Ist der Herr Jesus „unser König“?

Stephan Isenberg

© SoundWords, online seit: 14.12.2017, aktualisiert: 17.09.2023

Einleitung

Da in vielen Liedern der Herr Jesus als König besungen wird, wollen wir uns in diesem Artikel damit beschäftigen, ob der Herr Jesus „unser König“ ist. Denn hinter diesen Liedern steckt sehr oft eine ganze theologische Ausrichtung, was vielen überhaupt nicht bewusst ist. Es handelt sich hierbei um die sogenannte Königreichstheologie (Dominion Theology).

Dieser Theologie zufolge soll eine neue Generation von Gläubigen entstehen, die mit übernatürlichen Kräften ausgestattet ist und jeden Widerstand gegen das Evangelium überwinden wird. Alle Nationen würden so für das Evangelium gewonnen. Ist das erreicht, so wäre der Zeitpunkt gekommen, dass Christus wiederkommen könnte. Die Gläubigen würden Ihm dann das Königreich übergeben.

Die Königslieder werden sehr oft eigens für die sogenannten Jesus-Märsche geschrieben. Der Herr Jesus soll überall als König proklamiert werden. Nach dieser Theologie wird der Herr Jesus erst dann wiederkommen, wenn alles auf der Erde Ihm unterworfen ist. Er nimmt dann quasi das Königreich aus unserer Hand entgegen. Dass darin eine ganze Portion Übermut und Hochmut steckt, braucht nicht besonders erwähnt zu werden.

Wenn wir es erlauben, dass die Königslieder in unsere Liederbücher aufgenommen werden, dann erweist sich diese Maßnahme früher oder später als ein trojanisches Pferd. Bereits heute stammen selbst in Liederbüchern der sogenannten Brüderbewegung mehr als 30 Prozent der Lieder der charismatischen Bewegung. Dabei dienen die Königslieder mehr oder weniger als „Einstiegsdroge“. Sind diese Gedanken einmal erfolgreich installiert, kommt der nächste Schritt. Auf vielen Jugendtagen und Konferenzen, auch in Kreisen der sogenannten Brüderbewegung, hat sich inzwischen der charismatische Lobpreis mit lautstarker Musik, Lichteffekten und Nebelanlagen durchgesetzt.

Deshalb wollen wir uns etwas Zeit auch für dieses scheinbare Nebenthema nehmen. Wenn wir diesen Punkt gut verstehen, werden wir auf die falsche Anbetung charismatischer Kreise nicht hereinfallen.

Der Herr Jesus ist König. Es ist und bleibt etwas ganz Besonderes, wenn man sich mit dem Wesen und der Person unseres Herrn beschäftigt. Es passiert so leicht, dass wir es manchmal nur aus rein theologischem Interesse tun und dabei vergessen, mit wem wir es zu tun haben. Er muss stets der „König unserer Herzen“ sein, wie es in einem Lied heißt. Ihm sollen unsere Zuneigungen und Empfindungen gelten, vor Ihm wollen wir uns in Ehrfurcht verneigen. Der Herr Jesus stellt sich auf so viele verschiedene Arten und Weisen vor unsere Herzen, dass eine einzige Art, Ihn zu beschreiben, nicht ausreicht.

Der Herr Jesus ist König

Es ist keine Frage: Der Herr Jesus ist der „König der Könige und Herr der Herren“ (Off 17,14; 19,16; 1Tim 6,15). Im Alten Testament wurde ein „König der Herrlichkeit“ angekündigt (Ps 24,7), doch insbesondere ging es um den Sohn Davids, der den Königsthron über Israel innehaben sollte (Jer 23,5). Als der Herr Jesus geboren war, sorgte Gott dafür, dass Ihm Menschen aus den Nationen königliche Ehre brachten, auch wenn die Reaktion in Jerusalem nur Bestürzung war, als sie fragten: „Wo ist der König der Juden, der geboren worden ist?“ (Mt 2,2.11). Der Herr Jesus selbst bezeugt auch das „gute Bekenntnis vor Pilatus“ (1Tim 6,13): „Du sagst es, dass ich ein König bin“ (Joh 18,37). Als der Herr Jesus auf einem Fohlen sitzend in Jerusalem einzog, erfüllte sich die Schrift: „Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig und auf einer Eselin reitend, und zwar auf einem Fohlen, einem Jungen des Lasttiers“ (Mt 21,5; vgl. Sach 9,9). Gott sorgte auch dafür, dass entgegen dem Willen der jüdischen Führer die Aufschrift auf dem Kreuz hieß: „Dieser ist der König der Juden“ (Lk 23,38).

Doch der König wurde von seinem Volk Israel verworfen und ans Kreuz gebracht. Der Herr Jesus sagt: „Jetzt aber ist mein Reich nicht von hier“ (Joh 18,36). Das Gebiet, in dem Er jetzt anerkannt würde, würde im Himmel sein. Doch auch auf der Erde sollte es ein Reich geben. In Matthäus 13 spricht der Herr Jesus davon, dass es ein Königreich auf der Erde in einem geheimnisvollen Charakter geben würde. Das angekündigte sichtbare Friedensreich sollte vorläufig nicht kommen, dafür sollte es ein Reich Gottes mit einem unsichtbaren Charakter geben (vgl. Mt 13,11). In der heutigen Zeit besteht das Reich Gottes nicht in materiellen Dingen wie im Friedensreich – nicht Essen und Trinken –, sondern es besteht in „Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Röm 14,17). Momentan gibt es auf der Erde auch keinen sichtbaren König in diesem Reich. Die Untertanen sollten zu diesem unsichtbaren, geistlichen Reich auf der Erde gehören. Davon sprechen die zehn Gleichnisse vom Reich der Himmel in Matthäus 13–25 sehr deutlich. Es gibt also auch heute einen Bereich, wo man sich auf die Seite dessen stellen kann, der hier auf der Erde als König verworfen wurde, und wo man sich gerne seinen Geboten und Satzungen unterwirft. 

Der Herr Jesus wird in Zukunft König sein

Wir wollen es tief ins Herz fassen, dass das sichtbare Königreich über Israel in der Zukunft liegt. So fragten die Jünger den Herrn nach der Auferstehung: „Herr, stellst du in dieser Zeit für Israel das Reich wieder her? Er sprach aber zu ihnen: Es ist nicht eure Sache, Zeiten oder Zeitpunkte zu wissen, die der Vater in seine eigene Gewalt gesetzt hat“ (Apg 1,6.7). Und der Apostel Petrus sagt später: „… damit Zeiten der Erquickung kommen vom Angesicht des Herrn und er den euch zuvorbestimmten Christus Jesus sende, den freilich der Himmel aufnehmen muss bis zu den Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge, von denen Gott durch den Mund seiner heiligen Propheten von jeher geredet hat“ (Apg 3,20.21). Das Königreich sollte also noch kommen; das heißt, die Gemeinde hat Israel nicht ersetzt, sondern ist ein Einschub in den Wegen Gottes mit Israel. Deshalb müssen wir uns heute – vor allen Dingen anhand der neutestamentlichen Briefe – die Frage stellen: In welcher Beziehung stehen wir zu dem König und dem damit verbundenen Reich, von dem Gott „durch den Mund seiner heiligen Propheten von jeher geredet hat“?

Unsere Beziehung zum verworfenen König

Diese Frage scheint für viele schnell erledigt zu sein, und für sie steht es außer Frage: Der Herr Jesus ist auch mein König. Ich diene dem König. – Die Evangelien sprechen von dem Reich Gottes, und eigentlich können wir dort immer auch mit „Königreich Gottes“ übersetzen. Wenn wir es also mit einem Königreich zu tun haben, dann muss es auch einen König geben, so die Schlussfolgerung, und dieser König ist Jesus Christus, geht die Schlussfolgerung weiter. Ich bin in diesem Reich, also ist Jesus mein König. Und wenn Er mein König ist, dann sollte ich Ihn auch so anreden.

Die Frage ist natürlich, ob diese Schlussfolgerungen wirklich so selbstverständlich sind, wie sie scheinen. Gehen wir einmal die Schlussfolgerungen der Reihe nach durch:

  1. Es gibt ein Königreich, also gibt es auch einen König.
    Wir lesen in Lukas 19,12: „Ein gewisser hochgeborener Mann zog in ein fernes Land, um ein Reich für sich zu empfangen und wiederzukommen.“ Offensichtlich gab es demnach ein Reich, das noch keinen König hatte. Es ist also nicht zwingend, dass, nur weil es ein Königreich gibt, Christus auch bereits heute der König dieses Reiches sein muss. Wir sagen nicht, dass Er es nicht wäre, sondern dass wir das nicht wie selbstverständlich schlussfolgern können.

  2. Wenn es einen König gibt, dann ist es Jesus Christus.
    Hier ist es nun interessant, dass wir zwar häufig von dem Reich Gottes und auch von dem Reich der Himmel lesen, aber nie vom Reich Jesu oder vom Reich Jesu Christi.[1] In Apostelgeschichte 8,12 wird das sogar getrennt: „Als sie aber Philippus glaubten, der das Evangelium von dem Reich Gottes und dem Namen Jesu Christi verkündigte …“ Der Begriff „Reich Gottes“ drückt  aus, dass Gott hier regiert, und der Begriff „Reich der Himmel“ drückt aus, dass dieses Reich vom Himmel regiert wird oder dass, wie Daniel es ausdrückt, „die Himmel herrschen“ (Dan 4,23).

  3. Wenn ich in dem Reich bin, in dem Jesus Christus König ist, dann ist Er auch mein König.
    Selbst wenn ich in solch einem Reich bin, muss ich mich doch fragen, ob ich im Dienst des Königs stehe oder ob ich in einer anderen Beziehung zu diesem König stehe. Es gibt in jedem Königshaus verschiedene Beziehungen: Es gibt das gemeine Volk, die Diener, die Königsfamilie, ja es gibt sogar Diplomaten aus anderen Ländern. Alle diese Gruppen stehen in unterschiedlicher Beziehung zum König und haben verschiedene Vorrechte, aber auch Gemeinsamkeiten. So müssen die Königskinder, die Diener und auch das gemeine Volk auf die Verordnungen des Königs hören, die Diplomaten jedoch nicht.

  4. Wenn Jesus Christus mein König ist, dann sollte ich Ihn auch so ansprechen.
    In der Ansprache wird es sicherlich Unterschiede geben: Das gemeine Volk und die Diener werden den König mit „mein König“ ansprechen, und die Königskinder werden wohl eher „Papa“ oder „Vater“ sagen. Die Diplomaten werden wohl nur von dem König dieses oder jenes Landes sprechen. Dieses Beispiel soll lediglich zeigen, dass es Unterschiede gibt und wir nicht zu schnell schlussfolgern dürfen: Wenn der Herr Jesus König ist, dann ist Er auch „unser“ bzw. „mein“ König. Viele sind der Meinung, dass man dem Herrn eine besondere Ehre erteile, wenn wir Ihn mit „mein König“ ansprechen. Aber auch hier muss man sich fragen, ob zum Beispiel ein Vater, der in einer Firma ein Direktor ist, von seinem Sohn gern als „Herr Direktor“ angesprochen werden möchte. 

Wir wollen weiter das Wort Gottes befragen, in welche Beziehung wir zu dem König Jesus gekommen sind. Diese Untersuchung ist durchaus spannend und wird etwas offenbar machen, was wir vielleicht nicht erwartet hätten. Wir wären sicherlich alle damit zufrieden gewesen, einen Stehplatz in den Vorhöfen des Königshauses einzunehmen (vgl. Ps 84,11) und uns vor dem König Jesus zu verbeugen. Wir wollen uns, nebenbei gesagt, natürlich vor dem Herrn Jesus verbeugen, aber am Ende dieses Artikels vielleicht/hoffentlich aus einem anderen Grund.

Die Anrede des Herrn im Neuen Testamentes

Es ist überraschend, dass kein neutestamentlicher Schreiber den Herrn Jesus als König anredet. Selbst seine eigenen Jünger, die das buchstäbliche Königreich erwarteten, reden Ihn nie als König an. Kein Gebet richtet sich an den König, stets wird von Jesus als dem Herrn geredet. Die Apostelgeschichte ist das früheste Zeugnis von Christen und dort finden wir, dass der Apostel Paulus zum Gefängniswärter sagt: „Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst errettet werden, du und dein Haus“ (Apg 16,31). Sie legten Zeugnis „von der Auferstehung des Herrn Jesus ab“ (Apg 4,33); sie wurden auf den „Namen des Herrn Jesus“ getauft“ (Apg 8,16), und es wurde das „Evangelium von dem Herrn Jesus verkündigt“ (Apg 11,20). Man gab sein Leben nicht für den König, sondern „für den Namen unseres Herrn Jesus Christus“ (Apg 15,26). Es wurde auch nicht der König erhoben, sondern „Furcht fiel auf sie alle, und der Name des Herrn Jesus wurde erhoben“ (Apg 19,17). Man empfing auch seinen Dienst nicht von dem König, sondern „von dem Herrn Jesus“ (Apg 20,24).

Nachdem der Herr Jesus von seinem irdischen Volk verworfen worden war, sprach Er, auf das Bekenntnis des Petrus „Du bist der Sohn des lebendigen Gottes“, davon, seine Versammlung zu bauen. Nicht nur trug der Herr Jesus die Sünden für all jene Menschen, die einmal an Ihn glauben würden, sondern Er hat die Versammlung oder Gemeinde so sehr geliebt, dass Er sich selbst für sie hingegeben hat (Eph 5,25). Durch das Herabkommen des Heiligen Geistes wurde eine ganz neue Gesellschaft von Menschen geschaffen, ein völlig neuer Mensch (vgl. Eph 2,10-18): „In einem Geist sind wir alle zu einem Leib getauft worden, es seien Juden oder Griechen, es seien Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt worden“ (1Kor 12,13). Später erschien der Herr Jesus dem Apostel Paulus und offenbarte ihm ein Geheimnis, das Gott vor ewigen Zeiten in seinem Herzen hatte (vgl. Apg 26,16; Eph 3).

Wir leben also heute in der Zeit, in der Gott ein Geheimnis offenbart hat, und diese Zeit wird so lange andauern, bis Christus wiederkehrt und sich dem irdischen Volk Israel wieder zuwenden wird und ihnen alle Verheißungen erfüllt, die Gott ihnen im Alten Testament verheißen hat (vgl. Apg 3,19-21; Röm 11,29). Wir sind Bestandteil einer ganz anderen und besonderen Zeit, die im Alten Testament nicht angekündigt wurde. Deshalb verwundert es auch überhaupt nicht, dass wir als Kinder Gottes heute in eine andere Beziehung zum verworfenen König gekommen sind, als es die Israeliten für sich erwartet hatten. Sicher hat Jesus Christus einen Anspruch auch an uns, aber dann ist es als Herr und nicht als König.

Wir haben oben gesehen, dass es jetzt eine völlig neue Gesellschaft von Menschen gibt, die als Gemeinde, Versammlung oder Kirche bezeichnet wird. Diese Gemeinschaft ist der Leib Christi, und sie ist so eng mit Christus verbunden, dass wir als seine Glieder bezeichnet werden. Durch die Glieder seines Leibes nimmt Er in dieser Welt Gestalt an. Obwohl Christus abwesend ist, wird Er doch durch seinen Leib auf der Erde repräsentiert. Um unsere Nähe zu Christus näher zu beschreiben, spricht der Apostel Paulus in Epheser 5 davon, dass die Männer ihre Frauen lieben sollen, wie Christus die Versammlung geliebt hat. Wir sind nicht nur eng mit Christus verbunden worden, sondern sind, wie wir schon gesehen haben, in eine Liebesbeziehung hineingekommen, wo unsere Zuneigungen unserem himmlischen Bräutigam gelten. Diese Verbindung mit Christus hat uns in die unmittelbare Nähe des Vaters gebracht. Weil Christus dort beim Vater ist, haben wir ebenfalls diese Nähe zum Vater, so dass wir sogar „Abba, Vater“ sagen dürfen (vgl. Röm 8,15; Gal 4,6). Ebenso haben wir freien Eintritt ins Heiligtum und sind „durch das Blut des Christus nahe geworden“ (Eph 2,13-18). Diese Nähe gab es im Alten Testament nicht und wird es auch im zukünftigen Friedensreich nicht geben, wie uns der Prophet Hesekiel deutlich macht (vgl. Hes 40–48). 

Auf der gleichen Linie wie die „Königsproblematik“ liegt übrigens die Problematik des neuen Bundes. Auch hier sagen viele, dass der neue Bund mit der Gemeinde geschlossen worden sei. Nur sagt dies das Neue Testament an keiner Stelle. Im Gegenteil: In Hebräer 8,6-13 wird bestätigt, dass der neue Bund dem Haus Israel gilt. Man sieht nicht, dass es für den neuen Bund zwei Parteien gibt: Gott und Israel. Wo sind wir als Gemeinde bei diesen beiden Parteien? Wir stehen nicht auf der Seite Gottes und auch nicht auf der Seite Israels. Dennoch haben wir Christen ebenfalls mit dem neuen Bund zu tun. Warum? Weil wir mit dem Mittler und dem Bürgen des neuen Bundes auf das Innigste verbunden sind, und wir haben in der Weise mit dem neuen Bund zu tun, wie auch Christus damit zu tun hat. Wir sind sein Leib! Aber wir sind eben nicht Bundespartei. Wir stehen also in einem ganz anderen Beziehungsverhältnis als Israel an dem zukünftigen Tag.

Eine himmlische Gesellschaft

Hatte Israel noch unzählige Verheißungen, die mit der Erde verbunden waren, so ist die neue Gesellschaft von Menschen mit dem Himmel verbunden: Sie haben eine „Hoffnung, die für sie aufgehoben ist in den Himmeln“ (Kol 1,5); ihr „Bürgertum ist in den Himmeln“ (Phil 3,20); auf der Erde gibt es für sie keine Schätze (vgl. Mt 6,20); als Fremdlinge und ohne Bürgerrecht (1Pet 2,11) sind sie nicht von dieser Welt (Joh 8,23), und nach dem Willen des Vaters sind sie „herausgenommen aus der gegenwärtigen bösen Welt“ (Gal 1,4). Hier gibt es keinerlei Kontinuität zum Alten Testament. Der Unterschied zu einem alttestamentlichen Gläubigen könnte in dieser Hinsicht nicht größer sein, obwohl es auch hier gewisse Hinweise gibt, dass auch schon die Patriarchen nach einer himmlischen Wohnstätte ausschauten (vgl. Heb 11), wenn es auch nicht ihre spezielle Berufung war. So genießen wir heute auch bestimmte irdische Segnungen, obwohl sie nicht unsere spezielle Berufung sind (z.B. die Ehe).

Wenn wir diese Zusammenhänge gut beachten, dann werden wir mehr und mehr verstehen, warum die ersten Christen nicht von ihrem König, sondern von ihrem Herrn gesprochen haben. Das geschah nicht aus Respektlosigkeit, sondern aus der Einsicht ihrer besonderen Beziehung zum Herrn Jesus.

Der Gedanke eines Königs enthält immer (1) eine Distanz zu seinem Volk und (2) abgestufte Ränge, die alle ihren Platz und ihr besonderes jeweiliges Maß an Nähe oder Entfernung haben; das beinhaltet dann wieder unterschiedliche Beziehungen dieser Gruppen untereinander. Der Geist Gottes hat sich jedoch bemüht – insbesondere in Epheser 2 und 3 – klarzumachen, dass wir sowohl zu dem Herrn als auch zu Gott dem Vater in eine Nähe gekommen sind, die nicht mehr zu übertreffen ist, und dass es darüber hinaus jetzt auch keine Vorzüge irgendeiner Gruppe gibt. Selbst der größte Unterschied – der zwischen Juden und Nationen – ist komplett beseitigt. Alle haben die gleichen Segnungen, alle die gleiche Nähe. Wenn wir also den Herrn als unseren König sehen und anreden, so handeln wir den Bemühungen des Geistes Gottes, uns unsere eigentlichen christlichen Segnungen groß zu machen, völlig entgegen.

Die ersten Christen verstanden unterdessen sehr gut, dass sie dennoch im Herrschaftsgebiet des Reiches Gottes ihren Weg hatten, wenn der Apostel Paulus schreibt: „Diese allein sind Mitarbeiter am Reich Gottes, die mir ein Trost gewesen sind“ (Kol 4,11), oder wenn der Apostel Johannes von Patmos schreibt: „Ich, Johannes, euer Bruder und Mitgenosse in der Drangsal und dem Königtum und dem Ausharren in Jesus …“ (Off 1,9).

Wer die Belehrung des Apostels Paulus gut verinnerlicht hat, der hat verstanden: In der „Verwaltung der Fülle der Zeit“ (Eph 1,10), womit das zukünftige Tausendjährige Friedensreich gemeint ist, wird der Herr Jesus das Haupt über alles im Himmel und auf der Erde sein: Ihm wird alles unterworfen sein. Und nun folgt die unfassbare Belehrung des Apostels: Die Versammlung zu dieser Zeit ist nicht nur davon ausgenommen, sie ist sogar „die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt“ (Eph 1,21-23). Wenn Christus seine Herrschaft antreten wird, dann wird die Versammlung mit Ihm als sein Leib verbunden sein. Sie wird die Braut an seiner Seite sein. Er wird sich die Gemeinde „verherrlicht darstellen“ (Eph 5,27), sie wird seine Herrlichkeit widerspiegeln (Off 21,10.11). Seine innersten Empfindungen und Zuneigungen gehören seiner Braut, die sein Herz bewegt. Sollte das nicht auch unser Herz dazu bewegen, den Herrn so anzureden, wie es dieser Nähe gerecht wird?

Und auch individuell ist Er nicht „mein König“, sondern mein Herr. Welch eine tiefe Nähe drückt Paulus aus, wenn er in Philipper 3,8 von „meinem Herrn“ schreibt, und welch eine innige Zuneigung spricht aus den Worten von Maria Magdalene: „Sie haben meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben“ (Joh 20,13). In beiden Fällen ist die Bezeichnung gerade nicht ein Bild von Abstand, sondern von Nähe. Und als Thomas nicht nur vom Hörensagen von dem Herrn Jesus erfährt, sondern als so nahe bei Ihm ist, dass er den Herrn betasten kann, ruft er aus: „Mein Herr“ (Joh 20,28). Es ist schon merkwürdig: Gerade diejenigen, die gerne „mein König“ singen wollen, reden andererseits einfach  nur von „Jesus“, statt „Herr Jesus“ zu sagen. 

Muss man in Anbetracht dieser herausfordernden Wahrheiten nicht sagen, dass der Herr Jesus sogar betrübt sein muss, wenn wir durch unsere Lieder etwas zum Ausdruck bringen, was lediglich zeigt, dass wir unsere wahre Stellung und Beziehung zu Ihm und auch untereinander nicht recht verstanden haben? Sicherlich sieht der Herr Jesus unsere Herzen an, und Er ist sehr geduldig mit uns, dennoch wünscht Er sich verständige Herzen. Wie oft war Er sehr betrübt, wenn seine eigenen Jünger Ihn nicht verstanden. Wollen wir uns nicht Mühe geben, Ihn mit noch mehr Einsicht zu loben? Sucht der Vater nicht Anbeter, die Ihn in „Geist und Wahrheit“ anbeten (Joh 4,23)?

Im Übrigen lesen wir in den Briefen nichts mehr davon, dass das Reich Gottes verkündigt wurde, so wie wir es zum Beispiel noch in der Apostelgeschichte lesen (Apg 14,22; 20,25; 28,23.31). Offenbar umfassten die neuen Offenbarungen über die Versammlung, die der Herr dem Apostel Paulus mitgeteilt hatte, die Belehrungen über das Reich Gottes. Wer also die Lehre des Apostels gut verstanden hatte, musste nicht annehmen, dass die Belehrungen über das Reich Gottes alle hinfällig geworden waren, sondern dass sie in der neuen Offenbarung über das Haus Gottes, die Versammlung Gottes und den Leib Christi eingeschlossen waren. Auch wenn das Reich Gottes nicht mehr auf die gleiche Weise verkündigt wurde wie in der Apostelgeschichte, so wird doch der Gedanke des Reiches weiterhin aufgegriffen (Röm 14,171Kor 4,20; 6,9.10; 15,24.50Gal 5,21Eph 5,5Kol 1,13; 4,111Thes 2,112Thes 1,52Tim 4,1; 4; 18Heb 12,38Jak 2,5; 2Pet 1,11). Das macht deutlich, dass wir trotz unserer hohen Stellung in Christus einen Herrn haben, dem wir uns zu unterwerfen haben.

Es ist in diesem Zusammenhang mehr als interessant, dass wir nach Apostelgeschichte 21 nichts mehr davon lesen, dass die ersten Christen „Jünger“ (diese Bezeichnung hatte auch einen viel deutlicheren Bezug zum Reich Gottes) genannt wurden. Das bedeutet wiederum nicht, dass die Kennzeichen von Jüngerschaft uns nichts zu sagen hätten, aber wenn wir uns als Christen, als Heilige, als Geliebte, als Kinder, als Söhne, als Diener usw. so verhalten, wie Gott das geplant und eingerichtet hat, dann erfüllen wir automatisch alle Kennzeichen von Jüngern und weit darüber hinaus.

Das Evangelium des Reiches

In der Endzeitrede des Herrn Jesus in Matthäus 24,14 heißt es: „Dieses Evangelium des Reiches wird auf dem ganzen Erdkreis gepredigt werden, allen Nationen zum Zeugnis, und dann wird das Ende kommen.“ Die Frage, die sich hier anschließt, lautet: Ist es nicht unser Auftrag, dieses Evangelium des Reiches zu verkündigen? Man muss hier allerdings bedenken, zu wem der Herr Jesus in der Endzeitrede spricht und welche Zeit Er hier besonders im Blick hat: Der Herr richtet sich an den jüdischen Überrest, was wir aus Matthäus 23,37-39 lernen. Es ist die Zeit kurz vor der großen Drangsal (vgl. Mt 24,15-22), denn es heißt: „Dann wird das Ende kommen“ (Mt 24,14). Kurz vor dem Ende dieses Zeitalters wird „dieses Evangelium des Reiches“ verkündigt werden, und es wird keinen anderen Inhalt haben als zu Beginn des Dienstes des Herrn, wo sowohl Johannes der Täufer als auch später der Herr Jesus selbst das Evangelium des Reiches verkündigten. Ihre Botschaft war: Der König kommt bzw. das Königreich steht vor der Tür, ist nahe gekommen. Wenn dieses Ende des Zeitalters bevorsteht, wird die Gemeinde bereits entrückt sein.[2]

Natürlich können wir den Menschen auch heute dieses Reich verkündigen, besonders wenn wir bedenken, dass wir kurz vor dieser Zeit des Endes stehen. Wir können den Menschen erzählen, dass der Herr Jesus zum Gericht wiederkommen und dann als König ein Reich auf der Erde aufrichten wird. Das ist für sie eine ernste Mahnung, sich zu bekehren. Die Menschen haben sogar wieder nötig, auf den Inhalt des ewigen Evangeliums hingewiesen zu werden: dass nämlich Gott der Schöpfer ist, „der den Himmel und die Erde gemacht hat und das Meer und die Wasserquellen“ (Off 14,7). Denn heute sind die Menschen so von der Evolutionslehre vergiftet, dass sie das nicht mehr glauben. Dennoch ist unser eigentliches Evangelium immer noch ein anderes: Es ist immer noch das wunderbarste Evangelium, das es gibt: das „Evangelium der Herrlichkeit des Christus“ (2Kor 4,4), „das Evangelium der Gnade Gottes“ (Apg 20,24), das „Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes“ (1Tim 1,11).[3] Doch der Inhalt des Evangeliums des Reiches ist nicht die Erwartung eines Christen: Er wartet nicht auf das Gericht und auch nicht auf den Antichristen, sondern auf den Herrn Jesus zur Entrückung seiner Gemeinde und all jener, die in Christus entschlafen sind (vgl. 1Thes 4,13-18). Während die Botschaft des Evangeliums des Reiches sein wird: „Der König kommt“, rufen und beten Christen: „Komm, Herr Jesus“ (Off 22,17-20).

Der „König“ in Apostelgeschichte 17,6.7

Apg 17,6.7: Als sie sie aber nicht fanden, schleppten sie Jason und einige Brüder vor die Obersten der Stadt und riefen: Diese, die den Erdkreis aufgewiegelt haben, sind auch hierhergekommen, die Jason beherbergt hat. Und diese alle handeln gegen die Verordnungen des Kaisers, indem sie sagen, dass ein anderer König sei – Jesus.

Wir wollen uns zum Schluss noch mit der Bibelstelle in Apostelgeschichte 17,6.7 beschäftigen, die von einigen Königslieder-Vertretern oft zitiert wird. Eines steht nach meinem Dafürhalten außer Frage: Auf diese Stelle kann man keine tragfähige Lehre aufbauen. Sie scheint nahezu der einzige Strohhalm für Königslieder-Vertreter zu sein und wird in diesem Zusammenhang immer wieder zitiert. Aber bedenken wir es gut, wer hier eigentlich spricht: Es sind solche, die den Christen etwas Böses nachsagen wollten. Diese Bibelstelle liegt auf der gleichen Linie wie Johannes 19,12: „Daraufhin suchte Pilatus ihn freizulassen. Die Juden aber schrien und sagten: Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich selbst zum König macht, spricht gegen den Kaiser.“ Wenn die anklagenden Juden die Römer irgendwie gegen die Christen aufbringen wollten, dann mussten sie bei ihnen so argumentieren. Schon Pilatus wurde durch diese Art der Argumentation davon abgebracht, den Herrn Jesus freizulassen. Zudem ist es gut möglich, dass die frühen Christen den Juden wirklich erklärten, dass sie ihren eigenen König verworfen hatten. Das heißt jedoch nicht, dass sie selbst von dem Herrn Jesus auch als von ihrem König sprachen. Im Gegenteil, wir haben oben schon gesehen, dass die ersten Christen stets von dem Herrn Jesus sprachen (Apg 16,31; 4,33; 8,16; 11,20; 15,26; 19,17; 20,24).

Verschiedene Beziehungsebenen

Manchmal wird gesagt, in der Anrede des Herrn gebe verschiedene Beziehungsebenen. An sich ist dieser Gedanke richtig. Der Herr Jesus ist nicht nur unser Herr, sondern Er nennt uns auch seine Freunde und sogar seine Brüder; Er ist unser Hoherpriester, so wie Er unser Schöpfer ist. Dennoch ist auch hier deutlich, dass wir keine Bibelstelle im Neuen Testament finden, wo wir als Christen aufgefordert wären, im Gebet oder Lied den Herrn als unseren oder meinen Freund oder Bruder anzusprechen. Wenn Er uns seine Freunde und Brüder nennt, dann ist es das eine, aber wir sollten daraus nicht den Schluss ziehen, dass wir Ihn ebenfalls so ansprechen dürften (dafür gibt die Schrift keinen einzigen Hinweis; das Gegenteil ist der Fall!). Hingegen lesen wir im Hebräerbrief, dass der Herr Jesus „unser Hoherpriester“ ist (Heb 4,14.15; 8,1), und trotzdem spricht Ihn kaum jemand so an. In Liedern finden wir es hingegen öfters, dass wir von dem Herrn als unserem Hohenpriester singen, und die Schrift gibt uns selbst Beispiele dafür. Das ist eben der Unterschied zu den „Königsliedern“; dafür gibt uns das Neue Testament keinen einzigen Hinweis.

Natürlich gibt es auch heute Lieder, in denen wir den Herrn als König besingen können: wenn es um seine Stellung im Friedensreich geht oder um seine Oberherrschaft als König der Könige und Herr der Herren. Denn wir freuen uns natürlich auch jetzt schon darauf, (1) dass Er auf der Erde, wo man nur eine Dornenkrone für Ihn hatte, bald eine Krone mit vielen Diademen tragen wird; (2) dass Er hier, wo man Ihn mit einem Stab auf die Dornenkrone auf seinem Kopf schlug, das göttliche Zepter in der Hand halten wird; (3) dass hier, wo man für Ihn nur ein Kreuz hatte, bald sein Thron stehen wird. Doch Er ist nicht „unser“ oder „mein König“, wie Er es tatsächlich im Friedensreich für sein Volk Israel sein wird.

Fazit

Wir sind als Christen in das Königreich des Sohnes der Liebe des Vaters versetzt worden (Kol 1,13). Er ist nicht nur der König, der einmal als solcher auf der Erde anerkannt werden wird, sondern auch der „Sohn seiner Liebe“. Er ist der vom Vater Geliebte – so kennen wir den Herrn Jesus heute –, und weil wir in dem Sohn sind und das Leben des Sohnes empfangen haben, liebt der Vater uns, wie Er den Sohn liebt (Joh 17). Kein alttestamentlich Gläubiger kam in den Genuss dieses „überragenden Reichtums seiner Gnade in Güte“ (Eph 2,7), und das Wort Gottes schweigt über solch eine Nähe im kommenden Friedensreich. Unverdientermaßen sind wir in den Genuss einer Beziehung gekommen, die wohl höher nicht sein kann und für die wir in Anbetung des Sohnes und des Vaters nur unsere Knie beugen können.

Anmerkungen

[1] Verschiedene Bibelstellen scheinen anzudeuten, dass das Reich Gottes auf der Erde heute doch mit der Person des Herrn in Verbindung gebracht wird: Epheser 5,5; Hebräer 1,8; 2. Timotheus 4,1.18; 2. Petrus 1,11; Offenbarung 11,15, Eine nähere Untersuchung dieser Stellen zeigt, dass es doch das zukünftige Friedensreich ist, wenn alles im Himmel und auf der Erde Christus unterstellt ist.

[3] Lies dazu den Artikel „Gibt es mehr als ein einziges Evangelium?“.

Weitere Artikel zur Bibelstelle Matthäus 24 (24)

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Hinweis der Redaktion:

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