Dispensationalistische oder bundestheologische Sicht? (3)
Jesaja 11

Willem Johannes Ouweneel

© SoundWords, online seit: 02.07.2005, aktualisiert: 17.11.2022

Anmerkung der Redaktion
Innerhalb dieses Artikels werden für die theologischen Denkrichtungen Abkürzungen benutzt. So bedeutet:
D: Anhänger des Dispensationalismus
B: Anhänger der Bundestheologie
Um innerhalb dieser beiden Gruppen noch zwischen extremen und gemäßigten zu unterscheiden, wird manchmal noch ein E für extrem oder ein G für gemäßigt davor gestellt.

Leitverse: Jesaja 10–11

Untersuchung einiger prophetischer Schriftabschnitte
nach dispensationalistischer und bundestheologischer Sicht

Jesaja 11

Gespräch zwischen einem Bundestheologen und einem Dispensationalisten:

D: Jesaja 11 ist für mich so ein Kapitel, von dem ich mir nicht vorstellen kann, dass ein bibeltreuer Christ das nicht wörtlich nehmen soll. So gut wie ich glaube, dass Vers 1 wörtlich erfüllt ist in der Geburt des Messias, so glaube ich auch an das wörtliche Friedensreich (Jes 11,3,5-10), an die Vernichtung des Antichristen, die Rückkehr und Wiedervereinigung von allen zwölf Stämmen (Jes 11,11-13), usw.

B: Für mich ist es genauso verwunderlich, dass ein bibeltreuer Christ nicht einsieht, dass Jesaja 11 einfach nicht wörtlich genommen werden kann. Wenn du zum Beispiel die Jesaja 11,6-8 (Friede und Harmonie) und Jesaja 11,14.15 (Streit und Gericht) wörtlich auffassen willst, werden sie miteinander im Widerspruch sein. Es ist deutlich, dass das Kapitel gerade geistlich aufgefasst werden muss.

D: Aber auch bei der geistlichen Auslegung hast du mit demselben scheinbaren Widerspruch zu tun! Bei der buchstäblichen Auslegung gibt es dabei allerdings überhaupt kein Problem: Das messianische Reich beginnt notwendigerweise mit Gericht, um die feindlichen Elemente aus dem Reich zu vertreiben und geht nach kurzer Zeit über in ein wahres Friedensreich von Harmonie und Gerechtigkeit. Das sehen wir deutlich in anderen Prophezeiungen, zum Beispiel Sacharja 14.

B: Aber wie willst du nun zum Beispiel alle Elemente in Jesaja 11,15 buchstäblich auffassen? Dort will Gott „das Seeungeheuer von Ägypten mit dem Bann schlagen“ und „seine Hand gegen den Fluss erheben mit der Glut seines Atems“. Das kannst du doch nur übertragen auffassen?

D: Oh, selbst in einer buchstäblichen Prophetie können natürlich symbolische Elemente vorkommen, zum Beispiel die normale Bildersprache. Mit demselben Problem hast du auch in Jesaja 40,3ff. zu tun, wo es um das buchstäblich Auftreten von Johannes dem Täufer geht, aber wo das Erhöhen jedes Tals und das Erniedrigen von Berg und Hügel klar als Bildersprache aufgefasst werden muss. Ich kann überdies nicht verstehen, warum du, der du die Prophezeiung über die Ankunft von Johannes und von Christus buchstäblich auffasst, doch dein Bestes tust, um die noch unerfüllten Prophezeiungen geistlich aufzufassen.

B: Weil das Neue Testament es deutlich macht, dass all diese Prophezeiungen einmal in der Kirche erfüllt werden, so dass sie allein geistlich oder übertragen verstanden werden können.

D: Aber das Neue Testament lehrt uns doch so etwas überhaupt nicht! Es werden manchmal wohl Parallelen gezogen zwischen der neutestamentlichen Kirche und dem Israel der Endzeit, aber das bedeutet nicht, dass solche Parallelen die definitive Enderfüllung der Prophezeiungen beschreiben sollen.

B: Warum sollen sie das nicht? Wenn ich zum Beispiel Römer 9,25-33 oder 1. Petrus 2,6-10 lese, höre ich da nichts über einen derartigen Unterschied zwischen einer „Anwendung“ auf die Gemeinde und einer „Erfüllung“ in dem zukünftigen Israel.

D: Warum muss das dabeistehen? Aus dem Vergleich der Prophezeiung und der Anführung davon können wir erkennen, ob es sich um eine Anwendung oder wohl um eine Erfüllung handelt.

B: Ich glaube, dass das eine künstliche Unterscheidung ist. Das Neue Testament legt das Alte Testament aus. Dadurch glaube ich, dass die noch nicht erfüllten Prophezeiungen alle erfüllt werden in der Kirche usw.

Wir beschränken uns in diesem Artikel auf fünf prophetische Schriftabschnitte … Und wir beginnen mit dem in obigem Gespräch genannten Abschnitt aus Jesaja.

Jesaja 10 und 11

Der Zusammenhang mit anderen Kapiteln

In den Tagen des Propheten Jesaja, der zur Zeit der jüdischen Könige Ahas und Hiskia lebte, war der große Feind von Juda das gerade an die Macht gekommene assyrische Weltreich. In Jesaja 7,17-25 warnt Jesaja König Ahas, dass nicht sein damaliger Feind Rezin und Pekach, sondern der König von Assur der eigentliche Feind des Volkes sein würde. In Jesaja 8,5-10 warnt Jesaja aufs Neue vor der sich nähernden Invasion von Assur in das Land Juda, aber verweist als Trost auf den schon in Jesaja 7,14 angekündigten Königssohn Immanuel. Abgesehen von der Frage, ob diese letzte Prophezeiung schon in den Tagen Jesajas eine Vorerfüllung gekannt hat, zweifelt die bibeltreue Exegese aufgrund von Matthäus 1,22-25 nicht daran, dass mit diesem Immanuel zutiefst der Herr Jesus gemeint ist. Das bedeutet, dass schon in Jesaja 7 und 8 der Einfall von Assur in eschatologischer Perspektive gesehen wird, nämlich im Licht der Wiederkunft von Jesus Christus.

Dasselbe geschieht in Jesaja 8,23–9,6, wo gegenüber der Drohung, die von Assur ausgeht, voll Trost hingewiesen wird auf das Kind, das geboren, den Sohn, der gegeben wird. Auch hier zweifeln wir nicht daran, dass der Messias gemeint ist. Der Angriff von Assur wird schließlich definitiv zurückgeschlagen werden nicht in den Tagen von Hiskia dem Sohn Ahas, sondern in den Tagen des Messias. Seine Herrschaft wird groß und sein Friede endlos sein, wenn Er auf dem Thron Davids sitzen wird und sein Königreich aufrichtet und die Grundlagen dafür Recht und Gerechtigkeit sind (Jes 9,6). Wie unterschiedlich B und D diesen Vers auch interpretieren wollen (einen Thron auf der Erde oder in dem Himmel, das Tausendjährige Friedensreich oder die neue Erde?), beide sehen in diesem Vers den Herrn Jesus, und beide sehen, dass dieser Vers in vollem Maße in Erfüllung geht bei dessen Wiederkunft.

Wenn wir nun einmal kurz Kapitel 10 und 11 überschlagen, dann sehen wir Assur auch in den folgenden Kapiteln in eschatologischer Perspektive. Ich nenne einige deutliche Abschnitte:

  • In Jesaja 19,23-25 beschreibt der Prophet eine merkwürdige zukünftige Wiederherstellung von sowohl Assur als auch Ägypten. Israel wird dann ein Segen in der Mitte der Erde sein, zwischen Ägypten und Assur. Nach D weist das hin auf das Friedensreich, wenn nicht allein Israel in seinem Land wieder hergestellt sein wird, sondern, wenn es auch eine Wiederherstellung für verschiedene Völker um Israel herum geben wird. B hat es hier schwerer. J. Ridderbos in seiner kurzen Erklärung über diesen Schriftabschnitt kommt nicht viel weiter als zu einem allgemeinen Hinweis nach Epheser 2,17.

    Wir haben hier eins von den zahllosen Beispielen für eine große Schwierigkeit bei B. Wo „Israel“ vergeistlicht wird zu „der Kirche“ im allgemeinen Sinn, da kann kein Unterschied mehr gemacht werden zwischen Israel, Juda, Jerusalem, Zion, usw. Alles verweist unabänderlich auf „die Kirche“. Aber das gilt selbst auch für die Nationen, die in dem Friedensreich gesegnet werden: Die gehören auch ohne Unterschied zu „der Kirche“. Den einzigen Unterschied, den B noch machen kann, ist zwischen messiasgläubigen Juden und Heiden. Dieser Unterschied wird dann auch unmittelbar angewandt, um eine Erklärung zu geben zur Wiedervereinigung von Juda und Ephraim und auch zum Unterschied, den die Propheten in dem messianischen Reich machen zwischen Israel und den Nationen. Aber jede weitere Nuancierung ist unmöglich. Was „Assur“ und „Ägypten“ in dem messianischen Reich vorstellen können, darauf hat B keine Antwort. Ridderbos suggeriert wohl noch, dass Ägypten eine wichtige Rolle in der früheren Kirchengeschichte gespielt hat – an Assur wagt er sich nicht einmal! –, aber die Tatsache, dass in der frühen Kirchengeschichte relativ viele Christen in Ägypten waren, ist natürlich ganz etwas anderes als eine eschatologische Wiederherstellung von Ägypten (und Assur) als solche. Hier lässt uns B einfach im Stich, wie man es auch dreht und wendet.

  • Jesaja 27 ist ein prächtiges Kapitel über die endgültige Erlösung von Israel aus der Hand der Weltmächte. Es soll „Wurzel schlagen, blühen und aufsprossen“ (Jes 27,6), und vor allen Dingen: „Die Ungerechtigkeit von Jakob soll gesühnt werden“ (Jes 27,9; angeführt in Römer 11,26 und auch da auf das buchstäbliche Israel angewandt!). Schauen wir nun einmal besonders nach Jesaja 27,12.13: Der Herr wird die Israeliten versammeln, sowohl die, die „verloren waren in dem Land Ägypten“ (die zehn Stämme) als auch die, „die vertrieben waren in das Land Ägypten“ (vgl. Jer 40–44), und sie „sollen kommen und sich niederbeugen vor dem Herrn auf dem heiligen Berg zu Jerusalem“ (vgl. Jes 11,15.16). Auch hier gibt uns B keine präzise typologische Auslegung davon, was speziell die Verlorenen in Assur und die Vertriebenen in Ägypten, die zurückgeführt werden nach Jerusalem, bedeuten sollen.

  • In Jesaja 30,30-33 und in Jesaja 31,8 wird der Untergang von Assur dem unmittelbaren Eingreifen des Herrn zugeschrieben. In diesem Zusammenhang ist Jesaja 30,4.5 besonders interessant: „So wird der Herr der Heerscharen zum Kampfe niederfahren auf den Berg Zion und auf dessen Hügel; wie fliegende Vögel, so soll der Herr der Heerscharen Jerusalem beschützen, beschützend retten und schonend befreien.“ Das scheint wohl ein deutlicher Verweis auf die Wiederkunft des Messias zu sein (siehe auch Jes 30,27!), ein Gedanke, der dadurch unterstützt wird, dass direkt darauf in Kapitel 32 eine schöne Beschreibung des messianischen Friedensreiches folgt: „Und siehe ein König wird regieren in Gerechtigkeit und Fürsten werden herrschen nach dem Recht …“ (Jes 32,1; vgl. auch V. Jes 32,14-20; 33,17-24; 35,1-10). Auch hier kann nicht daran gezweifelt werden, dass der Untergang von Assur, der in der Vernichtung des Lagers von Sanherib (Jes 37,36-38) eine Voraberfüllung fand, schließlich im vollsten Sinne bei der Wiederkunft von Jesus Christus, der Wiederherstellung von Israel und der Festigung des messianischen Reiches stattfinden wird.

Kapitel 10 und 11

Schauen wir uns nun Jesaja 10–11 an. Dort wird Assur die „Rute“ des Zorns Gottes genannt (Jes 10,5), eine Rute, die der Herr aufhebt gegen sein Volk, um es zu züchtigen wegen seiner Sünden. Aber diese Züchtigung ist nicht für Dauer; Gott hat sein Volk nicht definitiv abgeschrieben: „Doch es soll geschehen, wenn der Herr sein ganzes Werk auf dem Berg Zion und in Jerusalem vollendet hat, dass ich die Frucht des Hochmuts des Königs von Assur besuchen werde“ (Jes 10,12). Assur hat seine Erfolge vollständig seiner eigenen Kraft zugeschrieben und wollte sich selbst nicht bloß als ein willenloses Werkzeug in der Hand Gottes sehen (vgl. Jes 10,15). Deswegen kommt das Gericht nicht allein über Assur auf Israel, sondern letztendlich auch auf Assur selbst (Jes 10,17-27).

Dieses Gericht wird in die folgende eschatologische Perspektive gesetzt: Jesaja 10,20-22: „Und es wird geschehen an jenem Tage, da wird der Überrest Israels und das Entronnene des Hauses Jakob sich nicht mehr stützen auf den, der es schlägt; sondern es wird sich stützen auf den HERRN, den Heiligen Israels, in Wahrheit. Der Überrest wird umkehren […], der Überrest Jakobs zu dem starken Gott [… das ist der Messias; siehe Jes 9,5]. Denn wenn auch dein Volk, Israel, wie der Sand des Meeres wäre, nur ein Überrest davon wird umkehren“.

Was bedeutet diese Bekehrung eines „Restes“ oder „Überrests“ von Israel? Es gibt welche, die sagen, dass dieses Wort schon längst, nämlich in den Tagen von Hiskia, in Erfüllung gegangen ist. Ein Hinweis darauf scheint Jesaja 37,32 zu sein, wo in Verbindung mit dem Urteil über das Lager von Sanherib gesagt wird: „… denn von Jerusalem soll ein Überrest ausgehen, und von dem Berg Zion, was entkommen wird.“ Zweifellos können wir in Hiskias Tagen von einer Vorerfüllung reden. Aber Kapitel 10–11 (und auch Kapitel 31–35, wie wir gesehen haben) gehen weit darüber hinaus, dadurch dass sie die Bekehrung des „Überrests“ mit der Festigung des messianischen Reiches unter dem großen Sohn von Hiskia verbinden. Siehe auch den Schluss von Jesaja 37,32, der gleich ist mit dem von Jesaja 9,6: „Der Eifer des Herrn der Heerscharen wird dies tun.“

Fast alle Ausleger haben ein Auge für die eschatologische Perspektive von Jesaja 10,20-27. Aber, so betont B, dieser „Überrest“, der bekehrt wird, ist die ganze Kirche der neuen Haushaltung, oder er ist der Teil von Israel, der den Messias annimmt und so in die Kirche aufgenommen wird. D antwortet darauf, dass B hier folgende Punkte in Jesaja 10–11 übersieht:

  • Die Bekehrung des „Überrests“ wird nicht in der gegenwärtigen Haushaltung lokalisiert, sondern wird genau datiert: Sie hängt zusammen mit dem Untergang von Assur (Jes 10,24-34) und mit der Festigung des messianischen Reiches (Jes 11,1-10); das bedeutet: mit der Wiederkunft des Messias.

  • Es geht hier nicht um die Bekehrung von Juden als solche im Allgemeinen, noch viel weniger um die Bekehrung von Menschen im Allgemeinen, sondern um die Bekehrung von diesem spezifischen „Überrest“, der einen Teil ausmacht von dem durch Assur unterdrückten Volk und das nun aus den Klauen von Assur befreit wird. Die jetzt endliche Bekehrung des Überrests betrifft die Bekehrung der Israeliten, die in den letzten Tagen kurz vor der Wiederkunft des Messias unterdrückt werden durch das „Assur“ der Endzeit, das durch den Messias selbst gerichtet wird.

  • Das messianische Reich (Jes 11,1-10) ist nicht die gegenwärtige Haushaltung, sondern die Haushaltung, in dem Recht und Gerechtigkeit auf der Erde gefestigt werden, die Gottlosen ausgerottet werden (Jes 11,4), Gewalt und Blutdurst selbst aus dem Tierreich abgeschafft werden (Jes 11,6-8; selbst wenn man dies nicht buchstäblich auffassen will, dann verweisen diese Verse doch auf eine Zeit von allgemeinem Frieden und Harmonie, so wie die Welt sie noch nicht gekannt hat), die Erde voll sein wird von der Kenntnis des Herrn (Jes 11,9) und die Nationen die „Wurzel von Isai suchen werden, die als ein Panier der Nationen bestehen wird“, das ist der Herrn Jesus.

  • In diesem messianischen Friedensreich wird Israel bzw. Jerusalem der Mittelpunkt der Erde sein (Jes 11,11-16; vgl. Jes 2,1-5). Es ist hierzu sehr wichtig, zu sehen, dass hier in überhaupt keiner Weise die Rede davon ist, dass eine Vereinigung zwischen Juden und Nationen zu einer Kirche, einem Qahal (Wort für Gemeinde im AT) oder irgendetwas dergleichen – diese zwei Gruppen bleiben im Friedensreich deutlich unterschieden – stattfinden wird, aber desto mehr hören wir von einer Wiedervereinigung von „den Vertriebenen von Israel und den verstreuten Töchtern von Juda“, die alle versammelt werden von den vier Enden der Erde her. Das Bild von den stets deutlich unterschiedenen Juden und Nationen kann laut D auf überhaupt keine Weise in Harmonie gebracht werden mit der gegenwärtigen Haushaltung, worin
    • von einer Wiedervereinigung von Juda und Ephraim keine Rede ist – das kann auch nicht, denn es soll erst nach der Wiederkunft des Messias geschehen – und
    • messiasgläubige Juden und Heiden auf der Grundlage der Gleichheit zusammengefügt sind in der einen Gemeinde.

B über Jesaja

D findet es schon verblüffend, wie Ridderbos versucht, Jesaja 11 in den EB-Denkrahmen hineinzupressen. Ridderbos muss zugeben, dass es begreiflich ist, „dass die Chiliasten aufgrund von dieser und ähnlichen Prophezeiungen noch eine Volks-Bekehrung von Israel und eine Rückkehr nach Kanaan erwarten“. Aber unmittelbar danach lehnt er diese buchstäbliche Auslegung ab, weil die Verse 6ff. und die Verse 14ff., wenn sie buchstäblich aufgefasst werden müssen, sich einander widersprechen würden! Es kommt ihm nicht in den Sinn, dass Vers 14ff. den notwendigen Anfang des messianischen Friedensreiches beschreibt. Der Messias muss mit seinem Volk zuerst Krieg gegen seine Feinde führen, bevor Friede und Gerechtigkeit definitiv gefestigt werden können (vgl. Sach 14). Auch meinte Ridderbos, dass bestimmte Merkmale in Jesaja 15ff. „schwierig“ (also nicht unmöglich?) völlig buchstäblich gemeint sein können. Als ob er selbst nicht zum Beispiel Jesaja 40,3-5 buchstäblich in dem Auftreten von Johannes dem Täufer erfüllt sieht, auch wenn die Täler nicht buchstäblich erhöht und die Berge nicht buchstäblich erniedrigt wurden. Eine Prophezeiung kann also sehr gut buchstäblich erfüllt sein, auch wenn darin bestimmte „Merkmale“ vorkommen, die übertragen oder symbolisch gemeint sind.

Aufgrund dieser kleinen Anmerkung weist Ridderbos dann die buchstäbliche Interpretation dieses Abschnittes komplett ab und kommt mit seiner B-Vision nach vorne, ohne irgendeine Anstrengung zu unternehmen, um im Lichte von EB die Verse 11-16 sorgfältig Wort für Wort auszulegen. Ich weiß auch nicht, ob das überhaupt möglich ist; EB kann solche Schriftabschnitte nur vage und in allgemeinen Ausdrücken auslegen, und er darf es D dann auch nicht übelnehmen, wenn der das „weg-auszulegen“ nennt.

In dem Bild, das die Propheten von der Art und Weise malen, wie Israel und die Nationen während der Zeit des messianischen Friedensreiches zueinander stehen, ist nicht viel wiederzuerkennen, was mit dem gegenwärtigen Verhalten zwischen messiasgläubigen Juden und Heiden innerhalb der Gemeinde übereinstimmt. Oberflächlich gesehen mag da noch etwas Ähnliches sein, dadurch dass die Propheten sehen lassen, dass auch in dem Friedensreich viele Heiden als Proselyten dem jüdischen Volk beitreten werden (Jes 14,1; 56,3-7; Sach 8,23; 14,16-19). Das ist allerdings nicht die Situation, so wie sie in der Gemeinde besteht, sondern vielmehr die Situation, so wie sie im Alten Testament bestand. In Jesaja 56,6-8 schließen Fremdlinge sich Israel an, um mit ihnen den Sabbat zu halten, dem Herrn zu nahen auf seinem heiligen Berg und ihm Brand- und Friedensopfer zu bringen. Genauso war es im Alten Testament. Aber im Neuen Testament wird der Sabbat nicht gehalten, da gibt es keinen heiligen Berg mehr und da werden keine stofflichen Brand- und Friedensopfer mehr gebracht.

Nun kann man natürlich versuchen, dies zu vergeistlichen oder die Prophetie typologisch aufzufassen. Aber dann kann man immer noch von der gegenwärtigen Haushaltung nicht sagen, dass der messiasgläubige Heide übergeht oder sich einem wiederhergestellten und bekehrten (Überrest von) Israel anschließt. Vielmehr ist es so, dass der Überrest von Israel in der gegenwärtigen Haushaltung gerade sein eigenes Volk hat verlassen müssen, um überzugehen und sich der einen Gemeinde anzuschließen, die aus messiasgläubigen Juden und Heiden besteht, welche aufgrund von Gleichheit miteinander vereinigt sind.

Siehe Graphik [Klick aufs Bild]

Vorheriger Teil Nächster Teil


Übersetzt aus Israël en de Kerk, oftewel: Eén of twee volken van God? Confrontatie van de verbondsleer en de bedelingenleer, Vaassen (Medema) 1991

Weitere Artikel des Autors Willem Johannes Ouweneel (65)


Hinweis der Redaktion:

Die SoundWords-Redaktion ist für die Veröffentlichung des obenstehenden Artikels verantwortlich. Sie ist dadurch nicht notwendigerweise mit allen geäußerten Gedanken des Autors einverstanden (ausgenommen natürlich Artikel der Redaktion) noch möchte sie auf alle Gedanken und Praktiken verweisen, die der Autor an anderer Stelle vertritt. „Prüft aber alles, das Gute haltet fest“ (1Thes 5,21). – Siehe auch „In eigener Sache ...

Bibeltexte im Artikel anzeigen