Warum ich nicht mehr wähle
Christen und Politik

Dirk Schürmann

© SoundWords, online seit: 10.09.2009, aktualisiert: 16.11.2022

Ich bin aufgewachsen mit der Einstellung, dass ein Christ nichts mit Politik zu tun hat und deshalb auch nicht wählen gehen sollte. Die Argumente, die man mir dafür vorlegte, hatte ich nicht weiter auf ihre Stichhaltigkeit überprüft.

Später wurde ich mit verschiedenen Gründen konfrontiert, die dafür sprachen, dass es doch richtig sei, wählen zu gehen und sich sogar, wenn möglich, politisch zu engagieren. Denn im 18. und 19. Jahrhundert waren es doch schließlich christliche Politiker, die sich dafür einsetzten, dass das grausame Übel der Sklaverei abgeschafft wurde! Sollten diese Männer, statt für ihr Tun höchstes Lob zu empfangen, gar noch als solche, die unbiblisch gehandelt hatten, getadelt werden? Dazu kamen Überlegungen bezüglich der Aussage von Matthäus 5,13-16, dass wir Salz der Erde und Licht der Welt sind; gerade in der Politik, wo so viel Fäulnis ist, ist doch das Salz so notwendig.

Dann schrieb W.J. Ouweneel Mitte der 1990er Jahre einen Aufsatz zum Thema „Wahl“, den wir auch als eine Serie von drei Artikeln auf Soundwords veröffentlicht haben („Fremdlingschaft und Politik“). Ausgehend von dem philosophischen Gedanken über Struktur und Richtung meint Ouweneel, dass, gerade

wenn auf diesem Gebiet so viel Böses geschieht, … das … ein Grund mehr [ist], um auf diesem Gebiet eine radikal biblische Stimme hören zu lassen.

Nach dieser Argumentation komme es eben nur darauf an, welche Ausrichtung ich in einem bestimmten Lebensbereich habe. Wenn sie biblisch ist, das heißt, wenn sie durch Gottes Wort und Gebet bestimmt wird, dann könne ich in allen diesen Bereichen aktiv werden. So heißt es dort auch:

Und so – um einen anderen Ausdruck zu brauchen – lebt der „neue Mensch“ nicht auf einem anderen Gebiet als der alte Mensch, sondern er ist Teil genau derselben Strukturen, wenn auch der erneuerte Geist eine neue Ausrichtung hat.

Nach der Veröffentlichung dieser Artikelserie hatten wir zu diesem Thema Austausch mit einigen Brüdern, die diese Ansicht nicht teilen konnten. Damals konnten mich ihre Argumente jedoch nicht überzeugen, so dass ich dann bei der nächsten Wahl meine Stimme abgab. Ein Bruder nannte die Argumentation mit der Idee von „Struktur“ und „Ausrichtung“ eine „morsche Hilfskonstruktion“, leider ohne zu erklären, was daran denn nun morsch sei. Für mich war es ein verlockender Gedanke, dass ich – wenn ich Christus in solch einen Bereich wie die Politik (und das ließe sich beliebig erweitern auf andere Bereiche wie Kunst, Kultur, Wissenschaft, Rechtswesen, Geschichte usw.) mit hineinnehme – nicht nur in diesen Bereichen tätig sein, sondern sogar noch zum großen Segen sein kann.

Es gab allerdings auch immer noch gewisse Bedenken, da die Schrift im Neuen Testament dafür praktisch keinen Anschauungsunterricht und keine Belehrungen bietet. Besondere Mühe machte mir dabei der Philemonbrief. Damals hätte ich diesen Brief völlig anders geschrieben. Warum hatte Paulus dem Philemon nicht ordentlich, wie wir heute sagen würden, „den Marsch geblasen“, dass er als Christ sich gar nicht schämte, Menschen als Sklaven zu halten? Ich hätte ihm sein abscheuliches Verhalten vorgestellt und ihn zur sofortigen Freilassung nicht nur des entlaufenen und danach bekehrten Sklaven Onesimus, sondern aller seiner Sklaven aufgefordert und ihn ermahnt, ernstlich Buße darüber zu tun, dass er als Christ bei so etwas mitgemacht hatte. Nichts von alledem findet sich aber im Philemonbrief. Sehr vorsichtig versucht Paulus, Philemon dazu zu bewegen, gegenüber Onesimus Gnade walten zu lassen, aber ganz deutlich verlangt er noch nicht einmal für ihn die Freilassung. Warum bloß? Hätte nicht vielleicht viel Elend vermieden werden können, wenn er da einmal einige deutliche Sätze gesagt hätte?

Als der Herr gebeten wurde, in einer Erbstreitigkeitssache zu schlichten (Lk 12,13-15), wie viel Hilfe hätte da für Millionen von Erbstreitigkeiten unter Christen gegeben werden können, wenn der Herr sich dieser Sache angenommen hätte, mögen wir denken. Aber „leider“ sagt Er: „Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbteiler über euch gesetzt?“ (Lk 12,14). Der Herr ließ sich nicht wie gewünscht in diesen Bereich mitnehmen.

Der Gedanke, den Herrn in alle Lebensbereiche mit hineinzunehmen und diesen Bereichen dann eine biblische Ausrichtung zu geben, scheint von der Schrift und vom Verhalten des Herrn und der Apostel nicht unterstützt zu werden. Paulus wollte Liebe, Wohltat und Erquickung bei Philemon und Bereinigung von Versäumnissen und Verfehlungen bei Onesimus bewirken, und in ihm selbst wirkte der Geist, dieses zu tun, indem er dabei die Gesinnung Christi offenbarte. Die Sklaven sollten in ihrer Situation so handeln, als seien sie Diener Christi, und ihr Blick wird auf die Belohnung des Erbes gerichtet, das sie in der Zukunft vom Herrn empfangen würden. Den Brüdern, die sich um das Erbe streiten, wird beiden zugleich vom Herrn die Belehrung gegeben, sich selbst in Bezug auf ihre materialistische Gesinnung zu prüfen.

Was die Aufforderung angeht, kraftvolles „Salz“ auf der Erde zu sein, so ist es sicher so, dass wir in den Beziehungen, in die wir von Gott gestellt sind, dem Verderben entgegenwirken, indem wir gottgemäßes Verhalten offenbaren. Was ich aber damals nicht erkannte: Dort steht nicht, dass wir das Salz nun in alle Ecken hinbringen sollen. Wenn jemand in Regierungsverantwortung sich bekehrt, kann er dort in seiner Position Salz sein. Aber das ist etwas anderes, als dass ich den Auftrag hätte, dort das Salz hinzubringen.

Es ist natürlich abschreckend, wenn man bei W.J. Ouweneel liest:

Ich bin zu der Einsicht gekommen, dass in dem Denken vieler Christen tatsächlich ein großes Stück reiner Gnostik sitzt. Damit meinen wir in diesem Fall – Gnostik hat viele Bedeutungen –, dass Christen das Böse vor allen Dingen in bestimmten Lebensbereichen suchen. Die „böse Welt“ ist dann ein bestimmtes „Terrain“ außerhalb der Kirche – wir sprechen sogar von „Kirche und Welt“ –, wo Sünde und Satan herrschen.

Wer möchte schon gerne in solch eine Schublade gesteckt werden! Aber ich glaube heute, dass uns die Schrift schon Bereiche deutlich macht, in die der Herr uns führt, und solche, in die Er uns nicht führt, weil Er daran keinen Anteil hat.

Wenn der Herr den sich um das Erbe streitenden Brüdern ihr materialistisches Denken vorstellt, dann haben wir darin ein Muster dafür, was es heißt, das Licht der Welt zu sein. Er ließ sein Licht auf das Herz dieser Menschen strahlen und zeigte auf, was sich darin vorfand. Das tat auch Johannes der Täufer, als er Herodes bezüglich seiner unehelichen Beziehung ansprach. Aber wir lesen nicht, dass Johannes eine große öffentliche Proklamation gemacht hätte: „Johannes hatte ihm [persönlich] gesagt: Es ist dir nicht erlaubt, sie zu haben“ (Mt 14,4).

Nicht zuletzt fragt man sich natürlich auch – wenn man die Aktivitäten eines „wiedergeborenen Christen“ in Regierungsverantwortung in den letzten Jahren beobachtet hat –, ob dieses Verhalten der christlichen Wahrheit, statt ihr Aufwind zu geben, nicht in viel höherem Maß geschadet hat, ja zum Teil sogar „stinkend“ gemacht hat.

Insgesamt bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass nach der Schrift die charakteristischen Aktivitäten eines himmlischen Menschen – und das ist das Typische für einen Christen – nicht in der Politik, ja nicht einmal in der Wissenschaft, Kunst, Kultur oder auch der Wirtschaft liegen. Diese Gedanken werden tiefer entfaltet in dem Artikel „Christen und Politik“ von H.P. Medema aus dem Jahr 1980 – leider habe ich ihn erst dieses Jahr gefunden –, den ich jedem Leser wärmstens ans Herz legen möchte zum Lesen, da er aus meiner heutigen Sicht die überzeugendsten Begründungen für die Stellung des Christen zur Politik bietet.

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