlichung Gottes, wenn der Heilige Geist uns diesen bemerkenswerten Anhang zur Geschichte – der fortschreitenden Geschichte – dieses Bibelbuches geschrieben hat. Hier haben wir einen äußerlichen Stillstand, der neue Dinge vorstellt als Frucht des Beharrens darauf, den Weg nach Jerusalem fortzusetzen, trotz des abmahnenden Zeugnisses des Geistes. Je gesegneter der Mann, desto ernster ist das Verlassen eines festen Standpunkts! Paulus begab sich einen Schritt weg von dem Weg, den der Heilige Geist ihm aufgetragen hatte, wie sehr dieses Abweichen auch mit Schönem und Lieblichem vermischt war. Gleichzeitig stand er nicht auf der Höhe einer Leitung durch den Geist Gottes. Das setzte den Apostel, wie es immer geschieht, einer größeren Gefahr aus, und zwar umso mehr, weil es ein Mensch war wie Paulus. Denselben Grundsatz erkennen wir eindeutig auch im Leben Davids. Der Mangel an Energie, der vielleicht bei jedem anderen verhältnismäßig wenig Schaden angerichtet hätte, wurde für David zum größten Fallstrick. Nachdem er so den Weg des Herrn verlassen hatte, glitt er bald in die Netze des Teufels. Damit möchte ich keineswegs Paulus in dieser Angelegenheit mit David auf einen Boden stellen. Weit davon entfernt! Tatsächlich wurde in seinem Fall der Apostel barmherzig vor allem bewahrt, was der Verderbnis der menschlichen Natur die geringste Wirksamkeit erlaubte. Er zeigte, so wie es mir aussieht, einfach einen Mangel an Wachsamkeit gegen seine natürliche Liebe zu Israel und missachtete folglich die Warnungen des Geistes. Die Tränen und ernsten Vorstellungen scheinen sein Verlangen nur noch mehr angeregt und verstärkt zu haben. Das setzte ihn einer nicht unmoralischen, sondern religiösen Schlinge aus, indem er auf andere hörte, die eigentlich weniger geistliches Verständnis hatten als er. Er nahm den Rat des Jakobus an.

„Was ist es nun? Jedenfalls muss eine Menge zusammenkommen, denn sie werden hören, dass du gekommen bist. Tu nun dies, was wir dir sagen: Wir haben vier Männer, die ein Gelübde auf sich haben. Diese nimm zu dir, reinige dich mit ihnen und trage die Kosten für sie, damit sie das Haupt scheren lassen können“ – in was für einer Lage befand sich der Apostel hier! –; „und alle werden erkennen, dass nichts an dem ist, was ihnen über dich berichtet worden ist“ (Apg 21,22-24). Ich behaupte nicht, dass es in Paulus’ bisheriger Geschichte nichts gab, das diesem vergleichbar wäre (vgl. Apg 18,18). Doch ging es hier offensichtlich darum, dem Apostel den Anschein eines sehr guten Juden zu geben. War dies vertretbar? War es die ganze Wahrheit? War Paulus nicht ein etwas zweideutiger Jude? Ich glaube, wie wir schon gesehen haben, dass in ihm noch eine gewisse verborgene Ehrfurcht vor dem wirkte, was einst von Gott eingesetzt worden war; und genau darin sehen wir den Unterschied zu den vollkommenen Wegen unseres gesegneten Herrn. Bis zum Kreuz hatte, wie wir wissen, die Haushaltung des Gesetzes (oder der erste Bund) die Zustimmung Gottes. Nach dem Kreuz war sie grundsätzlich gerichtet. Der Apostel hatte dies bestimmt durchdacht und in seinen Konsequenzen abgeschätzt. Kein Mensch musste ihm die Wahrheit zeigen. Gleichzeitig war seine Erkenntnis nicht wenig mit Liebe zu seinem Volk durchmischt. Wir wissen sehr gut, wie sehr eine solche Liebe jene Einfalt des Auges stört, welche die Sicherheit eines jeden Christen garantiert.

Der Apostel hörte also auf seine Brüder in einer Angelegenheit, zu deren gesunder Beurteilung er unvergleichlich sachkundiger war als sie. So musste er auch die Folgen tragen.[1]


Originaltitel: „Paul following the Jewish Advice“
„Part 4: Messianic Jews in the Book of Acts“
aus Elements of Dispensational Truths 3, 2007; S. 166–171 

Übersetzung: Philipp-Richard Schulz

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Anmerkungen

[1] W. Kelly, Lectures Introductory to the Study of the Acts, The Catholic Epistles and the Revelation, S. 147–155. Deutsche Übersetzung: Einführende Vorträge zur Apostelgeschichte,  Auszug zum Kommentar zu Kapitel 21. Quelle: www.bibelkommentare.de.


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