Mephiboseth
(K)eine Antwort auf grenzenlose Liebe

Sydney M. Anglin

© SoundWords, online seit: 20.09.2016, aktualisiert: 24.12.2020

Leitverse: 2. Samuel 9; 19

Die Gnade Gottes gegenüber dem Sünder ist – in Wort und Schrift – oft veranschaulicht worden durch die Geschichte der „Güte Gottes“, die David Mephiboseth erwies. Und so gesehen ist diese Darstellung so weit sicherlich sehr schön. Aber wir dürfen nicht bei irgendeiner Darstellung stehenbleiben, so als ob diese die Gnade Gottes in ihrem Umfang und in ihrer Fülle in gleicher Weise umschreibt, wie sie im Evangelium dargelegt wird.

Nicht alle Vorbilder oder Geschichten, die wir im Alten Testament finden, können – zusammengenommen – die Gnade, die Gott dem Menschen in Jesus Christus erwiesen hat, in angemessener Weise zum Ausdruck bringen, ebenso wenig das gesegnete Werk, das Jesus am Kreuz vollbracht hat, und die Erlösung, die Er vollbracht hat, wodurch Gnade „durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben herrschen“ kann (Röm 5,21).

Das muss man gut im Sinn behalten, wenn über Vorbilder und Geschichten gepredigt wird – wie wertvoll sie gleichwohl auch sein mögen. Man muss nur den Wunsch haben, mehr über sie nachzudenken und sie als Geschichten und Vorbilder zu würdigen, die unser Herz und unseren Sinn auf Ihn lenken, von dem sie reden, und auf den alles übertreffenden Reichtum von Gottes Gnade, die jetzt offenbart ist und als deren Gegenstand wir uns selbst erkennen sollten.

Aber dies wirft eine andere Frage von großer Wichtigkeit auf: Welche Wirkung hat diese Offenbarung von der Gnade unseres Gottes auf das Herz und weiter auf das ganze Leben und die Persönlichkeit? Ich möchte nun besonders diese Seite der Wahrheit (ich will sie die subjektive Seite nennen) betrachten, von der wir in Mephiboseth eine schöne und wertvolle Darstellung finden. Und wenn wir diese Seite der Wahrheit und ihre Darstellung in Mephiboseth bedenken, müssen wir da nicht eingestehen, wegen der Trägheit und Kälte unseres Herzens so wenig von der Liebe Gottes und Christi angerührt worden zu sein? Die uns erwiesene Gnade übertrifft in ihrer Größe und Ausstrahlung in Herrlichkeit und Segen weit diejenige, die Mephiboseth erfahren hatte. Er jedoch erwiderte diese Gnade, die auf sein Verhalten und seine Persönlichkeit Einfluss hatte, mit Herzenszuneigung gegenüber David. Sehen wir demgegenüber die hiervon geringe Wirkung der Gnade auf unsere persönliche Einstellung – sowohl was die Absonderung von der Welt angeht als auch unsere Hingabe an Christus und seine Interessen hier auf der Erde, wo Er zurückgewiesen wurde und weiterhin zurückgewiesen wird.

Wir tun gut daran, uns ernsthaft und ehrlich vorzuhalten, warum das so ist, und unser Herz vor Gott in Frage zu stellen und nicht „auf eine geeignetere Gelegenheit“ zu warten. Denn wenn es einen Grund dafür gibt, ist es gut, uns seiner zu vergewissern und nicht zu fürchten, ihn zu entdecken. Das ist ein gutes Gegenmittel; und zudem können wir nichts verbergen, denn der Tag kommt, an dem „die Überlegungen des Herzens offenbar werden“ (1Kor 4,5). Wir haben es wahrhaftig mit dem Gott aller Gnade zu tun, der jedes Herzensbegehren zu sich und Christus wertschätzen und empfehlen kann und bei dem es keine fehlerhafte oder eilige Beurteilung gibt, wie wir sie später bei David gegenüber Mephiboseth finden.

Andererseits täuscht Ihn kein gutes Auftreten, kein bloßes Bekenntnis, kein frommes Äußeres. „Alles ist bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben“ (Heb 4,13). Doch ein aufrechtes Herz, das seine Liebe wirklich kennt, würde nicht wollen, dass es anders ist. Für diese Menschen ist es ein großer Trost und Friede, dass Er alles in vollkommener Weise weiß und entscheidet.

Wir können uns vorstellen, welche Freude es für Mephiboseth gewesen wäre, wenn David die Wünsche und Beweggründe seines Herzens gekannt und in rechter Weise gewürdigt hätte, anstatt seine Lage schnell und argwöhnisch zu beurteilen. Aber wir wissen, dass diese Freude nur aus der treuen Zuneigung Mephiboseths zu David kam; da waren keine Falschheit des Herzens, keine selbstsüchtigen Beweggründe, keine Anpassung an die Umstände. Nein, da waren nur Einfältigkeit des Auges und Pflichttreue des Herzens, die der weltliche und eigennützige Ziba nicht verstehen konnte, der mit einem hinterlistigen Herzen nur „im Fleisch gut angesehen“ sein (Gal 6,12) wollte.

Lasst uns nun aber (zu unserem eigenen Nutzen bei der Anwendung auf uns selbst) herausfinden, was Mephiboseth so geformt hat, dass eine so schöne und gesegnete Frucht daraus entstand. Mehrere Umstände wirkten für dieses Ergebnis zusammen, und ebenso muss es bei uns sein, wenn solche Frucht hervorgebracht werden soll. David hatte ihm große und unverdiente Güte gezeigt. Mephiboseth gehörte zur Familie desjenigen, der ein Feind Davids war und ihn verfolgt hatte – Saul. Er war darüber hinaus arm und hilflos und er empfand es und nahm es an. Er war einer der „Armen im Geist“, der gesegnet werden konnte. Er hatte ein tiefes Empfinden für seine Stellung und seinen Zustand und dadurch ein tiefes Empfinden für die Gnade, die David ihm zeigte. Sein Herz war davon bewegt und dadurch gewonnen. Aber die Art und Weise, wie ihm die Gnade zuteilwurde, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden.

Weil die Natur und der Umfang der Gnade Gottes nicht richtig verstanden werden, mangelt es heute bei vielen, wenn es um die Frage der rechten Wirkung der Gnade in unserem Verhalten geht. Mephiboseth verstand die Art der Gnade, die er erfuhr, in rechter Weise und nahm den Platz ein, der ihm durch sie zugewiesen wurde; er hatte dadurch ständigen persönlichen Kontakt mit David. Es war nicht nur eine an ihm erwiesene gütige Handlung, sondern es war der Platz, der ihm diese Gnade gegeben hatte, durch die seine Seele zu David hingezogen wurde. Aufgrund dieser Position, in die ihn die Gnade versetzt hatte, konnte er ständig David sehen und genügend von ihm lernen, um in der Zuneigung zu ihm zu wachsen. Gleichzeitig erinnerte er sich aber, wo und was er einst war und wie groß die Gunst war, die ihn so nah zu David selbst und gleichsam in seine Gesellschaft gebracht hatte.

Wenn wir dieses nun mit der Gnade Gottes uns gegenüber vergleichen, möchte ich nochmals wie zu Anfang in Erinnerung rufen, dass alles, was David getan hatte und hatte tun können, nur sehr schwach ausdrückt, was wir empfangen haben. Tatsächlich ist es in mancher Hinsicht eher ein Gegensatz als ein Vergleich. Welche Liebe drückte David jemals gegenüber Mephiboseth aus? Keine, die wir wahrgenommen hätten. Seinem ruchlosen Sohn Absalom hatte David diese Liebe tausendfältig mehr erwiesen als Mephiboseth. Nun gut, dieser saß an Davids Tisch „wie einer von des Königs Söhnen, aber es bestand keine bewusste Verwandtschaftsbeziehung; kein „Adoptionsgeist“ auf der einen Seite und keine Gründung unveränderlicher Liebe auf der anderen.

Wenn wir nun die Wirkung auf Mephiboseths Herz und die Antwort durch seine Lebensweise vergleichen mit unserem entsprechenden Verhalten, so muss ich wiederum sagen, dass dies alles in uns große Beschämung hervorrufen sollte. Und warum haben wir eine so schwache Antwort auf eine so mächtige Gnade und grenzenlose Liebe? Kommt es nicht daher, weil wir die wahre Entfernung und den wahren moralischen Zustand, in dem wir uns befanden, in unserer Seele nicht ausreichend wahrgenommen haben? „Wem wenig vergeben ist, der liebt wenig.“ Und wiederum: Ist es nicht auch ein Grund dafür, dass die Natur der Gnade und Liebe und damit der Platz der Nähe, den die Liebe uns zugewiesen hat, in unserer Seele weder verstanden noch von ihr angenommen wurden? Wenn sie angenommen wurden, sollten wir uns in der uns bewussten Nähe desjenigen wiederfinden, der litt und für uns starb. (David erlitt niemals irgendetwas für Mephiboseth!)

Wenn wir diesen Segen annehmen, können wir ihn nur wahrhaft dadurch erfahren, dass wir den Tod Christi auf alles anwenden, was „dem alten Menschen“ dient. Wenn wir das Leben hier vorziehen, können wir nicht in der gegenwärtigen Freude des „ewigen Lebens“ sein – des Kreises von Segen, den sein Tod und seine Auferstehung uns schon jetzt geöffnet haben und in den der Heilige Geist unser Herz führen möchte, denn zu diesem Zweck wurde Er vom Vater gesandt.

Ich will die Erzählung von Mephiboseth in der Beziehung zu David in der Stunde der Zurückweisung Davids und dessen Trennung von dem Königreich nicht weiter in allen Einzelheiten verfolgen. In sehr wenigen Worten erzählt uns der göttliche Bericht, was ein treues und David hingegebenes Herz ausmacht, während er von seinem „rechtmäßigen Platz“ abwesend war (s. 2Sam 19,25). Wir sollten das nun bewundern und nach einer entsprechenden Antwort in unserem Leben auf die Tatsache trachten, dass unser Erretter und Herr hier zurückgewiesen und verunehrt ist.

Die weitere kurze Erwähnung Mephiboseths bei Davids Rückkehr und seine Antwort auf Davids eilige Entscheidung wegen der Erbschaft – wie wir in 2. Samuel 19,31 finden – sprechen wiederum in sehr deutlicher Weise von der ungeheuchelten und uneigennützigen Liebe zu David, die alles überwinden konnte, wenn nur David erhöht und geehrt wurde und Mephiboseth seine Gesellschaft wieder genießen und sich an ihr erfreuen konnte.

Alles dieses ist schön zu betrachten und voll Glück, darüber nachzudenken; es ist in Gottes Wort niedergeschrieben, damit Leser und Schreiber dieses ebenso tun und Nutzen daraus ziehen. Es sollte eine Herzensübung in uns bewirken, wie weit wir geformt und verändert wurden durch die Liebe, die „alle Erkenntnis übersteigt“ (Eph 3,18), und durch die freudebringende Gegenwart und Gesellschaft unseres gesegneten Retters und Herrn, des Vaters geliebten Sohn, an dem Er sein Wohlgefallen gefunden hat (und immer findet).

Möge unser Herz ausrufen:

Oh, richte unseren festen Blick
so gänzlich und allein auf Dich,
von Deiner Schönheit ganz erfüllt
auf nichts sich ablenkt unser Blick.


Originaltitel: „Mephibosheth“
aus The Christian’s Friend and Instructor, Jg. 24, 1897, S. 13ff.
Quelle: www.stempublishing.com/magazines/cf/1897/Mephibosheth.html

Übersetzung: Siegrid Prelle

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