Bibelstudium (2)
Beschränkungen

Willem Johannes Ouweneel

© EPV, online seit: 21.01.2006, aktualisiert: 17.11.2022

Beschränkungen

Wir haben es mit dem heiligen Wort Gottes zu tun. Das bedeutet, wie wir sahen, dass der natürliche Verstand bei einem Menschen nicht ausreicht (er kann sogar ein Hindernis sein), sondern dass man bestimmte Bedingungen erfüllen muss, um die Bibel verstehen zu können. Dazu kommt noch etwas. Der Gläubige, der die Bibel liest, wird lernen, dass er, selbst wenn er noch so geistlich ist und noch so gute Unterweisung hat, doch in dem Maß, in dem er die Wahrheit Gottes ergründen kann, Beschränkungen unterworfen ist. Und dies nicht nur deshalb, weil der eine nun einmal mehr Einsicht in die Schrift hat als der andere; nein, die Bibel ist ein göttliches Buch, es ist die Entfaltung tiefer, ewiger, göttlicher Wahrheiten, und wir bleiben immer Geschöpfe, die nur bis zu einer gewissen Tiefe in die Gedanken Gottes eindringen können. Wer sich dieser Beschränkungen nicht klar bewusst ist, ist zu einem gesunden Bibelstudium nicht in der Lage.

1. Beschränkung: Gott ist unausforschlich

Schon ganz allgemein gilt, dass Gottes Handeln und Denken für uns Menschen sehr erhaben ist. Zophar sagt mit Recht: „Kannst du die Tiefe Gottes erreichen oder das Wesen des Allmächtigen ergründen? Himmelhoch sind sie – was kannst du tun? Tiefer als der Scheol – was kannst du wissen? Länger als die Erde ihr Maß und breiter als das Meer“ (Hiob 11,7-9); und Elihu sagt: „Den Allmächtigen, den erreichen wir nicht, den Erhabenen an Kraft“ (Hiob 37,23). Gott selbst lässt uns sagen: „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege. Denn wie der Himmel höher ist als die Erde, so sind meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken“ (Jes 55,8.9). Gott ist wunderbar in seinem Rat (Jes 28,29), und deshalb ruft Paulus aus: „O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichte und unergründlich seine Wege!“ (Röm 11,33). Bibelstudium kann dazu führen, Einsicht zu gewinnen, wie Gott gehandelt hat, und bis zu einem gewissen Grad, weshalb Gott so gehandelt hat, aber die tiefsten Regungen seines Herzens, seine tiefsten Beweggründe und Überlegungen bleiben verborgen in dem, was Gott ist; ja, wenn wir das alles völlig durchgründen könnten, wären wir dann nicht wie Gott selbst? „Sei nicht vorschnell mit deinem Mund, und dein Herz eile nicht, ein Wort vor Gott hervorzubringen; denn Gott ist im Himmel, und du bist auf der Erde: Darum seien deiner Worte wenige“ (Pred 5,2).

2. Beschränkung: Unerklärbarkeit der Person Jesu Christi

Wir müssen also einsehen, dass wir in der Schrift Wahrheiten finden, die wir vielleicht sorgfältig zu unterscheiden und zu formulieren lernen, ohne sie jedoch wirklich zu verstehen. Das Kennen einer Wahrheit ist nämlich durchaus nicht dasselbe wie das Ergründen einer Wahrheit. Das allerwichtigste Beispiel dafür in der Schrift ist die Wahrheit in Bezug auf die Person Christi! Diese Wahrheit wird für uns ewig unergründlich bleiben. Der Herr Jesus selbst sagte: „Niemand erkennt den Sohn als nur der Vater, noch erkennt jemand den Vater als nur der Sohn und wem irgend der Sohn ihn offenbaren will“ (Mt 11,27). Beachte gut: Der Sohn will uns den Vater offenbaren (vgl. Joh 1,18), aber wir lesen nirgendwo, dass der Vater offenbaren kann und will, wer der Sohn ist. Das Geheimnis des Sohnes: vollkommen Gott und vollkommen Mensch, und das in einer Person, ist für uns ewig unergründlich. Natürlich ist der Sohn bei seinem Kommen auf die Erde in gewissem Sinn „offenbart“ worden (vgl. 1Tim 3,16; 1Joh 1,2); aber das bedeutet so viel wie „erschienen“, und nicht, dass das Wunder seiner Person uns völlig entfaltet ist. Wie viele in der Christenheit sind in diese Schlinge gefallen, dass sie dieses Wunder ergründen wollten; die Folge war immer, dass sie entweder die Gottheit oder die Menschheit des Herrn Jesus antasteten. Wir müssen den Wunsch haben, das Wunder kennenzulernen, aber es nicht „erklären“ wollen – das wäre dasselbe, als würden wir in die Bundeslade schauen, was Gott bei den Leuten von Beth-Semes so ernst bestrafen musste (1Sam 6,19). Wir dürfen alles, was die Schrift uns über die Gottheit wie auch über die Menschheit Christi lehrt, gründlich erforschen; aber wir müssen uns davor hüten, diese beiden Aspekte seiner Person zu trennen oder in einen (menschlich) logischen Zusammenhang zu bringen.

3. Beschränkung: stückweise Erkenntnis

Es gibt also Wahrheiten, die für uns ewig unergründlich bleiben, aber es gibt außerdem auch Wahrheiten, die für uns schwer zu verstehen sind, solange wir noch an dieses irdische Dasein gebunden sind. Paulus sagt: „Wir erkennen stückweise [in Teilen]“ (1Kor 13,9). Die Bedeutung ist nicht: „Wir erkennen zum Teil“, als wäre erst ein Teil geoffenbart und wir würden im Himmel noch einen anderen Teil empfangen. Im Gegenteil, uns ist der ganze Ratschluss Gottes verkündigt worden (Apg 20,27), und die Schrift gibt keinen einzigen Grund zu der Annahme, dass uns bald noch neue Wahrheiten geoffenbart werden. Nein, die Bedeutung des Ausdrucks (ek merous) in 1. Korinther 13,9 ist, dass unser Erkennen stückweise ist, „Stück für Stück“, das heißt, dass wir immer nur einen Teil der Wahrheit für sich untersuchen und überblicken können und nicht die ganze Wahrheit in allen ihren unterschiedlichen Teilen auf einmal. „Wir sehen jetzt mittels eines Spiegels, undeutlich, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt worden bin“ (1Kor 13,12).

Für dieses „stückweise Erkennen“ haben wir in der Schrift viele Beispiele. So können wir unmöglich das Leben und Leiden Christi in seiner Ganzheit übersehen und begreifen – wir haben vier Evangelien nötig, um sein Leben und Werk „stückweise“ kennenzulernen. Ebenso beschreiben die Kapitel 1–7 von 3. Mose auch fünf verschiedene Arten von Opfern, weil unmöglich eine Art uns das Werk Christi völlig verständlich machen könnte. Ein ganz anderes Beispiel: Es laufen zwei rote Fäden durch die Schrift, die bei Gott in wunderschöner Harmonie sind, uns aber oft gegensätzlich erscheinen. Der eine Faden ist der der Ratschlüsse Gottes, der andere der seiner Wege; man kann auch sagen: Der eine ist Gottes Gnade, der andere die Verantwortlichkeit des Menschen. (Ein typisches Beispiel hierfür ist die Auserwählung; einerseits hat Gott einen Menschen auserwählt und bringt ihn zum Glauben, andererseits hat der Mensch die Verantwortung, sich zu Gott zu bekehren. Wer diesen scheinbaren Widerspruch menschlich lösen will, wird auf die Dauer das eine oder das andere leugnen.)

Wir finden diese beiden Linien schon gleich zu Anfang in den beiden Bäumen – der eine Baum ist der, der im Garten Eden die Gnade Gottes symbolisiert, die Quelle des Lebens, der andere der der menschlichen Verantwortung. Wer von dem zweiten isst, verliert den ersten. Der Ort, wo diese Linien erst wirklich wieder zusammenlaufen, ist das Kreuz von Golgatha, wo Christus die Folgen der Verantwortung des Menschen auf sich nahm und wo Er das wahre Fundament zur Erweisung der göttlichen Gnade wurde.

4. Beschränkung: Auslegungsschwierigkeiten der Schrift

Schließlich müssen wir uns bewusst sein, dass die Auslegung der Schrift manchmal so schwierig ist, dass ihr durch unser geringes Verständnis auch Beschränkungen auferlegt sind. Das ist eine der Erklärungen für die Tatsache, dass auch orthodoxe Christen (also solche, die sich vor der absoluten Autorität der Bibel als dem inspirierten Wort Gottes beugen) die Bibel leider manchmal sehr unterschiedlich auslegen. Von solchen Schwierigkeiten gebe ich einige Beispiele, die teilweise später noch ausführlicher behandelt werden.

  1. Die Bibel ist das Wort Gottes in dem Sinn, dass Gott uns alles, was die Bibel enthält, mitteilen wollte und es uns deshalb wörtlich überlieferte, und zwar genau so, wie Er es wollte. Das heißt nun nicht, dass alle Worte der Bibel Gottes eigene Gedanken wiedergeben, denn die Bibel enthält auch Worte der Feinde Gottes, wie Pharao, Pilatus usw. Oft ist es kein Problem, das zu unterscheiden, manchmal aber ist es sehr schwierig, zu erkennen, was der Mensch sagt und was Gott (der die menschlichen Worte in die Bibel aufgenommen hat) damit sagen will. Ein kennzeichnendes Beispiel ist das Buch Hiob, wo die drei Freunde Hiobs manchmal sehr treffende und wahre Dinge sagen, aber auch ganz verkehrte Dinge (Hiob 42,7). Es ist die schwierige Aufgabe des Auslegers, das zu unterscheiden. Wie leicht sich ein Mensch darin irren kann, wird aus 5. Mose 13,1-5 deutlich: Ein Prophet konnte wunderbare Worte aussprechen, sogar bekräftigt durch Wunder oder durch tatsächlich eintreffende Vorhersagen, während er doch ein falscher Prophet war.

  2. Eine zweite allgemeine Schwierigkeit ist das Erkennen der Reichweite eines Schriftwortes (siehe auch den Artikel „Bibelstudium (5) – Hauptgrundsätze“). Welche schriftgemäßen Grundsätze sind zeitgebunden, und welche sind allgemeingültig? Um eine Anwendung auf uns selbst zu machen: Sind wir noch an die Vorschriften des Bundes mit Noah gebunden (1Mo 9,1-7)? Antwort: ja (Apg 15,20). – Stehen wir formell unter dem Gesetz der Zehn Gebote? Antwort: nein (vgl. Röm 6,14; 7,6; Gal 3,24.25). – Haben wir es moralisch mit dem Gesetz der Zehn Gebote zu tun? Antwort: ja (vgl. Röm 3,31; 13,10). – Haben wir noch etwas zu tun mit den wörtlichen Vorschriften von 1. Korinther 11–14? Antwort: ja (vgl. 1Kor 1,2; 4,17; 7,17; 14,33.37).

    Ich habe hinter jede Frage die Antwort gesetzt, die ich aus der Schrift gelernt habe, nicht, um den Eindruck zu erwecken, dass die Antworten so einfach sind. Ich bin mir dessen bewusst, dass Tausende ernster Mitchristen die zweite Frage mit ja und die vierte mit nein beantwortet haben würden (siehe auch den Artikel „Bibelstudium (5) – Hauptgrundsätze“).

  3. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass Gott seine Gedanken in der Schrift oft nicht direkt in Worten offenbart hat, sondern in Taten und Symbolen. Damit berühren wir zwei weitere große Themen, die unserem begrenzten Verstand oft Schwierigkeiten bereiten, nämlich die sogenannte „Typologie“ (die Allegorien [d.h. vorbildhafte bzw. gleichnishafte Darstellung]) der Schrift (siehe den Artikel „Bibelstudium (6) – Hauptthema“) und die Symbolik in der Schrift. Die große Schwierigkeit ist hier, die Grenzen im Auge zu behalten. Was die Typologie betrifft, so können wir entweder zu bange sein, im Allegorisieren so weit zu gehen, wie die Schrift es uns doch deutlich zeigt (das ist die Gefahr der heutigen orthodoxen Theologie), oder wir können zu weit gehen, indem wir unserer Phantasie freien Spielraum lassen (diese Gefahr liefen beispielsweise Origenes und bestimmte Mystiker und Pietisten). Was die Symbolik betrifft (denken wir beispielsweise an die Offenbarung), so handelt es sich immer um die Frage, was in der Schrift wörtlich gemeint ist und wo wir es mit Symbolen zu tun haben, mit Bildersprache, Anthropomorphismen (menschlichen Umschreibungen wie die Augen, die Hände, die Eingeweide Gottes). So wird die Hölle ein Ort des Feuers und der Dunkelheit genannt – ein Beweis, dass die Hölle, obwohl es diesen Ort im wörtlichen Sinn gibt, in Bildersprache geschrieben ist. Aber oft ist das schwierig zu unterscheiden: Was ist in Offenbarung 8 beispielsweise wörtlich und was ist symbolisch zu verstehen? Und vor allem: Was bedeuten die Symbole dann? Auch hierzu muss immer die Schrift selbst die Lösung zeigen, nicht unsere Phantasie.

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Originaltitel: „Gesundes Bibelstudium“
aus Hilfe und Nahrung, Ernst-Paulus-Verlag, 1977, S. 320–326.
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