Der Brief an die Hebräer (0)
Einleitung

Stanley Bruce Anstey

© SoundWords, online seit: 10.06.2019, aktualisiert: 23.11.2023

Einführung

Dieser Brief ist einer von vier inspirierten Briefen, die geschrieben wurden, um jüdische Christen in der Wahrheit des Christentums zu befestigen. Diese Briefe (Hebräer, Jakobus, 1. und 2. Petrus), die manchmal auch „die Hebräerchristenbriefe“ genannt werden, befassen sich speziell mit Themen, die Gläubige mit einem jüdischen Hintergrund betreffen.

Der Brief an die Hebräer beschäftigt sich mit dem Ringen eines jüdischen Gläubigen, der das Judentum zugunsten des Christentums verlässt. Die Hebräer waren in einem langen und reichen Erbe im Judentum aufgewachsen, das ihnen von Gott durch Mose gegeben worden war. Daher ist es verständlich, warum sie Schwierigkeiten hatten, es loszulassen. Ihr Gewissen war gebildet worden, diesen jüdischen Weg, Gott zu nahen, anzunehmen; ihn aufzugeben, gab ihnen das Gefühl, als würden sie ihr Gewissen missachten. Was sie verstehen mussten, war: Ebendieser Gott, der das Judentum vor langer Zeit eingerichtet hatte, rief sie jetzt aus dem Judentum heraus, weil Er im Christentum etwas Besseres für sie in seinem Sohn hatte. Der Schreiber des Briefes nennt dies den „neuen und lebendigen Weg“, Gott zu nahen (Heb 10,20). Wenn der jüdische Gläubige die Dinge, die in diesem Brief vorgestellt werden, jedoch richtig verstünde und im Glauben umsetzte, würden sie ihn von diesem System befreien und ihn auf dem christlichen Weg fest gründen.

Warum das Judentum verlassen?

Für einen Juden, dessen Denken im Judentum verankert ist, ist die Vorstellung, die von Gott gegebene Religion zu verlassen, undenkbar. Er fragt: „Warum sollte irgendjemand das verlassen wollen, was Gott als den richtigen und geeigneten Weg eingerichtet hat, damit der Mensch sich Ihm in der Anbetung nahen kann? Es wäre Ungehorsam!“ Die Antwort ist zweierlei:

  1. Erstens hatten diese jüdischen Opfer, Formen und Riten den Zweck, als „Vorbild“ der „zukünftigen Güter“ zu dienen; nun sind sie im Kommen Christi erfüllt (Heb 8,5; 9,11; 10,1). Die Segnungen, die von seinem vollbrachten Werk am Kreuz ausgehen, sind nicht nur für Christen, sondern auch für Israel und die heidnischen Nationen, die in seinem kommenden tausendjährigen Königreich gesegnet werden.[1] Deshalb ist der „Schatten“ dieser Dinge im Judentum jetzt nicht mehr notwendig, wenn wir „der Dinge Ebenbild selbst“ haben (Heb 10,1).

  2. Zweitens hat Gott eine neue, himmlische Gesellschaft von Gläubigen ins Dasein gerufen (die Kirche), die von Israel getrennt und verschieden ist und keine äußeren Formen und Rituale braucht, um sich Gott zu nahen. Gott hatte vor Grundlegung der Welt – also bevor Er Israel in eine Bündnisbeziehung mit sich selbst berief – die Absicht, diese himmlische Gemeinschaft von Gläubigen aus der Welt herauszurufen und ihnen eine himmlische Berufung mit Christus zu geben. Gott offenbarte dies in alttestamentlicher Zeit nicht, sondern Er wartete darauf, dass die Erlösung im Tod Christi am Kreuz vollbracht wurde. Danach sandte Gott den Geist, um dieses Geheimnis zu enthüllen, und zwar darin, was das Neue Testament „das Geheimnis“ nennt (Röm 16,25; 1Kor 4,1; Eph 1,8-10; 3,3-11; 5,32; 6,19; Kol 1,5.25-27; 2,2.3).

Die Berufung und Bildung der Kirche würde für die Juden ein völlig neues Konzept darstellen, weil es etwas ist, was außerhalb des Rahmens der Offenbarung liegt, die ihnen im Alten Testament gegeben worden war. Die Bildung der Kirche in der heutigen Zeit stößt in keiner Weise die Verheißungen Gottes um, Israel gemäß dem, was ihre Propheten gelehrt hatten, zu segnen. Gott wird sein Wort für sie bewahren und sie auf der Erde im Tausendjährigen Reich Christi segnen. Im Gegensatz dazu ist die Segenssphäre der Kirche in Christus himmlisch. Folglich wird es im kommenden Königreich zwei Sphären der Herrlichkeit und des Segens für erlöste Menschen geben: „in den Himmeln“ und „auf der Erde“ (Eph 1,10).

Juden und Heiden, die heute an das Evangelium der Gnade Gottes glauben, sind mit dem Heiligen Geist versiegelt und werden dadurch Teil dieser neuen himmlischen Gesellschaft. Weil es ihre Berufung und Bestimmung ist, ewig bei Christus im Himmel zu wohnen (1Kor 15,48.49; 2Kor 5,1; Eph 1,3; 2,6; 6,12; Phil 3,20; Kol 3,1.2; Heb 3,1; 8,1.2; 9,11; 10,19-22; 11,16; 12,22; 13,14; 1Pet 1,4), ist ihnen „ein neuer und lebendiger Weg“ gegeben, damit sie Gott in Anbetung im Heiligtum nahen können – in der unmittelbaren Gegenwart Gottes (Heb 10,19-22). Das ist eine geistliche Sache (Joh 4,23.24) im Gegensatz zu Israels Anbetung, die überwiegend eine äußere Ordnung von Formen und Ritualen war. Denn Israels Anbetung wurde für eine irdische Gesellschaft von Menschen mit einer irdischen Berufung und Bestimmung entworfen, während die christliche Anbetung eine himmlische Sache ist, die für eine himmlische Gesellschaft von Menschen bestimmt ist. In vielerlei Hinsicht sind das gegensätzliche Ordnungen. Weil Christen in dieser unfassbaren Freiheit in der Gegenwart Gottes stehen und innerhalb des Vorhangs im wahren Heiligtum im Himmel „hinzutreten“ (Heb 8,1.2; 10,19-22), brauchen sie kein System von Formen und Ritualen und keine Priesterschaft, um sich Gott in Anbetung zu nahen. In diesem Sinn werden Gläubige, die an den Herrn Jesus glauben und aus einem jüdischen Hintergrund kommen, in diesem Brief aufgefordert, diese irdische Ordnung für „den neuen und lebendigen Weg“ im Christentum zu verlassen, denn in ihrer Stellung vor Gott sind sie nicht mehr Juden, sondern Christen (Gal 3,28; Kol 3,11).

An einem kommenden Tag, wenn das Reich Christi errichtet ist, wird das erlöste Israel die äußere Gottesdienstordnung im Judentum wieder auf der Erde ausüben, um des großen Opfers Christi am Kreuz zu gedenken, das sie dann bereitwillig annehmen werden (Hes 43–46). Aber heute ist für die himmlische Gesellschaft (die Kirche) dieses irdische System des Nahens zu Gott einfach nicht notwendig – vielmehr ist es ein Hindernis für Christen (Heb 5,11-14). Daher werden Juden, die Christus als ihren Erlöser annehmen (und dadurch Teil der Kirche werden), in diesem Brief aufgefordert, „aus dem Lager“ des Judentums zu Christus zu gehen, der sich derzeit außerhalb dieses Systems befindet (Heb 13,13).

Den Gedanken, das Judentum zu verlassen, hatte nicht nur der Schreiber des Hebräerbriefes. Der Herr Jesus selbst lehrte, dass Er, wenn Er von seiner eigenen Nation abgelehnt würde, „seine eigenen Schafe“ (wahre Gläubige) aus der Herde des Judentums in die „Schafherde“ des Christentums einführen würde. Dort wären sie mit „anderen Schafen“ verbunden: mit Gläubigen aus den Nationen (Joh 10,1-16). Er führte sie nicht während seines Lebens und Dienstes auf der Erde aus der Herde heraus, sondern erst nachdem alle Bemühungen des Heiligen Geistes, die Nation zur Umkehr aufzurufen (durch die Apostel), gescheitert waren (Apg 1–7). Erst nachdem die Führer der Nation Israel Christus offiziell abgelehnt hatten – was sie dadurch bewiesen, indem sie Stephanus steinigten (Apg 7) –, begann Er sein Werk, Gläubige aus der jüdischen Herde herauszuführen.

Die Kosten für das Verlassen des Judentums

Ein solcher Schritt war (und ist) für einen jüdischen Christen jedoch eine kostspielige Angelegenheit. Wenn jemand den Glauben seiner Vorfahren für den Herrn Jesus verließ, galt er als Abgefallener (Apg 21,21: „Abfall von Mose“). Er würde von der Gemeinde „hinausgetan“ (Joh 9,34) und danach von seinen Landsleuten verfolgt werden (Heb 10,33.34). Oftmals veranstaltete die Familie des Betreffenden ein Scheinbegräbnis für ihn und enterbte ihn! In einigen Fällen würde es zum Martyrium führen, wenn man das Judentum verließ (Apg 22,4).

Alle nur erdenklichen Anstrengungen würden unternommen werden, um den, der sich vom Judentum zum Christentum bekehrt hatte, davon zu überzeugen, sich von Christus loszusagen und zum Judentum zurückzukehren. Starke Argumente sollten ihn von seinem sogenannten Fehler überzeugen. Die Juden würden stolz auf das Erbe verweisen, das sie im Judentum hatten. Sie hatten …

  • die Schriften ihrer Propheten (die heiligen Schriften)
  • den Dienst der Engel
  • große Führer wie Mose und Josua
  • ein Erbe im Land Kanaan, das von Milch und Honig floss
  • das aaronitische Priestertum
  • das Allerheiligste, in dem Gott selbst wohnte
  • den Bund des Gesetzes, das moralisch heilig, gerecht und gut war
  • den ehrenvollen Gottesdienst, der durch eine aufwendige Reihe von Ritualen und Opfern und Gaben durchgeführt wurde

Die ungläubigen Juden würden den Abgefallenen fragen: „Warum willst du ein so reiches Erbe für eine neue Religion verlassen, die nichts zu bieten hat als einen Tisch in einem Obersaal mit Brot und Wein darauf?“ Für den Juden, der am Judentum festhielt, war das sinnlos.

Die ungläubigen Juden würden fragen: „Was hat das Christentum im Vergleich zu all dem, was wir im Judentum haben?“ Dieser Brief gibt dem jüdischen Gläubigen eine endgültige Antwort auf solch spöttische Bemerkungen. Der göttlich inspirierte Schreiber beginnt, eine erhabene Sache nach der anderen aufzuzählen, die die Religion der Juden kennzeichnete, und vergleicht sie mit dem, was wir im Christentum haben; und in allen Punkten zeigt er, dass Christen in Christus etwas weit Höheres haben. Er zeigt

  • die Überlegenheit des Sohnes gegenüber den Propheten (Heb 1,1-3)
  • die Überlegenheit des Sohnes gegenüber den Engeln (Heb 1,4–2,18)
  • die Überlegenheit des Sohnes gegenüber Mose, dem Vermittler (Heb 3,1-19)
  • die Überlegenheit des Sohnes gegenüber Josua, dem Heerführer (Heb 4,1-16)
  • die Überlegenheit des Priestertums Christi gegenüber dem Priestertum Aarons (Heb 5–7)
  • die Überlegenheit des neuen Bundes gegenüber dem alten Bund (Heb 8,1-13)
  • die Überlegenheit des einen Opfers Christi gegenüber den Opfern am großen Versöhnungstag (Heb 9–10,18)
  • die Überlegenheit des Zutritts zur Gegenwart Gottes durch das Blut Christi (Heb 8,1-6; 9,8; 10,19-22)

Der große Gedanke in dem Brief ist: Christus ist allen Formen und Riten des Judentums überlegen. Wie der Leser feststellen wird, ist das charakteristische Wort im ganzen Brief das Wörtchen „besser“ (Heb 1,4; 6,9; 7,7.19.22; 8,6; 9,23; 10,34; 11,16.35.40; 12,24).

Ewige Dinge im Hebräerbrief

Es ist interessant, dass der Geist Gottes durch den ganzen Brief hindurch versucht, das Herz des Lesers an himmlische und ewige Dinge zu binden und nicht an das Irdische und Zeitliche. J.N. Darby sagt:

Der Leser wird bemerken, wie angelegentlich der Brief hier den Begriff „ewig“ mit allem verbindet. Die Beziehung zu Gott war keine zeitweilige oder irdische, sondern eine ewige; so die Erlösung und so auch das Erbe. Dementsprechend ist das Werk auf der Erde ein für alle Mal geschehen. Es ist nicht unwichtig, dies in Bezug auf die Natur des Werkes zu beachten. So wird denn jenes Beiwort selbst mit dem Geist verbunden.[2]

Diese ewigen Dinge sind:

  • „ewiges“ Heil (Heb 5,9)
  • „ewiges“ Gericht (Heb 6,2)
  • „ewige“ Erlösung (Heb 9,12)
  • „ewiger“ Geist (Heb 9,14)
  • „ewiges“ Erbe (Heb 9,15)
  • „ewiger“ Bund (Heb 13,20)

Darüber hinaus verwendet der Schreiber auch andere Begriffe und Ausdrücke, um auf ewige Dinge hinzuweisen:

  • Der Thron des Sohnes ist „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Heb 1,8).
  • Er ist ein Priester „in Ewigkeit“ (Heb 5,6; 7,21).
  • Der Sohn ist vollendet „in Ewigkeit“ (Heb 7,28).
  • Der Sohn sitzt „auf immerdar“ zur Rechten Gottes (Heb 10,12).
  • Die Gläubigen sind „auf immerdar“ vollkommen gemacht (Heb 10,14).

Der Verfasser des Briefes – Paulus

Der Briefschreiber ist nicht bekannt. In der King-James-Bibel (KJV) heißt es, der Apostel Paulus sei der Schreiber. Aber die Überschrift, in der dies angegeben wird, ist nicht göttlich inspiriert – obwohl die meisten Bibellehrer zustimmen, dass die KJV korrekt ist. Die Annahme, dass Paulus der Schreiber sei, wurde abgeleitet aus einer Äußerung des Apostels Petrus in seinem zweiten Brief. Er sagt, Paulus habe einen Brief an die Juden geschrieben, den er, Petrus, unter die „Schriften“[3] einordne (2Pet 3,15.16). Auf welchen anderen Brief könnte er sich beziehen außer auf diesen? Wenn es nicht dieser Brief an die Hebräer ist, dann bezieht Petrus sich auf einen von Gott inspirierten Brief von Paulus, der verlorengegangen ist! Das würde bedeuten, dass Gott nicht alle Schriften für uns aufbewahrt hätte – etwas, was Christen einstimmig nicht akzeptieren.

Es gibt auch bestimmte interne Beweise innerhalb des Briefes, die darauf hinweisen, dass Paulus der Schreiber ist. So zeigen beispielsweise die ausgiebige Verwendung jüdischer Elemente und die vielen Zitate aus den alttestamentlichen Schriften, dass der Schreiber absichtlich versucht, das Ohr derjenigen zu gewinnen, denen er schreibt – indem er ihre Neigungen bevorzugt, ohne die Wahrheit aufs Spiel zu setzen. Dies ist ein Grundsatz, nach dem Paulus in seinem Dienst handelte. Er sagt: „Ich bin den Juden geworden wie ein Jude, damit ich die Juden gewinne“ (1Kor 9,20). Auch die Art und Weise, wie über Timotheus gesprochen wird, legt nahe, dass Paulus der Schreiber ist (Heb 13,23).

Man könnte fragen: Falls Paulus der Schreiber ist – warum stellt er sich nicht auf seine eigene Weise vor wie in seinen anderen Briefen? Es gibt einige Gründe:

  1. Erstens erwähnt Paulus in seinem Brief an seine hebräischen Brüder sein Apostelamt deshalb nicht, weil sein Apostelamt ausschließlich für sein Werk unter den Nationen war. Er war „der Apostel der Nationen“ (Röm 11,13; 15,16; Gal 2,8). Er hatte keine Autorität, seine Landsleute als Apostel anzusprechen. Das Apostelamt des Petrus hingegen war für sein Werk unter den Juden (Gal 2,7.8). Das bedeutet nicht, dass Paulus seine jüdischen Brüder nicht ansprechen konnte; es bedeutet nur, dass er es nicht mit apostolischer Autorität tun konnte.

  2. Ein zweiter Grund, warum er sein Apostelamt nicht erwähnt: weil der Geist Gottes sich bemüht, Christus in dem Brief als den großen „Apostel“ unseres Bekenntnisses darzustellen (Heb 3,1). Wenn Paulus seine Apostelschaft angeführt hätte, wäre das womöglich verwirrend gewesen und hätte vom eigentlichen Ziel abgelenkt. Seine Leser sollen verstehen, dass die Botschaft im Brief von einem größeren Apostel kommt als von ihm selbst: nämlich von dem Herrn (Heb 1,2; 12,24.25). Paulus bleibt daher gern im Hintergrund, um Christus stärker in den Vordergrund zu rücken.

  3. Ein dritter Grund könnte sein: Wenn der Brief, der an gläubige Juden geschrieben wurde, in die Hände ungläubiger Juden fiel und sie wüssten, dass Paulus ihn geschrieben hatte, hätten sie ihn nie gelesen. Sie hätten die ganze Sache sofort abgelehnt, weil sie Paulus als Abgefallenen des Judentums betrachteten.

Eine gemischte Gruppe – fünf Warnungen vor Abfall

Der Brief wurde in erster Linie an den Überrest der jüdischen Nation geschrieben, die an das Evangelium geglaubt und Christus als ihren Erlöser angenommen hatten. Aus den Warnungen im Brief geht jedoch hervor, dass es in dieser Gesellschaft einige gab, die lediglich bekannten, gläubig zu sein, es aber in Wirklichkeit gar nicht waren. Sie waren vielleicht von den äußeren Segnungen, die mit dem Christentum verbunden waren, angezogen worden (die mächtigen Zeichen und Wunder usw.), aber leider hatten sie keinen echten Glauben an Christus. Es war also eine gemischte Gesellschaft.

Die Juden, die den christlichen Weg eingeschlagen hatten, wurden von ihren ungläubigen Landsleuten verfolgt, und unter diesem Druck wurden sie auf dem Weg müde und unsicher. Einige waren versucht, aufzugeben und zum Judentum zurückzukehren. Für diejenigen, die nur bekannten, gläubig zu sein, würde sich der Rückzug vom Christentum als Abfall vom Glauben erweisen.

Abfall vom Glauben (Apostasie) ist die formale Abkehr vom Glauben, den ein Mensch einmal bekannt hat. Das ist etwas, was nur ein bloßer Bekenner tun konnte und tun würde. Es ist eine sehr ernste Sache, denn wenn ein Mensch einmal vom Christentum abgefallen ist, gibt es keine Hoffnung, dass er in Buße umkehrt. Die Schrift sagt, dass es „unmöglich“ ist, so jemand wiederherzustellen (Heb 6,4-6). Weil einige unter ihnen Gefahr liefen, abzufallen, warnt der Schreiber im Brief fünfmal davor, sich vom christlichen Boden zurückzuziehen und zum Judentum zurückzukehren (Heb 2,1-4; 3,7–4,11; 5,11–6,20; 10,26-39; 12,16-27). In diesen Warnungen erklärt er unmissverständlich die verhängnisvollen Folgen eines solchen Schrittes und ermutigt sie, mit wahrem Glauben auf dem christlichen Weg voranzugehen, anstatt sich „zum Verderben zurückzuziehen“ (Heb 10,39).

Manche Christen denken, diese Warnungen zeigten, dass ein Gläubiger sein Heil verlieren könnte, wenn er sich vom Herrn abwendet. Um ihre Argumentation zu unterstützen, verweisen sie auf ähnliche Stellen: Matthäus 7,21-23; 12,43-45; 13,5.6.20.21; 24,13; 25,26-30; Markus 3,28-30; Lukas 22,31.32; Johannes 15,2-6; Römer 11,22; 1. Korinther 9,27; 15,2; Hebräer 6,4-6; 10,26-29; 12,14; 2. Petrus 2,1.20.21. Ein genauerer Blick auf diese Schriftstellen zeigt jedoch, dass sie nicht von echten Gläubigen sprechen, die an den Herrn Jesus glauben, sondern nur von bekennenden Gläubigen, die vom christlichen Glauben abfallen. Das Problem, das viele haben und das zu dieser falschen Schlussfolgerung führt, ist: Sie kennen den Unterschied nicht zwischen abgleiten (in Sünde fallen) und abfallen. Beides bezieht sich darauf, dass jemand sich von Gott abkehrt oder entfernt, aber das eine (abfallen) ist unendlich schlimmer als das andere. Ein wahrer Gläubiger kann abgleiten, kann in Sünde fallen, in seinen Überzeugungen schwanken und in einer gewissen Entfernung vom Herrn leben, aber er wird den Glauben nicht aufgeben und Christus verurteilen, was Abfall bedeutet.

Man kann sich fragen: „Warum sollten diese Warnungen vor Abfall in den Schriften, die an Gläubige geschrieben sind, erwähnt werden, wenn sie keine Anwendung auf Gläubige haben?“ Die Antwort ist: Die von Gott inspirierten Schreiber des Neuen Testamentes sprechen bei vielen Gelegenheiten eine gemischte Schar von echten und nur bekennenden Gläubigen an, so wie es in diesem Brief der Fall ist. Deshalb enthalten ihre Ausführungen Warnungen für jene, die nur bekannten, an Christus zu glauben, und sich unter wahren Gläubigen aufhielten. Diese Äußerungen sollten ihr Gewissen erreichen und ihnen deutlich machen, dass sie Errettung brauchten. Sie werden gewarnt, dass sie für immer verlorengehen, wenn sie den christlichen Glauben, den zu glauben sie bekannten, aufgeben! Im Glauben zu bleiben ist daher die beste und sicherste Garantie, dass der Glaube echt ist (Heb 3,6).

Die beiden Arten von „Wenn“ in der Heiligen Schrift

Der Hebräerbrief ist ein „Wüsten“-Brief. Das heißt: Die Heiligen werden auf der Erde als unter Prüfung gesehen, sie gehen den Weg des Glaubens und sie haben Christus im Himmel als ihr Ziel vor sich. Die Wüstenbriefe (1. Korinther, Philipper, Hebräer, 1. Petrus usw.) sind durch ein „Wenn“ im Text gekennzeichnet.

Tatsächlich gibt es in der Schrift zwei Arten von „Wenn“, die ganz unterschiedlich sind: das „Wenn“ der Bedingung und das „Wenn“ der Begründung:

  • Das „Wenn“ der Bedingung geht davon aus, dass es möglich ist, auf dem Weg zu versagen; und dieses Versagen ist darauf zurückzuführen, dass jemand nicht echt [d.h. kein wahrer Gläubiger] ist oder dass der Glaube an den Gerechten irgendwie zusammenbricht. Das sind die Arten von „Wenn“, die in den Wüstenbriefen zu finden sind.

  • Das „Wenn“ der Begründung hingegen hat damit zu tun, dass der Schreiber in seiner Darlegung bestimmte Tatsachen festsetzt und dann auf diesen Tatsachen aufbaut, um einen bestimmten Punkt hervorzuheben. In diesem Fall könnte das Wort „wenn“ durch „weil“ ersetzt werden.

Es wird oft gesagt, dass der Epheserbrief kein „Wenn“ der Bedingung hat. In diesem Brief werden die Heiligen nicht als Menschen gesehen, die auf der Erde geprüft werden, sondern als Menschen, die in Christus in himmlischen Örtern sitzen (Eph 2,6). Im Kolosserbrief hingegen finden wir beides: ein „Wenn“ der Bedingung in Kolosser 1,23 und ein „Wenn“ der Begründung in Kolosser 2,20 und 3,1. Auch der Hebräerbrief hat beide Arten von „Wenn“.

Die Anwendung des Briefes auf das Christentum

Obwohl der Hebräerbrief an jüdische Gläubige geschrieben wurde, um ihnen zu helfen, sich vom Judentum zu befreien, dürfen wir nicht glauben, dass er nicht auf die Gläubigen aus den Nationen angewendet werden darf, die an das Evangelium glauben. Das christliche Bekenntnis hat in der Vergangenheit und heute im Großen und Ganzen die himmlische Berufung und das Wesen der Gemeinde nicht verstanden und nimmt an, es wäre eine Art Ergänzung zu Israel. Im Allgemeinen verstehen Christen die Anweisung aus Hebräer 9,8.9.23.24 nicht richtig. Diese Anweisung lehrt, dass das alttestamentliche System der Stiftshütte ein Abbild des wahren Heiligtums ist, in dem die Christen heute durch den Geist anbeten. Anstatt es als Abbild zu sehen, verwenden sie die Stiftshütte als Muster für ihre Kirchen und übernehmen viele Dinge im wahrsten Sinne des Wortes von dieser jüdischen Ordnung für ihre Gotteshäuser und ihre Gottesdienste. Somit übersehen sie den Gedanken völlig, dass Gott keine Mischung dieser beiden verschiedenen Ordnungen der Anbetung will (Heb 13,10).

Nachfolgend eine Liste von Dingen, die dem Judentum entlehnt sind, wenn konfessionelle und nichtkonfessionelle Kirchengruppen gegründet werden:

  • Die Gottesdienste finden in prunkvollen Tempeln und Kathedralen statt.
  • Eine besondere Klasse ordinierter Männer hält für die Gemeinde den Gottesdienst ab.
  • Es werden Musikinstrumente verwendet, um die Anbetung zu unterstützen.
  • Es wird ein Chor eingesetzt.
  • Es wird Weihrauch verwendet, um eine religiöse Atmosphäre zu schaffen.
  • „Geistliche“ und Chormitglieder tragen Gewänder.
  • Es wird ein buchstäblicher Altar (ohne buchstäbliche Opfer) verwendet.
  • Es gibt die Praxis des Zehnten.
  • Feiertage und religiöse Feste werden eingehalten.
  • Namen von Personen in der Gemeinde werden aufgezeichnet.

Diese Kirchengruppen haben viele dieser jüdischen Dinge etwas verändert, damit sie in einen christlichen Rahmen passen, aber immer noch haben diese Orte der Anbetung die Merkmale des Judentums. Tatsächlich ist die Kirche leider von dieser jüdischen Ordnung durchdrungen. Vieles davon gibt es im Christentum schon so lange, dass es von den Massen als Gottes Ideal anerkannt wird. Die meisten Menschen heute denken, es wäre gut und richtig, diese jüdisch-christliche Mischung zu haben. Leider hat die Vermischung dieser beiden Gottesdienstordnungen die Unterschiedlichkeit der beiden zerstört, und was aus der Vermischung entstanden ist, ist weder echtes Judentum noch echtes Christentum. Beide sind verdorben (Lk 5,36-39).

Zu einem großen Teil hat sich die Christenheit „dem Lager“ der irdischen Religion angeschlossen, aus dem die Gläubigen herausgerufen sind (Heb 13,13). F.B. Hole bemerkt:

Die Bedeutung dieses Briefes für die gegenwärtige Zeit kann kaum überbewertet werden. Es gibt heute unzählige Gläubige, die, obwohl sie aus den Nationen sind und deshalb nichts mit dem Judentum zu tun haben, dennoch entarteten Formen des Christentums anhängen. Solche Formen bestehen weithin in Zeremonien und kirchlichen Bräuchen, die ihrerseits zum größten Teil eine Nachahmung des jüdischen Rituals darstellen, das Gott einst verordnet hatte, um die Zeit bis zur Ankunft Christi auszufüllen.[4]

Weil die Christenheit von jüdischen Grundsätzen und Praktiken durchdrungen ist, hat dieser Brief eine wichtige praktische Anwendung für jeden im christlichen Bekenntnis, der den Namen des Herrn nennt. Es ruft die Gläubigen auf, „auszugehen“ zu Christus „außerhalb des Lagers“, weil Er in dieser Zeit nicht mit dieser Ordnung der Dinge verbunden ist (Heb 13,13). Das bedeutet: Wir müssen uns von jüdischen Grundsätzen und Praktiken trennen, wo immer sie zu finden sind – sei es im formalen Judentum oder an quasi-jüdisch-christlichen Orten der Anbetung. Leider wird dieser Aufruf von den Christen kaum verstanden und im Allgemeinen nicht beachtet.

Ein kurzer Überblick über den Brief

Der Brief besteht aus zwei Hauptteilen: aus einem lehrmäßigen Teil, gefolgt von einem praktischen Teil. Wie in den meisten Briefen basieren die praktischen Ermahnungen auf der lehrmäßigen Wahrheit, die gelehrt wird.

Lehre (Heb 1–10,18)

Dieser Abschnitt besteht aus zwei Teilen, die mit den beiden Arten übereinstimmen, wie Christus im Brief dargestellt wird: als „der Apostel und Hohepriester unseres Bekenntnisses“ (Heb 3,1). Als „Apostel“ wird Er in den Kapiteln 1 bis 2 und als unser „Hoherpriester“ in den Kapiteln 3 bis 10,18 gesehen. Ein Apostel ist jemand, der von Gott zu einem bestimmten Zweck ausgesandt ist, und ein Priester ist jemand, der in Gottes Gegenwart gegangen ist, um für die in Not einzutreten.

Als „Apostel“ ist Christus „von Gott ausgegangen“, um Ihn zu offenbaren und die Erlösung zu vollbringen (Joh 16,28a). Als solcher erweist Er sich den beiden großen Botschaftern, die Gott im Judentum benutzt hat – den Propheten und den Engeln – als unendlich überlegen.

Als „Hoherpriester“ ist Christus in die Gegenwart Gottes eingegangen, um seinen gegenwärtigen Dienst als unser Fürsprecher zu erfüllen (Joh 16,28b; Röm 8,34; Heb 4,14). Er ist dorthin gegangen mit einem Dienst, der sowohl auf den Menschen wie auch auf Gott ausgerichtet ist:

  • Auf den Menschen gerichtet:
    Er hilft denen, die in Not sind (Heb 2,18). Er hat Mitleid mit denen, die Schwachheiten haben (Heb 4,15). Er gewährt Gnade und Barmherzigkeit (Heb 4,16). Er hat Nachsicht mit Unwissenden und Irrenden (Heb 5,2) und errettet sie in der Zeit der Not (Heb 7,25).

  • Auf Gott gerichtet:
    Er befestigt den neuen Bund (Heb 8). Er opfert sich selbst Gott als höchstes Opfer ohne Flecken, um die Sünde abzuschaffen (Heb 9–10). Er bringt Gott unser Lob dar (Heb 10,21; 13,15).

Praxis (Heb 10,19–13,25)

Dieser Abschnitt enthält praktische Ermahnungen, die auf ebender Wahrheit beruhen, die im lehrmäßigen Teil des Briefes dargestellt wird. Es gibt sieben Hauptgruppen von Ermahnungen, die sich um die Worte „Lasst uns“ drehen (Heb 10,22-24; 12,1.28; 13,13.15).


Übersetzt aus The Epistle to the Hebrews. The New and Living Way of Approach to God in worship in Christianity
Christian Truth Publishing 2017

Übersetzung: Stephan Isenberg

Nächster Teil

Anmerkungen

[1] Siehe J.N. Darby zu Hebräer 9, „Notes from lectures on the Epistle to the Hebrews“, Collected Writings, Bd. 27, S. 385.

[2] J.N. Darby, Betrachtung über Hebräer (Synopsis), Fußnote zu Hebräer 9,14. Quelle: bibelkommentare.de.

[3] Anm. d. Red.: Mit „Schriften“ sind die inspirierten Schriften gemeint.

[4] F.B. Hole, Grundzüge des Neuen Testaments, Bd. 5: Hebräerbrief – Petrusbriefe, Hückeswagen (CSV) 1999, S. 8.

Weitere Artikel des Autors Stanley Bruce Anstey (43)


Hinweis der Redaktion:

Die SoundWords-Redaktion ist für die Veröffentlichung des obenstehenden Artikels verantwortlich. Sie ist dadurch nicht notwendigerweise mit allen geäußerten Gedanken des Autors einverstanden (ausgenommen natürlich Artikel der Redaktion) noch möchte sie auf alle Gedanken und Praktiken verweisen, die der Autor an anderer Stelle vertritt. „Prüft aber alles, das Gute haltet fest“ (1Thes 5,21). – Siehe auch „In eigener Sache ...

Bibeltexte im Artikel anzeigen