Wahres Fasten
Jesaja 58,1-7

Sydney Long Jacob

© SoundWords, online seit: 20.07.2013, aktualisiert: 17.11.2022

Einleitung

Das Fasten wird oft in der Schrift erwähnt, nicht nur im Alten Testament, sondern auch im Neuen, und es hat offenkundig einen wichtigen Platz im Leben des Gläubigen, da es eins der drei Dinge ist, die der Vater besonders belohnen (bzw. vergelten) wird, wenn sie richtig getan werden (siehe Mt 6). Nicht zu fasten scheint eine große Abwesenheit geistlicher Macht nach sich zu ziehen (siehe Mt 17,21), während das Fasten oft im Zusammenhang mit besonderen Gelegenheiten des Sich-Gott-Näherns genannt wird. Es ist also sicherlich sehr ratsam nachzuforschen, was das Fasten nach Gottes Willen wirklich ist. Möge Gott uns bei dieser Nachforschung helfen.

Die Wörterbuchdefinition des Wortes, die uns seine gewöhnliche derzeitige Verwendung unter den Menschen nennt, lautet: „sich das Essens enthalten, hauptsächlich aus religiösen Gründen“. Die Christen betrachten es im Allgemeinen als buchstäblich dies bedeutend oder als Selbstverleugnung in verschiedenen Formen, die in der Verleugnung des Selbst als Ganzem gipfelt, d.h. einer Weigerung, uns selbst zu kennen oder zu bemitleiden oder uns um uns selbst zu kümmern; oder auch als Enthaltung von natürlichen Hilfsmitteln bei dem Dienst, den Gott uns aufträgt, wie zum Beispiel David, als er Sauls Rüstung ablehnte (1Sam 17,39), oder Esra, als er vom König keine Eskorte erbitten wollte (Esra 8,22), sondern sich aufs Fasten und aufs Gebet verlegte. Es ist nicht zu leugnen, dass die meisten dieser Gedanken insoweit wahr sind, aber Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken, sie sind außerordentlich wunderbar. Was sagt Er zu dem Thema? Es ist bemerkenswert, dass Er uns sowohl sagt, was es nicht ist, als auch, was es ist.

Das Fasten im Alten Testament

Jes 58,1-7: Rufe aus voller Kehle, halte nicht zurück! Erhebe deine Stimme wie ein Horn und verkünde meinem Volk sein Vergehen und dem Haus Jakob seine Sünden! Zwar befragen sie mich Tag für Tag, und es gefällt ihnen, meine Wege zu kennen. Wie eine Nation, die Gerechtigkeit übt und das Recht ihres Gottes nicht verlassen hat, fordern sie von mir gerechte Entscheidungen, haben Gefallen daran, Gott zu nahen. „Warum fasten wir, und du siehst uns nicht, demütigen wir uns, und du merkst es nicht?“ – Siehe, am Tag eures Fastens geht ihr euren Geschäften nach und drängt alle eure Arbeiter. Siehe, zu Streit und Zank fastet ihr und um mit gottloser Faust zu schlagen. Zurzeit fastet ihr nicht so, dass ihr eure Stimme in der Höhe zu Gehör brächtet. Ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe, etwa wie dies: ein Tag, an dem der Mensch sich demütigt? Seinen Kopf zu beugen wie eine Binse und sich in Sacktuch und Asche zu betten? Nennst du das ein Fasten und einen dem Herrn wohlgefälligen Tag? Ist nicht vielmehr das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: ungerechte Fesseln zu lösen, die Knoten des Joches zu öffnen, gewalttätig Behandelte als Freie zu entlassen und dass ihr jedes Joch zerbrecht? Besteht es nicht darin, dein Brot dem Hungrigen zu brechen und dass du heimatlose Elende ins Haus führst? Wenn du einen Nackten siehst, dass du ihn bedeckst und dass du dich deinem Nächstem nicht entziehst? [Die folgenden Verse sollten ebenfalls gelesen werden.]

Nun, das Ernste daran ist, dass diese Worte an diejenigen gerichtet sind, denen es erklärtermaßen gefiel, sich Gott zu nahen und Gerechtigkeit zu üben, und die sehr gewissenhaft äußerliche Rituale befolgten. Ihnen wird gesagt, dass ihr buchstäbliches Fasten und ihre äußerlich zur Schau getragene Entbehrung nutzlos und vergeblich sind und dass ihre Herzen völlig verkehrt sind.

Dann kommt der bemerkenswerte Teil des Aufrufs, denn nachdem sie erfahren, was das Fasten nicht ist, wird ihnen gesagt, was es ist; und sonderbarerweise ist es nicht, wie wir erwarten würden, eine Verneinung, sondern eine Bejahung. In anderen Worten: Es ist reine Menschenliebe (Philanthropie).

Nun können wir nicht verstehen, warum viele von der Menschenliebe sprechen, als wäre sie etwas Schlechtes. Zweifellos ist dieser Begriff (wie jeder andere Begriff, den Gott verwendet) auf traurige Weise missbraucht worden, aber die Abhilfe dagegen ist nicht, zu sagen, Menschenliebe sei wertlos, sondern wahre Menschenliebe zu erweisen.

Zweimal wird das Wort in der Schrift verwendet. In Titus 3,4 wird es übersetzt als „Menschenliebe unseres Heiland-Gottes“, und in Apostelgeschichte 28,2 wird es als „Freundlichkeit“ übersetzt. Weit davon entfernt, wertlos zu sein, ist die Menschenliebe das, was jeder wahre Christ haben muss. Er muss ein Nachfolger Christi sein und den Geist Christi haben. Was tat nun der Herr? Nie könnte jemand den Menschen solch eine Liebe erzeigen, wie Christus es tat. Gott war in all seinen Gedanken, aber Er gab sein ganzes Selbst hin für den Dienst am Menschen. „Der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45).

Das Fasten beim Herrn

Wenn wir in Bezug auf den Herrn ans Fasten denken, kommt uns im Allgemeinen sein vierzigtägiges Fasten, bevor Er seinen Dienst begann, in den Sinn. Aber der große Punkt für uns ist, dass sein gesamter Dienst einer des Fastens war. Denn während seine gesamte Seele sich in der Hingabe und im Gehorsam reinster Liebe zu Gott hin ausrichtete, verausgabte Er sich gänzlich für die Menschen, indem Er nie an sich selbst dachte oder für sich selbst sorgte und kaum Zeit fand, um auch nur zu essen, indem Er alle segnete, alle suchte, allen diente, allen Gutes tat und so in vollkommener Selbstverleugnung die Liebe zu den Menschen aufzeigte, die im Herzen des Vaters war.

Und doch schien Er den Menschen so wenig zu fasten, dass sie Ihn als ausschweifend bezeichneten, als Fresser und Weinsäufer, als Freund der Zöllner und Sünder (Mt 11,19). Er war frei, überall hinzugehen: zum Haus des Pharisäers, wenngleich Er dort nicht wirklich willkommen war; zum Haus des Zöllners und des Entwürdigten; aber immer, um zu geben, immer mit einer mit Salz gewürzten Gnade, immer in völliger Selbstverleugnung, um Gott zu verherrlichen und den Menschen Gutes zu tun.

Welch ein Leben des Fastens war sein Leben: alles für Gott, alles für den Menschen, nichts für sein Selbst. Und dennoch war sein Leben so verschieden von den Gedanken der Menschen, dass sie nicht verstanden, dass Er überhaupt fastete. Darin (wie in allem anderen) lebte Er das, was Er in Matthäus 6 (und an anderen Stellen) lehrte.

Das Fasten bei den Aposteln

Wie ist es mit den Aposteln? Sie sollten fasten, wenn der Herr weggenommen sein würde. Waren sie Sesseljünger und Kritiker oder verausgabten sie sich völlig im Dienst Christi für die Menschen? Sicherlich Letzteres.

Wir wissen nicht viel über das Leben der Zwölf, aber das Leben des Apostels Paulus wird uns detailliert vor Augen geführt, und es werden uns sogar die tiefsten Geheimnisse seines Herzens offengelegt. Oh, und wie er als ein Zeuge fastete: 1. Korinther 4,9-13; 2. Korinther 4,7-15; 6,3-10; 11,24-29 und zahlreiche weitere Textabschnitte. Doch trotz seiner wunderbaren Mühen, seiner Hingabe, Liebe und Selbstverleugnung mangelte es ihm nicht an Anklägern, die so weit gingen, diesen christusähnlichen Mann des zügellosen Wandels zu bezichtigen (siehe Apg 21,24[1]). Er wurde allen Menschen alles, wenn er auf irgendeine Weise einige retten könnte (vgl. 1Kor 9,22), und um dies zu tun, zerschlug er seinen Leib und knechtete ihn (1Kor 9,27), und doch hatten viele etwas an ihm auszusetzen und sagten, er wäre kein wahrer Apostel, und verunglimpften ständig seinen Charakter.

Er tat nichts betont auffällig, er suchte keine Anerkennung, er wollte keinerlei Ehre von den Menschen, er ertrug den Verlust aller Dinge in Treue Christus gegenüber, während er den Heiligen diente und den Sündern Segen brachte. Doch er war ein äußerst praktischer Mensch. Man sehe nur, wie er sich an Bord des Schiffes (Apg 27–28) verhielt, wie er sie alle ermutigte. Man sehe ihn, wie er auf der Insel Reisig zusammenraffte. Wenn er auf Menschenweise gefastet hätte, hätte er voller Ernst und Strenge abseits gestanden und die andern diese Dinge tun lassen. Doch seines war ein echtes Fasten, was nur Menschen, deren Augen offen sind, als solches erkennen können, denn bildlich gesprochen salbte er sein Haupt und wusch sein Gesicht (vgl. Mt 6,17), und so schien er in den Augen der Menschen nicht zu fasten. Er kümmerte sich unendlich mehr um die Seelen der Menschen als um ihre Körper, und doch vergaß er den Körper nicht, sondern erreichte die Seele durch den Körper (siehe Apg 20,33-35).

Wahres Fasten

Lassen wir diese Beispiele uns lehren, was echtes Fasten ist: nämlich von der Liebe Christi so gedrängt zu werden, dass wir uns in wahrer Hingabe an die Menschen verausgaben und so echte Nachfolger Christi sind. Niemand soll sagen, dass diese Dinge nicht auf christliches Niveau heranreichen. Die Ehre Gottes und der Segen der Menschen sind unauflöslich miteinander verbunden. Sie sind miteinander verflochten im gesamten Leben Christi, im Leben der Apostel und der Heiligen. Sie können nicht voneinander getrennt werden.

Die Verherrlichung Gottes beinhaltet den Segen der Menschen, und echter Segen für die Menschen geht nur einher mit der Verherrlichung Gottes. Manche Leute denken, sie könnten den Menschen Gutes tun und Gott außen vor lassen – ein grober Fehler. Aber es ist nicht weniger ein Fehler, zu denken, wir könnten Gott verherrlichen und den Menschen außen vor lassen. Das Maß unserer Liebe zu Gott ist unsere Liebe unserem Bruder gegenüber, und Sentimentalität ist in diesem Zusammenhang nutzlos. Eine Hingabe aus ganzem Herzen an das Wohlergehen der Menschen gemäß dem Willen Gottes ist das, was wir in der heutigen Zeit so sehr brauchen. Erkenntnis gibt es reichlich, und es herrscht kein Mangel an eloquenter Rede. Doch Leben, die von der Liebe zu Gott und den Menschen entbrannt sind, sind sehr, sehr selten, und an diesem Mangel gehen wir zugrunde.

Doch nur wenige erkennen solch ein Leben, wenn sie ihm begegnen. Die meisten suchen nach dem äußerlichen Gebaren, nach etwas, was den Menschen im Fleisch anspricht, während das echte Fasten den Menschen nicht als Fasten erscheinen wird; der Fastende wird sich nicht anmerken lassen, was er tut: Er wird einfach sein, natürlich, fröhlich, ungekünstelt, herzlich, liebevoll, freundlich und praktisch. Er wird seine linke Hand nicht wissen lassen, was seine rechte Hand tut. Mit anderen Worten: Er wird nicht nur nicht nach Anerkennung seitens der Menschen streben, sondern, was noch wichtiger ist, er wird sich selbst keine Anerkennung zollen. Er wird alles aufgeben, ein Diener aller sein, das Wohl aller suchen, dabei aber sagen (und denken): „Ich habe nichts getan, es hat kein Opfer gegeben, auf meinem ganzen Lebensweg ist alles Gnade und Liebe mir gegenüber gewesen.“ Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles. Die Liebe vergeht niemals, weil sie nicht das Ihre sucht (siehe 1Kor 13); alles, alles ist für Gott, und weil es für Gott ist, ist es deshalb für den Menschen, der nach Gottes Ebenbild geschaffen ist.

Möge Gott uns Leute erwecken, die auf diese Weise wahrhaftig fasten, denn das Fasten ist nichts Negatives, sondern tätige Liebe.


Originaltitel: „Fasting“
aus „Part 3: Collected Writings“
in Faithful Sayings, London (The Central Bible Truth Depot) ca. 1912, S. 141–146
Quelle: http://stempublishing.com/authors/Jacob/Jacob_Fasting.html

Übersetzung: S. Bauer

Anmerkungen

[1] Anm. d. Übers.: In der englischen Übersetzung steht: „sondern dass du selbst ordnungsgemäß (= orderly, das Gegenteil von „zügellos“ = disorderly) wandelst und das Gesetz hältst“.


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