Wann ist ein Mann ein Mann?
Wie es sein könnte

Lawrence J. Crabb

© Brunnen-Verlag, online seit: 23.11.2006, aktualisiert: 30.03.2020

Einleitung

Noch keine zwei Jahre verheiratet. Und schon war ihm zum Davonlaufen. Er war verunsichert, wütend, hilflos. Er wollte nur noch eines: mit seinem Vater reden. Der würde ihn verstehen. Wenn er jetzt nur bei ihm sein könnte. Vater würde ihn freundlich ansehen, er würde Anteil nehmen und ihn trotzdem voll Respekt behandeln. Er würde nicht mit dem erhobenen Zeigefinger kommen, aber auch nicht die Augen verschließen.

Vater war immer sein Held gewesen, das gute Vorbild. Seit vierunddreißig Jahren glücklich mit derselben Frau verheiratet, seiner Mutter, einer Frau, die nie klagte, die immer zu Hause geblieben war. Er konnte sich noch entsinnen, wie sie einmal vorsichtig angedeutet hatte, sie würde gern im nahegelegenen Kinderkrankenhaus arbeiten – sie hatte Kinder wirklich gern –, aber Vater hatte das Ansinnen mit einem Lächeln vom Tisch gewischt und sie mit freundlichem Vorwurf daran erinnert, dass er durchaus in der Lage sei, die Familie allein zu versorgen.

Auch in der Gemeinde war Vater das beste Beispiel. Als Ältester war er jeden Monat beim Austeilen des Abendmahls dabei. Dann hatte er darum gekämpft, dass die wöchentliche Gebets- und Bibelstunde weitergeführt wurde, als der neue Hilfsprediger vorschlug, statt dessen Hauskreise einzurichten. Er trank nicht (das wussten alle), er gab getreulich seinen Zehnten, fast jeden Abend hielt er die Familienandacht, und seine drei Kinder waren alle wohlerzogen. „Deine Familie ist so ein gutes Zeugnis.“ Wie oft hatte er mit angehört, wie man das zu seinem Vater sagte, der dazu lächelte und Gott die Ehre gab.

Warum erschienen ihm die zwanzig Minuten Fahrt zum Haus seines Vaters heute nur so lang? Wieso spürte er diesen Druck auf der Brust?

„Vater“, fing er an, „ich muss mit dir reden. Meine Ehe ist eine Katastrophe. Ich weiß nicht, was ich machen soll.“

Das Lächeln. Dasselbe Lächeln, das seine Mutter vierunddreißig Jahre lang zu Hause gehalten hatte. Das andere als Zeichen der Demut betrachteten. Jetzt ging ihm zum ersten Mal auf, wie sehr er dieses Lächeln hasste.

Sein Vater begann zu reden. Er nannte zwei Buchtitel, gefolgt von dem Rat, Epheser 5 zu lesen, und dem Vorschlag, alles dem Herrn anzubefehlen.

„Aber Vater!“ Er schrie es fast. „Die Bücher habe ich schon gelesen, ich habe Epheser 5 studiert und gebetet, so gut ich es konnte. Du musst mir doch mehr sagen können!“

Sein Vater saß ganz still. Das Lächeln schwand und wurde von einem Blick abgelöst, der hätte töten können. Er hatte diesen Blick auch schon früher gesehen, aber nie war er auf ihn selbst gerichtet gewesen. Schweigen. Eine fast unerträgliche Spannung lag in der Luft. Dann erhob sich sein Vater ohne ein weiteres Wort und verließ den Raum.

„Damals“, so erinnerte er sich später, „habe ich zum ersten Mal erkannt, wie schwach mein Vater eigentlich ist.“

Wie sieht ein Mann aus, der sich völlig Gott ausliefert?

Manchmal frage ich mich, wie ein Mann aussehen müsste, der sich Gott völlig ausgeliefert hat. An der Wand über meinem Schreibtisch hängt ein Wort von D. L. Moody. Ich habe es eingerahmt und so aufgehängt, dass ich es ständig vor Augen habe:

Die Welt muss erst noch erleben, was Gott mit ihr und für und durch sie und in ihr tun kann, wenn ein Mann sich ihm ganz und völlig hingibt. Ich will alles tun, was in meiner Macht steht, um dieser Mann zu sein.

Ich lese gern Biographien, die Lebensgeschichten von Männern wie Oswald Chambers, C.S. Lewis, John Knox, Jonathan Edwards, Augustin, Paulus oder Jeremia. Doch wenn ich sehe, wie sie gelebt haben, dann bekomme ich den Eindruck, dass unsere modernen Vorstellungen über das Wesen männlicher Reife meilenweit entfernt sind von dem, was die frommen Männer früherer Generationen darunter verstanden und daraus machten.

Wir reden heute viel davon, dass wir verletzlich sein, dass wir den Mut haben sollten, unseren Schmerz zuzulassen. Sie schienen mehr daran interessiert, Gott anzubeten und ein Zeugnis zu sein. Wir sprechen von offener, ehrlicher Kommunikation und davon, unsere Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Sie erlebten den Zerbruch und fielen auf die Knie, und wenn sie sich erhoben, dann um zu dienen.

Ich frage mich, ob die Tugenden, die wir heute anstreben, den Männern damals so selbstverständlich zufielen. Wenn sie kämpften, dann gegen alles, was sie von Christus und einer tieferen Erkenntnis Seines Wesens fernhalten wollte.

Wir treffen uns in kleinen Gruppen, um über unsere Gefühle zu reden und Leitlinien aufzustellen, wie wir an unseren Beziehungen arbeiten oder unser Selbstwertgefühl aufbauen können. Sie unternahmen lange Wanderungen an der Seite älterer, erfahrener Männer, die am liebsten von Gott redeten und ganz unvermittelt ein Gespräch mit Ihm begannen.

Während seiner „dunklen Nacht der Seele“ (die mehrere Jahre dauerte) war Oswald Chambers einmal mit John Cameron, einem alten schottischen Freund, und zwei Hunden auf der Hasenjagd. Eigentlich wollten sie wirklich jagen, doch als sie an einer grasbewachsenen Böschung vorbeikamen, schlug Cameron vor, dass sie eine Pause einlegten und beteten.

„Wir knieten uns hin, und er betete“, beschrieb Chambers die Situation. „Dann begann ich zu beten, doch der junge Collie, der sich während des Gebetes des alten Mannes vollkommen still verhalten hatte, war nun der Meinung, ich müsste unbedingt mit ihm spielen, und begann, um mich herumzuspringen, mich anzustoßen und mein Gesicht zu lecken.“ Cameron erhob sich, packte den Hund fest im Nacken und sagte: „Pst, pst! Ich werde mich auf den Hund setzen, während du betest.“ Und das tat er auch. (David McCasland, Oswald Chambers, Abandoned to God, 1993. [Dt.: Oswald Chambers – Ein Leben voller Hingabe, 1994. S.79])

Die frommen Männer der heutigen Zeit begnügen sich zu häufig mit einem bequemen Gott, einem Gott, der sofort von Nutzen ist, und sie werden dabei von geistlichen Führern unterstützt, denen mehr am Jubel begeisterter Massen liegt als daran, in der Stille die Gemeinschaft mit Gott zu suchen. Die langlebigste Sünde in der Geschichte Israels wurde von König Jerobeam begangen (siehe 1. Könige 12, besonders die Verse 26-33). Er erleichterte dem Volk den Gottesdienst, indem er Gott auf einen lokalen, sichtbaren Götzen reduzierte; und er tat es allein, um seine eigenen Interessen zu fördern. Es funktionierte. Er gewann eine große Anhängerschaft und regierte Israel zweiundzwanzig Jahre.

Natürlich können große Massen auch positiv sein. Aber im Allgemeinen machen sie mir Angst. Gott wirkt viel öfter in der Stille, im Einzelgespräch oder auch im Austausch in kleinen Gruppen. Manchmal kann eine Massenveranstaltung der Auslöser sein, aber es besteht die Gefahr, dass wir das, was dort geschieht, als Endprodukt betrachten, wo es doch erst der Anfang sein sollte.

Große Massen helfen dem modernen Mann, sich wie ein Mann zu fühlen. Ob wir unsere Fußballmannschaft anfeuern oder den Namen Jesu hinausrufen, alles ist uns recht, um die eigene innere Leere zu übertönen. In der Menge fühlen wir uns als echte Männer.

Männer früherer und heutiger Generationen

Die Männer früherer Generationen dagegen führten oft jahrelange innere Kämpfe, die häufig erst dann abnahmen, wenn sie sich Christus noch völliger hingaben, nicht wenn sie während irgendeiner Großveranstaltung von einer neuen Woge der Begeisterung erfasst wurden oder in einer Therapie neue Erkenntnisse über sich selbst erlangten. Sie kamen zur Freude am Herrn, wenn sie an ihrer Sünde schier zerbrachen und diese Verzweiflung sie noch tiefer in die Arme Gottes trieb. Sie hielten dem Wirken des Geistes Gottes stand und lernten Christus so immer näher kennen. Sicher, manchmal geschah das auch in großen Versammlungen, weitaus öfter jedoch in langen Zeiten des einsamen, inbrünstigen Gebets.

Man könnte einwenden, dass der heutige Mann im Bereich der Beziehungen einfühlsamer ist als unsere gestrengen Vorfahren. Vielleicht verstehen wir es wirklich besser, mit unseren Frauen, Kindern und Freunden zu „kommunizieren“. Vielleicht haben wir besser begriffen als frühere Männer, dass der echte Mann beides ist: stark und zartfühlend. Und das haben wir zu einem großen Teil der modernen Psychologie und Seelsorge zu verdanken.

Doch all die Fortschritte der modernen Gesellschaft bleiben weitgehend wertlos, weil darüber bei den meisten Menschen der Kontakt zu Jesus Christus zu oberflächlich geworden ist. Es fehlt ihm die Tiefe, die nur durch unerklärliches Leid, durch Verzweiflung, Zerbruch und tiefe Reue entsteht.

Dieses Buch [Das Schweigen der Männer – siehe unten!] will ein Aufruf sein, auf die alten Wege zurückzukehren. Wir wollen dabei die guten Elemente, die das moderne christliche Denken uns geschenkt hat, nicht aufgeben. Aber wenn wir uns wirklich selbst finden wollen, dann ist mehr gefragt – dann müssen wir uns an Christus verlieren. Ich wünsche mir, dass wir alle eigenen Bemühungen, wie wir unsere Probleme lösen, den Schmerz lindern und unser Selbstwertgefühl stärken können, beiseiteschieben! Ich möchte, dass wir die Bühne freimachen für Christus; dass wir uns so ausschließlich auf Seine Macht und Schönheit konzentrieren, dass jeder andere Gedanke davon durchdrungen wird.

Ihn anbeten, zu Ihm beten, in der gesamten Schrift nach Ihm suchen, am eigenen Stolz und der lauen Hingabe zerbrechen und sich vor Ihm demütigen, darauf warten, dass Er uns mit Seinem Geist erfüllt, Ihm so aufrichtig und mit einer Leidenschaft dienen, hinter der alles andere zurücktritt – das sind die alten Wege, zu denen wir zurückkehren müssen.

Ich bitte Sie, beim Lesen nie eine ganz einfache Wahrheit aus den Augen zu verlieren: Wer ein echter Mann werden will, muss zuerst ein Mann Gottes werden. Heute bemüht man sich mehr darum, sein Mannsein zu entdecken, als Gott zu suchen. Zu viele Männer begehen diesen Fehler. Sie versuchen herauszubekommen, was Maskulinität bedeutet und das Gelernte in die Praxis umzusetzen. Dabei vernachlässigen sie ihre Beziehung zu Gott. Lieben wir Christus, oder ist unsere Liebe zu ihm mehr gespielt und schwankend als echt und beständig? Wachsen wir so in der Heiligung, dass andere (und besonders unsere Familien) dadurch zu Christus hingezogen werden, oder wollen wir mit unserem Eifer – und unserem Angepasst-Sein – bei den anderen höchstens Eindruck schinden?

… mehr von Christus in den Bann ziehen lassen

In Rons Gemeinde gab es eine Männergruppe, die sich einmal in der Woche am frühen Morgen traf. Man redete über die sexuellen Kämpfe, über Spannungen in der Familie und Probleme bei der Arbeit. Man sang und betete, man nahm sich in die Arme, und manchmal weinte man miteinander. Man hatte sich verpflichtet, ganz offen zu sein. Wenn Ron von einem dieser Treffen kam, dann war er ganz neu motiviert, es als Mann mit seiner Welt aufzunehmen. Er war darum nicht wenig erstaunt, als seine Frau ihn eines Tages bat, die Gruppe nicht mehr zu besuchen. Die Auswirkungen gefielen ihr nicht. Sie hatte das Gefühl, er komme jedes Mal eher begeistert als zärtlich zurück, als gehe es ihm mehr darum, das, was er als richtig erkannt habe, nun auch durchzuziehen, als wirklich auf Familie und Freunde einzugehen.

All unsere Bemühungen, männlicher zu werden, werden uns nicht zu echten Männern machen, solange es uns nicht darum geht, vor allem Gott die Ehre zu geben. Und wenn wir meinen, wir könnten Christus an einem Wochenendseminar finden, dann kann dabei nichts Tiefgehendes herauskommen. Christus finden, das ist ein langer, harter Kampf, bei dem unser Stolz zerbrechen muss. Er führt in die Verzweiflung und durch sie hindurch zu einer unbeschreiblichen Freude des Geistes und dann durch noch tiefere Verzweiflung zu noch größerer Freude. Wer diesen Kampf vermeiden will, der erlebt nur eine oberflächliche Reue. Er konzentriert sich auf Dinge, auf die es letztlich gar nicht ankommt. Er wird nie dahin kommen, sich selbst so weit einzubringen, dass er anderen von der befreienden Liebe weitergeben kann.

Ron verließ die Gruppe. Er begann sich zum Frühstück mit einem älteren Mann aus seiner Gemeinde zu treffen, den er zwar schon seit Jahren kannte, mit dem er aber nie näheren Kontakt gehabt hatte. Ron hatte ihn oft beten hören. Seine Gebete waren anders. Es war, als würde er sich mit einem lieben Freund unterhalten. Fast vier Monate lang traf sich Ron mit diesem Mann, eine Zeitlang sogar wöchentlich. Er bat ihn, aus seinem Leben, seiner Ehe, von seiner Beziehung zu Gott zu erzählen. Der Mann brachte immer seine Bibel mit, und wenn er sie aufschlug, dann wirkte er wie ein Großvater, der voller Stolz die Bilder von seinem ersten Enkelkind aus der Brieftasche zieht. Als es dem älteren Mann nicht mehr möglich war, sich regelmäßig mit Ron zu treffen, war Rons Frau enttäuscht.

Männer, die es lernen, sich mehr von Christus in den Bann ziehen zu lassen als von sich selbst – das sind die wahren Männer unserer Zeit. Unsere Generation muss es lernen, die Kosten der Nachfolge zu überschlagen (die Rechnung ist ganz einfach: die Nachfolge kostet alles, was wir haben); wir müssen ganz neu spüren, wie leer wir innerlich sind, bis uns kein Preis zu hoch scheint, den Kontakt zu Gott zu suchen; wir müssen den Einflüssen einer „christlichen“ Gesellschaft widerstehen, der die Entdeckung des eigenen Ich und die Selbstverwirklichung wichtiger erscheinen als die Hingabe an Gott. Kurz, es muss uns mehr darum gehen, Christus kennenzulernen, als uns selbst zu finden.

Wenn das geschieht, dann könnte es sein, dass in dreißig Jahren mehr Kinder in der älteren Generation echte Männer finden, Männer Gottes und wahre Vorbilder. Vielleicht verlockt es dann auch sie, Gott mit ganzem Herzen und von ganzer Seele zu suchen, weil sie an uns sehen, was Entschlossenheit und befreite Liebe vermögen.

Ein Traum

Ich habe einen Traum. Die Zeit muss zeigen, ob er wirklich von Gott kommt. Ich meine aber ja.

Es ist ein recht einfacher Traum. Ich blicke dreißig Jahre weiter und sehe: Hier und da in der christlichen Landschaft finden sich ein paar Gruppen, in denen ein von Gott geprägter Charakter und geistliche Weisheit mehr gelten als akademische Grade und besondere Fertigkeiten und höher geachtet werden als Leistung oder Fachwissen.

Ich sehe eine Gemeinschaft angefochtener Menschen. Sie leiden unter allen Übeln, die das Leben in einer Welt, für die wir so nicht geschaffen wurden, mit sich bringt, und kämpfen gegen Neigungen und Triebe, die wir so nie fühlen sollten. Ich sehe Menschen, deren Ehe kaputt ist, deren Kinder alle Hoffnungen auf ein glückliches Familienleben zunichtegemacht haben, die keine Kontrolle über ihre Gefühle haben, die nachts stundenlang wach liegen und von Erinnerungen an unsäglichen Missbrauch gequält werden. Sie kommen sich abgelehnt vor und sind davon so verletzt, dass ihnen zumute ist, als habe man ihnen bei lebendigem Leibe das Herz aus der Brust gerissen. Sie hassen sich selbst wegen der perversen sexuellen Triebe, die sie immer wieder heimsuchen. Sie sind nahe daran, unter der Last der nie enden wollenden Einsamkeit die Hoffnung aufzugeben.

In meinem Traum sehe ich diese Menschen etwas tun, was heute im wirklichen Leben nur selten vorkommt. Ich sehe, wie sie an der Praxis eines Therapeuten vorbeigehen, dessen Ausbildung zwar fachliche Kompetenz, aber keinen göttlichen Charakter garantiert. Ich sehe sie Bücher in den christlichen Buchladen zurückbringen – Bücher, deren Titel versprechen, was nur später im Himmel zu haben ist. Ich sehe, wie sie den Handzettel, der für das Seminar wirbt, von dem alle reden, nehmen, kurz überfliegen – und dann wieder zurücklegen.

Ich sehe diese Menschen in das Zimmer der einsamen Witwe stolpern, ich sehe sie ins Café gehen, um ein paar Stunden mit dem alten, müden Witwer zusammenzusitzen. Ich sehe sie an die Tür eines Studierzimmers klopfen, in dem jemand auf sie wartet, der weiß, was Demut ist, und der sich nach dem Himmel sehnt; jemand, der ihnen den Weg zu Christus zeigt, ohne sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen.

Ich sehe eine Generation, in der es keinen solchen Mangel mehr an Mentoren gibt, in der Pastoren und Gemeindeälteste wieder geachtet werden, weil sie ihrer Gemeinde wirklich Hirten und Vorbilder sind. Von christlichen Leitern wird dann nicht mehr verlangt, ihren Dienst so zu tun, wie ein Direktor seine Firma leitet, sondern sie werden vielmehr als Männer verehrt, die eine besondere Beziehung zu Gott haben.

Wenn ich genau hinsehe, dann entdecke ich im Volk Gottes ein ganzes Heer von weisen Männern und Frauen, die mit nichts anderem ausgerüstet sind als freundlicher Urteilskraft und durchdringender Weisheit; Eigenschaften, die im Feuer des Leidens herausgebildet wurden. Sie haben einen Preis gezahlt, den zu zahlen nur wenige bereit sind. Und das über Jahre hinweg und ununterbrochen. Diese Männer sind wahre Väter, diese Frauen sind Mütter, von Gott geprägte Menschen, deren stille Gegenwart man spürt und schätzt.

Ein junges Ehepaar schrieb mir voller Verzweiflung: „Wir sind seit sechs Jahren verheiratet, und es klappt einfach nicht. Können Sie uns einen guten gläubigen Therapeuten in unserer Nähe empfehlen?“

Warum wendet sich dieses Paar an mich, einen geschulten, diplomierten Psychologen, statt einen Ältesten aus seiner Gemeinde um Rat zu bitten? War es mein Titel, der sie anzog? Meine Art? Warum verlangen die meisten Menschen, wenn sie ein Problem haben, sofort nach „professioneller Hilfe“ ? Warum wenden sie sich nicht an kluge, gläubige Männer und Frauen? Die meisten würden sich wegen ihrer Panikattacken oder sexuellen Kämpfe genauso wenig an einen Ältesten ihrer Gemeinde wenden, wie sie ihren Pfarrer um eine Wurzelbehandlung bitten würden. Warum nur?

Unsere Gesellschaft ist dem verhängnisvollen Irrtum aufgesessen, dass sich unsere persönlichen Probleme ihrem Wesen nach nicht von den körperlichen unterscheiden. In beiden Fällen meinen wir, der Fehler könne nur von einem Experten behoben werden, dessen Wissen weit über die Weisheit der Bibel hinausreicht. Dabei haben wir völlig aus den Augen verloren, dass jedes nicht-körperliche Problem im Kern ein moralisches ist [Ich glaube nicht, dass alle persönlichen Probleme eine direkte Folge persönlicher, bewusster Sünde und durch noch größeren Gehorsam zu heilen sind. Eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem Thema findet sich in meinem Buch Von innen nach außen Basel, 1990.], dessen Wurzeln in der Beziehung des Menschen zu Gott liegen.

Wir haben in der Folge eine Generation von Therapeuten herangezogen, ein Heer von Beratern, die darauf geschult sind, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, die sie kaum selbst verstehen, weil sie die meiste Zeit im Hörsaal gesessen und versucht haben, Experten zu werden, statt in der Nähe Gottes zu lernen, wie man ein wirklicher Ältester wird. Wir haben kein Interesse daran, Mentoren hervorzubringen, weise Männer und Frauen, die wissen, wie sie zum Kern der Dinge vorstoßen können, und die Stärke haben, mit Gottes Hilfe die Fehler beim Namen zu nennen.

Wenn der Traum wahr würde

Wenn mein Traum wahr würde, dann hätte das Konsequenzen für unsere gesamte Kultur. Wie ein Erdbeben die Landschaft dramatisch verändert, so würde dieser Traum unsere liebsten Strukturen von Grund auf umgestalten und all die fest verwurzelten Vorstellungen, wie unser Leben auszusehen hat, zum Einsturz bringen.

Alles Nichtmaterielle würde sich verändern. Dinge, die auf wissenschaftlichen Tatsachen und empirisch geprüften Verfahren basieren, wären natürlich nicht betroffen. Chirurgische Methoden und statistische Berechnungen für den Bau von Wolkenkratzern wären nicht in Frage gestellt, genauso wenig wie der sinnvolle Einsatz von Medikamenten bei Panikattacken, zwanghaften Persönlichkeitsstörungen oder manchen Fällen von Depression.

Aber wie wir Gemeinde „gestalten“, wie wir Leben beeinflussen, wie wir soziale und moralische Führung bieten, wie wir in unseren Familien oder Gemeinden miteinander umgehen, all das würde eine radikale Veränderung erfahren.

Der Grad der Berühmtheit wird nicht mehr wichtig sein. Ein paar Sätze von einem Ältesten werden mehr bedeuten als alle Geheimnisse erfolgreichen Lebens, die uns von einem renommierten Kommunikationstechniker an einem Wochenendseminar nahegebracht werden. „Große“ christliche Veranstaltungen werden sich auf Evangelisationen oder ernsthaftes Gebet, Anbetung oder biblische Unterweisung beschränken. Man wird den Abend im Wohnzimmer eines Mentors mehr schätzen als die Möglichkeit, einen Großanlass zu besuchen, der vor allem die Gefühle anspricht. Man wird wissen, dass Ersteres das Leben tiefer beeinflussen kann als das Zweite. Preisverleihungen in christlichen Veranstaltungen werden nicht mehr durchgeführt, als hätte Hollywood Pate gestanden. Wenn Ehrungen ausgesprochen werden, dann so, dass der Geehrte sich eher im positiven Sinne gedemütigt fühlt, als dass er wegen seiner Leistungen hochgelobt wird. Niemand wird Christus den Rang streitig machen wollen.

In meinem Traum sehe ich:

Eine Generation von Mentoren; weise, ältere Menschen, deren Rat zu den Herausforderungen des Lebens uns wichtiger ist als das Wissen ausgebildeter Spezialisten; von Gott geprägte Männer und Frauen, deren Stärke und Weisheit unsere Herzen mehr berühren als alle Erkenntnisse und Methoden der Experten.

Wenn mein Traum wahr werden soll, dann ist ein Wunder nötig, ein echtes Wunder Gottes. Kein sensationelles Pseudo-Wunder, aus dem eine Bewegung entsteht, sondern eines der soliden, tiefen Art, das eine Reformation in Gang setzt. Bewegungen hatten wir viele, Happenings, die die Menge in ihren Bann ziehen und es in die Schlagzeilen schaffen. Aber eine Reformation hat es schon seit einigen Jahren nicht mehr gegeben. Vielleicht wäre es an der Zeit.

Mein Traum lässt sich letztlich in einem einzigen Satz zusammenfassen, der ebenso schlicht wie inhaltsschwer ist: Wenn Männer wieder Männer werden, wird sich die Welt verändern. Natürlich gilt dasselbe für die Frauen: Wenn Frauen wieder Frauen werden, wird sich die Welt verändern. Man könnte – und sollte – in der Tat ein Buch schreiben über einen ähnlichen Traum, einen Traum, in dem ältere Frauen wieder Mütter werden und jüngere es lernen, Schwestern zu sein. Das wäre eine sinnvolle Ergänzung zu diesem Buch über geistliche Väter und Brüder.

In meinem Traum werden ältere Männer zu Vätern und jüngere zu Brüdern. Wenn die Männer in der ganzen Welt ihre Stimme wiederentdecken, ihre Kräfte einsetzen und wieder Freude daran finden, Gottes Ruf zu echtem Mannsein zu gehorchen, dann wird die Welt der Christen sich grundlegend ändern. Das ist mein Traum.

Wovor ich Angst habe

Aber ich habe auch Angst. Ich habe Angst vor genau den Dingen, die mir eigentlich Mut machen sollten. Ich habe Angst vor der Aufmerksamkeit, die das Thema Mannsein erhält. Ich habe Angst, dass alles Gute, das daraus vielleicht entstehen mag, einen Rückschlag erleidet und sich auf einmal herausstellt, dass diese ganze Männerbewegung auf Sand gebaut ist.

Ich habe Angst, dass wir uns den drängenden Problemen in uns, die unser Mannsein entstellen und die nur durch eine langwierige und schmerzhafte Operation behoben werden können, nicht wirklich stellen. Dass wir unsere Ziele zu niedrig stecken, dass wir einem zu leichten Sieg hinterherrennen und nicht die tiefere Liebe zu Christus im Mittelpunkt steht.

Vielleicht begnügen wir uns mit einem Zerrbild echten Mannseins. Manchmal kommt es mir vor, als sei dieser Wunsch, „ein echter Mann zu werden“, nichts anderes als eine Modeerscheinung, eine Bewegung mit den üblichen Begleiterscheinungen: Begeisterung der Massen; Hoffnung auf neue Lösungsansätze; Redner, die es verstehen, die Zuhörer in ihren Bann zu ziehen; die gute Absicht begeisterter Zustimmung und die Ideen des gerade gängigen Gurus.

Was wir nicht brauchen, ist ein vorübergehender Ausbruch von Entschlossenheit und Begeisterung. Dagegen brauchen wir eine Reformation, das tiefe Wirken Gottes, das sich immer wieder im Zerbrach, in Reue, Standhaftigkeit und Freude äußert. Wir brauchen Vollmacht von Gott, um das Geheimnis zwischenmenschlicher Beziehungen auf einer Ebene zu durchdringen, wie Enthusiasmus und Slogans es nie schaffen können. Wir müssen uns Christus so bedingungslos ausliefern, dass alles, was Sein Geist in uns hineingelegt hat, wirklich freigesetzt wird.

Uns muss so sehr daran liegen, wirklich Mann zu werden, dass alles andere daneben seinen Reiz verliert und nur diese Berufung wichtig bleibt.

Wenn wir eine Generation von Mentoren werden wollen, wenn unsere Gesellschaft von Männern mit Charakter und Weisheit geprägt werden soll, die der nächsten Generation echte Frömmigkeit vorleben, dann müssen wir zunächst einmal herausfinden, wie ein Mann aussieht, wenn Christus in ihm Gestalt gewinnt.

In einer Zeit, in der Satan es so gut schafft wie nie zuvor, uns ein Zerrbild der Wirklichkeit zu verkaufen, in der wir den bequemen schmalen Weg mit dem noch schmaleren verwechseln, müssen wir zunächst einmal eine klare Vorstellung davon gewinnen, was das eigentlich bedeutet: das Wunder des Mannseins.


Aus dem Buch Das Schweigen der Männer, 1997, S.35–47
mit freundlicher Genehmigung des Brunnen-Verlages

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