Missbrauch der freien Leitung des Geistes in den Zusammenkünften
Wie können Missstände behoben werden?

Harold Primrose Barker

© SoundWords, online seit: 08.12.2012, aktualisiert: 29.10.2022

Ich habe das Thema „Die offene Zusammenkunft und ihr Missbrauch“ nicht selbst gewählt. Unser Herausgeber hielt dieses Thema für sehr wichtig und bat mich ausdrücklich darum, das Thema zu behandeln.

Ich muss gestehen, dass ich dem Wunsch nur zögernd nachkomme. Es ist immer leichter, auf einen Missbrauch hinzuweisen, als Vorschläge zu seiner Abhilfe vorzubringen. Doch allein ein Feigling entzieht sich einer Aufgabe, nur weil er eine Abneigung dagegen hat. Deshalb rechne ich mit der Nachsicht des Lesers, während wir anhand der Bibel das Thema angehen.

Was bedeutet: „offene Zusammenkunft“[1]? Die Frage ist nicht unnötig, denn was den einen geläufig ist, muss, ohne dass es erklärt worden ist, nicht unbedingt als einleuchtend für andere angesehen werden. Wir benutzen die Bezeichnung „offene Zusammenkunft“ im Gegensatz zu festgelegten Vorträgen über Gottes Wort (sei es für Heilige oder Sünder), die durch jeden Diener Christi angesetzt werden können, um seinen eigenen Dienst auszuführen oder wo er auf Einladung der für die Zusammenkünfte Verantwortlichen entweder allein oder mit anderen dient. Genau genommen ist eine „offene Zusammenkunft“ nicht speziell für das Gebet oder für irgendeinen anderen bestimmten Zweck angesetzt, sondern sie ist eine Stunde, in der alle Anwesenden auf die Leitung des Herrn warten in Bezug auf Beteiligung durch Gebet, Anbetung oder Schriftlesung oder Dienst am Wort.

Kein sorgfältiger Leser von 1. Korinther 14 wird die Kühnheit haben zu leugnen, dass dies das Merkmal der Versammlungen in Korinth zur Zeit der Apostel war. Das Vorhandensein von Wundergaben – obwohl es überhaupt nicht wesentlich war für so eine Versammlung – scheint (wenn die Gabenträger nicht vom Herrn geleitet waren) zum Missbrauch und der darauf folgenden Unordnung beigetragen zu haben. Der Missbrauch und die Unordnung waren sogar schon damals offensichtlich. Wenn Gott auch der Urheber der Freiheit war, die die Versammlungen der Heiligen in Korinth auszeichnete, dann war Er aber sicherlich nicht der Urheber der Verwirrung, die aus dem Missbrauch entstand.

Obwohl die wöchentliche Mahlfeier einen bestimmten Zweck hat, ist sie mit Recht „offen“ gelassen für die Leitung des Herrn – so glauben wir. Diese Stunde kann besonders leicht missbraucht werden durch diejenigen, die mehr einen Segen für sich selbst erwarten, als dass sie das Gedenken an den Herrn im Sinn haben. Diese Leute schlagen oft ein unpassendes Lied vor oder danken auf eine Weise, die kaum übereinstimmt mit dem einfachen Anlass der Stunde. Die Abhilfe besteht natürlich darin, ein tieferes Bewusstsein für die Gegenwart des Herrn zu haben – denn wo selbst nur zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen, ist Er in der Mitte – und ein besseres Verständnis von dem Anlass, zu dem wir uns zum Brotbrechen versammeln, nämlich um Seiner selbst zu gedenken.

Aber als der Herausgeber um eine Ausarbeitung über die „offene Zusammenkunft“ bat, dachte er wahrscheinlich mehr an die gut besuchten Versammlungen in verschiedenen Orten bei besonderen Gelegenheiten: an gesetzlichen Feiertagen oder anderen Tagen, wenn die Gläubigen aus der Umgebung – befreit von den alltäglichen Beschäftigungen – sich an einem bestimmten Ort versammeln können, gewöhnlich für zwei Veranstaltungen, unterbrochen durch einen Imbiss. Bei solchen Versammlungen kommt Missbrauch am häufigsten vor. Der Missbrauch ist im Allgemeinen viererlei Art:

  1. Ungebührliche Eile, aufzustehen, um zu dienen, ein Wettlauf zum Podium. Die, die wissen, was es heißt, auf die Leitung des Herrn und den richtigen Zeitpunkt zu warten, werden sich dann nicht mehr beteiligen.
  2. Ungeeignete Redner, die sich beteiligen, mit dem einzigen Ergebnis, ihre bedauernswerten Zuhörer zu langweilen und zu frustrieren. Solche Redner sind oft ganz schnell am Pult und hindern damit diejenigen, die die Versammlung wirklich erbauen könnten.
  3. Übermäßige Länge [der Rede] von einigen, die ichsüchtig übermäßig Zeit in Anspruch nehmen. Wenn sie, gelinde gesagt, rücksichtsvoll wären, würden sie anderen Brüdern, die genau wie sie selbst spüren, dass sie eine Botschaft vom Herrn haben, Zeit übriglassen.
  4. Ein Umgang mit 1. Korinther 14,29 [„Propheten aber lasst zwei oder drei reden, und die anderen lasst urteilen“], als wenn es sich um einen toten Buchstaben handelte.

Wie können diese Missstände behoben werden?

Es geht vor allem um die Frage, ob die „offene Zusammenkunft“ am geeignetsten ist für Gelegenheiten wie diese. Die versammelte Gesellschaft setzt sich zusammen aus Leuten aus verschiedenen Orten. Im Allgemeinen befinden sich dort viele Jugendliche, Christen aus unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften und nicht selten unbekehrte Menschen. Genau genommen ist es keine „Gemeindestunde“.[2] Die Mehrheit der Anwesenden kommt auf Einladung von solchen, die in örtlicher Verantwortung stehen, und sind deren Gäste. Daher ist es in vielen Fällen üblich, dass diejenigen, die das Wort vor der Versammlung ergreifen, das auf eine Einladung hin tun sollten; zwei oder drei Redner am Nachmittag sowie am Abend. Das schützt natürlich nicht gegen Missbrauch einer offenen Zusammenkunft, sondern schafft sie direkt ab. Es liegt ganz an der Zuständigkeit jener, die Zusammenkünfte zu solchen bestimmten Gelegenheit vorbereiten und berufen, zu entscheiden, ob die Zusammenkünfte „offen“ sein sollten oder ob nur bestimmte, eingeladene Redner das Wort ergreifen sollten.

Falls entschieden wird, dass die Versammlungen offen sein sollten, dann lasst sie auch wirklich offen sein. Diejenigen, die die Versammlungen einberufen, sollten nicht nach Norden, Süden, Osten, Westen schreiben, um ihre bevorzugten Redner einzuladen in der Hoffnung, dass diese das Wort ergreifen. Alles, was nach Unechtheit aussieht, ist verabscheuungswürdig, nicht nur in Gottes Augen, sondern ist auch allen aufrichtigen Menschen zuwider. Heuchelei in irgendeiner Form ist abzulehnen. Sieht es nicht fast wie Unaufrichtigkeit aus, „offene“ Zusammenkünfte anzukündigen und doch besondere Redner von außerhalb einzuladen?

Angenommen, es soll eine wirklich offene Versammlung abgehalten werden: Dann könnte es helfen, sich gegen Missbrauch zu schützen, wenn einer der Veranstalter oder ein Ältester zu Anfang ein paar Worte sagen würde wie zum Beispiel:

Geschwister, wir sind hier, um auf den Herrn zu warten. Er tue mit uns, was Ihm gefällt. Wenn wir mit Ihm rechnen, dann können wir sicher sein, dass Er uns nicht enttäuschen wird. Wir wollen wirklich auf Ihn warten. Jeder Bruder, der sich mit ungebührender Eile erhebt, um zu sprechen, wertet damit bei denen, die wissen, was göttliche Leitung bedeutet, das ab, was immer er auch zu sagen hat. Niemand sollte sich einbilden, dass er, weil sein Herz voll ist von einer kostbaren Wahrheit, daher berufen sei, damit zu dienen. Es könnte sein, dass hundert Brüder da sind, deren Herz vor Verlangen brennt, mit anderen zu teilen, was sie selbst bewegt. Sie können nicht alle reden. Der Herr hat seine eigene Art und Weise, seine Leitung und seinen Willen kundzutun. Lasst uns auf Ihn warten. Einer nehme Rücksicht auf den anderen; denn wenn ein Bruder 40 Minuten lang spricht, versündigt er sich, da er damit jemand, der genauso wie er geleitet ist, hindern könnte, das Wort zu ergreifen. Denken wir doch an die Ermahnung in 1. Korinther 14,29: Wenn zu der Zeit der übernatürlichen Gaben angeordnet wurde, dass zwei oder drei der Propheten reden sollten, wie viel nötiger ist diese weise Regelung heutzutage!

Dass solch eine Ermahnung Eindruck machen würde, ist sehr wahrscheinlich. Dass sie vonnöten ist, wird niemand bezweifeln. Wir haben einen Bruder gekannt, der sich nach dem Anfangslied erhob, um zu beten, und dann seine Bibel öffnete und sprach, ohne sich zuvor hinzusetzen oder selbst einen Augenblick abzuwarten, ob irgendjemand anderes geleitet sei zu dienen. Wir haben solche gekannt, die fast eine Stunde lang sprachen. Sie machten es dadurch anderen, die vielleicht auch ein Wort vom Herrn mitzuteilen hatten, unmöglich, das Wort zu ergreifen.

Wenn eine anfängliche Ermahnung – so wie die, die wir vorgeschlagen haben – nicht beachtet wird, was soll man dann tun? Der Schreiber erinnert sich an eine bestimmte Zusammenkunft, bei der ein jung verheiratetes Paar dem Herrn anbefohlen werden sollte. Ein älterer und angesehener Bruder gab bekannt, dass es der ausdrückliche Wunsch der Heiligen sei, die Versammlung hauptsächlich mit Gebet zu verbringen, und sie müsse in einer Stunde beendet sein. Doch trotzdem sprachen zwei Brüder von außerhalb, einer nach dem anderen, 48 Minuten lang. Daher hatte nicht ein einziger Bruder der Gemeinde, zu der die Braut gehörte und wo sie bekannt und geschätzt war, eine Gelegenheit, seine Stimme im Gebet zu Gott zu erheben für sie und ihren Mann auf ihrem neuen Weg. Wenn dienende Brüder so handeln, wundern wir uns dann, dass solche, die vielleicht weniger Erkenntnis haben, sich nichts sagen lassen?

Welche Lösung haben wir? Die Antwort könnte folgende sein: Entweder die „offene Zusammenkunft“ aufgeben – außer für örtliche Anlässe, monatliche Versammlungen, um Gemeinschaft zu pflegen und ähnliche – oder von Zeit zu Zeit die Richtlinien der „offenen“ Zusammenkunft darlegen. Diejenigen, die die Regeln nicht beachten, sollten bestimmt, aber freundlich und brüderlich zur Rede gestellt werden.

Vor allen Dingen sollten solche, die erkennen, wie schwerwiegend die erwähnten Missbräuche sind, beten, dass die Geschwister ein besseres Verständnis bekommen in Bezug auf die Form solcher Versammlungen und alles, was damit zusammenhängt in der Gegenwart des Herrn. Wir können immer mit seiner Liebe und Treue rechnen, mit seiner gnädigen Geduld und Bereitschaft, uns dabei zu helfen.


Originaltitel: „The open meeting and its abuse“
aus Christ and the Assembly: Being Papers Issued as a Supplement to Scripture Truth, The Central Bible Truth Depot

Übersetzung: Christel Schmidt

Anmerkungen

[1] Anm. d. Red.: In Deutschland wird die englische „offene Zusammenkunft“ oft „Bibelkonferenz“ o.Ä. genannt.

[2] Anm. d. Red.: Manches hier Gesagte gilt allerdings (leider) auch für das, was in Deutschland „Wortverkündigungsstunde“ genannt wird und was bewusst als Gemeindestunde, wo man zu dem Herrn hin versammelt ist, angesehen wird.


Hinweis der Redaktion:

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