Mythos Wissenschaft (1)
Die Wissenschaft auf dem Prüfstand

Willem Johannes Ouweneel

© CLV, online seit: 30.01.2005, aktualisiert: 17.11.2022

Leitverse: 2. Timotheus 4,1-8

2Tim 4,1-8: Ich bezeuge ernstlich vor Gott und Christus Jesus, der Lebende und Tote richten wird, und bei seiner Erscheinung und seinem Reich: Predige das Wort, stehe bereit zu gelegener und ungelegener Zeit; überführe, strafe, ermahne mit aller Langmut und Lehre. Denn es wird eine Zeit sein, da sie die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern nach ihren eigenen Lüsten sich selbst Lehrer aufhäufen werden, weil es ihnen in den Ohren kitzelt; und sie werden die Ohren von der Wahrheit abkehren und sich zu den Fabeln hinwenden. Du aber sei nüchtern in allem, ertrage Leid, tue das Werk eines Evangelisten, vollbringe deinen Dienst! Denn ich werde schon als Trankopfer gesprengt, und die Zeit meines Abscheidens steht bevor. Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe den Glauben bewahrt; fortan liegt mir bereit der Siegeskranz der Gerechtigkeit, den der Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben wird an jenem Tag: nicht allein aber mir, sondern auch allen, die seine Erscheinung lieben.

Einführung

Dieser Abschnitt ist einer aus dem geistlichen Testament des großen Apostel Paulus. Es ist der letzte Brief, soweit wir wissen, den er in seinem Leben geschrieben hat, kurz vor der Zeit, da er von der römischen Obrigkeit hingerichtet wurde. Als ein geistliches Testament ist es geschrieben an sein geistliches Kind Timotheus. Und in diesen letzten Worten schreibt er über das, was wir oft die Endzeit nennen. Er spricht in 2. Timotheus 3 über die letzten Tage. Und dann in 2. Timotheus 4,3 spricht er über eine Zeit, „da sie die gesunde Lehre nicht ertragen“.

Und da kommt im vierten Vers ein ganz interessantes Wort zur Sprache: „Sie werden die Ohren von der Wahrheit abkehren und zu den Fabeln sich wenden“ [2Tim 4,4]. Das Wort Fabel ist eigentlich nicht ganz glücklich, normalerweise bedeutet das in der Literaturwissenschaft eine Erzählung, in welcher Tiere oder Pflanzen aufgeführt werden, als ob es Menschen seien, also sprechend und handelnd wie Menschen. Aber das Wort, das hier im Griechischen steht, kennen Sie alle, es ist das Wort „Mythos“. Nun, das finde ich ungemein interessant, dass Paulus hier sagt, dass in der Endzeit die Menschen die Ohren von der Wahrheit abwenden werden und sich mit den Mythen beschäftigen werden.

Warum ist das so interessant? Weil wir in einer Zeit leben, einer sogenannten modernen hochzivilisierten Zeit, in welcher viele Menschen glauben, dass sie endlich die Mythen überwunden haben. Das behauptet man in der Theologie, wo wir im vergangenen Jahrhundert gerade in der deutschen Theologie eine ganze Strömung gekannt haben, die für eine Entmythologisierung in der Bibel kämpfte. Die Bibel sei voller Mythen und die sollten aus der Schrift, ganz besonders aus dem Neuen Testament, entfernt werden, um dann die wahre Botschaft des Neuen Testaments aufzudecken. Und so hat auch die moderne Wissenschaft im Allgemeinen diesen Anspruch, sie mutet sich zu, viele Mythen im alltäglichen Denken des Menschen entfernt zu haben.

Es ist eine Zeit, in welcher die Wissenschaft mehr verherrlicht wird als je zuvor. Es ist eine Zeit, in welcher wir von Wissenschaftlern umgeben sind und unser ganzes Leben davon bestimmt wird. Man kann nicht einmal mehr in Ruhe geboren werden, da steht schon ein Wissenschaftler und schaut zu. Und wenn man stirbt, steht oft eine ganze Menge an Wissenschaftlern um dich herum. Und wenn du dich um eine wichtige Stellung bewirbst, so fällst du in die Hände von Psychologen, die erst einmal feststellen müssen, ob du dafür geeignet bist. Und unsere Politiker sind auch an Händen und Füßen gebunden von den Ökonomen, die feststellen müssen, ob das alles so richtig zu machen sei. Überall sind es die Wissenschaftler, die alles bestimmen, was wir tun und machen.

Die Wissenschaft ist der Götze unserer Zeit, ich hoffe, dass ich das so sagen darf. Wenn ein Nichtwissenschaftler etwas sagt, dann wird das nicht ernst genommen, das ist wohl Neid, Eifersucht usw. Ich habe mich in meinem Leben eingehend mit vier Wissenschaften beschäftigen dürfen. Eingehend ist etwas übertrieben, es ist schon schwierig, sich mit einer Wissenschaft eingehend zu beschäftigen. Das hängt mit dem Spezialismus unserer Tage zusammen. Ein Spezialist ist jemand, der fast alles weiß von fast nichts. Wenn ich einen Wunsch hätte, dann wäre es, fast nichts zu wissen von fast allem, aber das klingt auch schon überheblich.

Spezialismus ist eine gewaltige Gefahr; man hat den Überblick nicht mehr und traut sich selbst zu, alles zu wissen. Aber gut, so groß ist nun mal die Wissenschaft, so ausgedehnt. Viele Wissenschaften haben in meinem Leben eine große Rolle gespielt und wenn ich dann sagen darf, dass wir die Wissenschaft viel zu sehr überschätzen, übermäßig verherrlichen, sie als Götze verehren, dann hoffe ich, dass Sie mir das abnehmen können.

Zuerst möchte ich etwas sagen als Leitfaden in Verbindung mit diesem Vers: Dass viele sich in der Endzeit von der Wahrheit abwenden und sich zu den Mythen hinwenden. In Verbindung zu dieser Aussage, möchte ich etwas sagen über diese vier Wissenschaften, die in meinem Leben eine große Rolle gespielt haben.

Wissenschaftslehre

Zuerst bin ich Professor der Wissenschaftslehre, und Wissenschaftslehre ist ein Teil der Philosophie. Nach meiner Definition ist Philosophie nichts anderes als das Grundstudium über die Grundstrukturen, die Gott in der Schöpfung festgelegt hat. Die Grundstrukturen der Schöpfung herauszufinden ist die Aufgabe der Philosophie, es ist die Grundwissenschaft für alle anderen Wissenschaften.

Manche Christen sind gegen die Philosophie und senden trotzdem ihre Kinder auf Universitäten. Das ist wohl ein Höhepunkt der Unkenntnis, denn jede Wissenschaft stützt sich auf die Philosophie, da müsste man ganz konsequent sein und seine Kinder auch nicht zum Gymnasium und zur Universität senden. Nun gut, das nur am Rande erwähnt.

Die ganze Wissenschaftslehre ist also der Teil der Philosophie, der sich mit der Frage beschäftigt: Was ist das eigentlich: Wissenschaft? Was ist nun eigentlich die Aufgabe der Wissenschaft, die Möglichkeiten, die Grenzen der Wissenschaft, die Methoden der Wissenschaft? Nun, was ich darüber sagen möchte, aus diesem ganzen Bereich heraus diesen einen Punkt: Sehr lange Zeit haben wir geglaubt – ich sage wir, denn das war ein Mythos der ganzen westlichen Zivilisation –, dass Wissenschaft eine neutrale und unvoreingenommene, objektive Angelegenheit sei. Ich bin überzeugt, dass es auch heute noch manchen gibt, der es noch immer glaubt.

Aber die Wissenschaftstheoretiker, die Wissenschaftsphilosophen glauben das schon längst nicht mehr. Sie haben es im vorigen Jahrhundert geglaubt, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist dieser Glaube schnell verschwunden. Und die allgemeine Ansicht, die ich als Christ völlig teilen kann, ist, dass dieser Gedanke der neutralen, objektiven, unvoreingenommenen Wissenschaft ein Mythos ist. Die Sachverständigen glauben schon längst nicht mehr daran, nur die Fachwissenschaftler, die sich eben nicht mit der Philosophie beschäftigen und das große Publikum, die glauben noch daran. Es ist ein Mythos, und Philosophen der verschiedensten Schulen haben das nachgewiesen, und dies völlig zu Recht.

Was haben sie nachgewiesen? Dass Wissenschaft immer notwendigerweise von Voraussetzungen ausgeht, nicht nur jede Fachwissenschaft, sondern auch die Wissenschaft im Allgemeinen, auch das philosophische Denken. Voraussetzungen, die selbst letztendlich nicht mehr wissenschaftlich sind, die man Glaubensvoraussetzungen nennen könnte, sogar nichtrationale Voraussetzungen. Ich möchte nicht in Einzelheiten gehen. Ich kann diese Dinge nur streifen. In vielen Veröffentlichungen habe ich darüber geschrieben, keiner kann mir also vorwerfen, dass ich nur oberflächlich diese Sachen loswerden möchte. Aber es geht hierum, was diese Glaubensvoraussetzungen sind, und das teilen viele Philosophen nicht. Da kommt jetzt eine christliche Ansicht zum Vorschein, viele glauben eben nicht, was ich wohl glaube, nämlich dieses, dass diese Voraussetzungen letztlich religiöser Art sind.

Jeder Mensch ist ein religiöses Wesen. Das heißt nicht, dass jeder Mensch zur Kirche geht oder jeder Mensch einer gewissen Religion anhängt, das bedeutet nicht, dass er religiöse Handlungen vollzieht oder irgendetwas sonst. Es bedeutet dieses: Jeder Mensch, der eine mehr bewusst als der andere, ist in seinem tiefsten Inneren ruhelos auf der Suche nach etwas, das ihm Festigkeit, Sicherheit, Gewissheit in seinem Leben gibt, das ihm einen festen Grund bietet. Einen Grund, auf welchem er eine Weltanschauung bauen kann, wodurch die Dinge in seinem Leben dann irgendwie einen gewissen Sinn bekommen, wodurch das Leben letztendlich Sinn bekommt. Diese Sinngebung ist, wie gesagt, bei dem einen viel bewusster als bei dem anderen, aber irgendwie haben wir immer eigene Antworten auf die großen Lebensfragen. Und diese Suche nach dem Boden, nach dem Grund unserer Existenz nenne ich Religion. Der Mensch ist religiös, weil er außer sich selbst oder vielleicht sogar in sich selbst, aber irgendwie, irgendwo auf der Suche ist nach den Grundlagen seines Lebens oder nach den Grundlagen dieser Welt. Das nenne ich grundsätzlich religiös, der Mensch sucht nach Festigkeit.

Ob er nun ein Atheist ist, das macht nichts aus, Atheismus ist auch eine Religion. Akzeptieren Sie einmal für eine Stunde meine Definition, auch der Atheist geht nicht nur von dieser negativen Lebenshaltung aus, nämlich dass es keinen Gott gäbe, sondern ergänzt das mit einigen positiven Auffassungen. Der Materialist findet seine letzte Sicherheit darin, dass alles Materie ist und so könnte ich vieles aufzählen. Nun behaupte ich noch etwas, und alles, was ich von nun an behaupte, geht zurück auf meine Glaubensauffassung, denn was ich von anderen sage, das gilt auch für mich. Nämlich, dass mein ganzes Denken sowohl als Wissenschaftler wie auch als ganz normaler durchschnittlicher Mensch, auf Glaubensauffassungen zurückgeht. Also machen Sie mir nicht diesen Vorwurf, ich weiß das schon längst von mir, ich weiß das auch in Bezug auf alle anderen Menschen, es ist ein allgemein menschlicher Zug.

Und so gehört es zu meinen tiefsten Glaubensüberzeugungen, dass es in dieser Religion letztendlich nur zwei Richtungen gibt. Es gibt unzählige Richtungen, aber nur zwei, auf welche alle zurückzurühren sind. Die eine Richtung ist, dass der wahre feste Grund unsere Existenz ist, der wahre Grund des ganzen Lebens, der ganzen Welt, dass wir diesen Grund finden in Ihm, der der Schöpfer dieser Welt ist und Sich dem Menschen geoffenbart hat, in dem wahren Gott der Schriften. Das könnte ich die bibeltreue Richtung nennen, die Richtung, die grundsätzlich ausgeht von der Glaubwürdigkeit der Schrift, als der Offenbarung Gottes an den Menschen.

Demgegenüber gibt es zahllose andere Richtungen, aber all diese anderen Richtungen haben einen gemeinsamen Nenner, und der ist zu bezeichnen als „abtrünniger Nenner“. Grundsätzlich lehnen sie den Gott der Bibel ab, ob sie nun Atheisten sind oder Marxisten, Liberale oder Sozialisten, Konservative oder ich weiß nicht was. Wenn sie grundsätzlich den Gott der Schriften ablehnen, dann sind sie nach meiner Glaubensauffassung abtrünnig und das ist die Auffassung der Schrift. Sie sind von diesem Gott abgefallen, stehen Ihm feindlich gegenüber. Die Bibel sagt uns, dass es nur zwei Arten von Menschen gibt, solche die Gott wohl gesonnen sind und mit Ihm in Gemeinschaft, in Verbindung stehen und solche, die Ihm feindlich sind. Auch die sogenannten neutralen Menschen stehen Gott grundsätzlich feindlich gegenüber, denn es gibt keine Neutralität Gott gegenüber.

So wie es keine neutrale Wissenschaft gibt, gibt es keine neutralen Menschen. Also da sehen sie, das ist die Botschaft, die ich in meinem philosophischen Fachgebiet versuche zu übermitteln. Wissenschaft ist keine neutrale Sache, Wissenschaft geht zutiefst von Grundauffassungen über die Wirklichkeit aus, über die Wirklichkeit, in der wir leben. Und diese Grundauffassungen gehen letztendlich zurück auf zwei Grundorientierungen im Leben des Menschen. Entweder ist man dem Gott der Bibel zugewandt oder man steht dem Gott der Bibel abgeneigt, feindlich heißt das, gegenüber. Dazwischen gibt es nichts, bilden Sie sich bloß nichts ein, dazwischen gibt es nichts. Es gibt nur zwei Grundrichtungen. Sehen Sie, ich habe es hier mit Grundorientierungen im menschlichen Leben zu tun, nicht mit Theorien, nicht mit Auffassungen, die man auch formulieren kann. Grundorientierungen, das geht viel weiter, das geht dem Rationalen sogar voran. Das geht in das Existentielle des menschlichen Lebens hinein, das geht sehr, sehr tief. Nun, wenn ich das so sage, und ich habe das nur sehr oberflächlich gestreift, dann rede ich nicht nur von dem menschlichen Verstand, ich rede über das, was dem Verstand vorangeht.

Die Bibel hat dafür einen Ausdruck, und dieser Ausdruck ist das menschliche Herz. Sie dürfen das von mir aus auch den menschlichen Geist nennen oder die Seele, das macht alles nichts aus, es handelt sich ja nicht um Wörter. Aber die Bibel spricht von dem menschlichen Herz und sagt von dem Herzen zum Beispiel in Sprüche 4,23, dass man das Herz behüten soll, da sollte man sparsam mit umgehen, denn aus dem Herzen sind die Ursprünge, die Ausgänge des Lebens. Alles was ein Mensch tut, was er sagt, was er denkt, was er erlebt, was er empfindet, das geht letztendlich aus dem hervor, was die Bibel das Herz des Menschen nennt. Sie dürfen es auch anders nennen, das macht mir nichts aus. Aber das ist, wo der Mensch am „menschten“ ist, ein neues deutsches Wort. Wo das Eigentliche, Innerste des Menschen ist, wenn ich über die tiefste Grundorientierung des Menschen rede, dann hat das mit seinem Herzen zu tun. Wie steht es um sein Herz? Verstehen Sie, dass dieser Auffassung ein gewisses Menschenbild zugrunde liegt?

Ich gehe hier von einem gewissen Menschenbild aus. Das ist das Interessante in der Wissenschaft, alle Wissenschaften hängen miteinander zusammen, deshalb ist Spezialismus unvermeidbar, aber zur gleichen Zeit höchst gefährlich. Man überschaut immer weniger, man verliert die Fäden und letztendlich weiß man nicht mehr, was man macht, man hat die großen Linien verloren. Denn wenn es um das Menschenbild geht, dann gehe ich sofort zu der zweiten Wissenschaft hinüber, die in meinem Leben eine große Rolle gespielt hat.

Nächster Teil


Aus dem vergriffenen Buch Mythos Wissenschaft
mit freundlicher Genehmigung des CLV-Verlages www.clv.de

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