Die moralische Herrlichkeit des Herrn Jesus (6)
Wie Er nichts von Menschen erbat

John Gifford Bellett

© SoundWords, online seit: 02.01.2006, aktualisiert: 25.01.2018

Leitverse: Lukas 22 u.a.

So wie Jesus während seines Dienstes sich vor dem Urteil der Menschen nie zu rechtfertigen suchte, so machte Er auch keinen Anspruch auf menschliches Mitleid in der Stunde seiner Schwachheit, als alle Mächte der Finsternis gegen Ihn losgelassen waren. Als Er der Gefangene der Juden und Heiden geworden war, flehte und bat Er in keiner Weise. Er rief weder das Mitgefühl seiner Umgebung an noch trat Er für sein Leben ein. Im Garten Gethsemane war sein Gebet zum Vater emporgestiegen; aber durch kein Wort suchte Er das Herz des jüdischen Hohenpriesters oder des römischen Landpflegers zu rühren. Alles, was Er in jener Stunde zu dem Menschen sagte, diente nur dazu, die Sünde ans Licht zu stellen, die der Mensch, sowohl Jude als Heide, im Begriff stand, zu begehen.

Ja, im Garten Gethsemane bat Er die Jünger, mit Ihm zu wachen; aber Er forderte sie nicht auf, für Ihn zu beten. Er verlangte nach ihrem Mitgefühl; Er schätzte es hoch in der Stunde der Schwachheit und der Angst und wünschte, dass die Herzen seiner Genossen in jenem Augenblick mit Ihm verbunden sein möchten. Ein solcher Wunsch bildete einen Teil der moralischen Herrlichkeit, die seine Vollkommenheit als Mensch ausmachte; aber obwohl Er diesen Wunsch fühlte und ihn den Jüngern zu erkennen gab, konnte Er sie dennoch nicht auffordern, zu seinen Gunsten vor Gott hinzutreten. Er wollte, dass sie sich Ihm geben möchten; aber Er konnte unmöglich von ihnen fordern, sich Gott zu geben für Ihn. Darum, wie gesagt, bittet Er sie, mit Ihm zu wachen, aber Er bittet sie nicht, für Ihn zu beten. Wenn Er kurz nachher das Wachen und das Beten vereinigt, so spricht Er von ihnen und zu ihrem Wohl, es handelt sich durchaus nicht mehr um Ihn. Er sagt: „Wachet und betet, auf dass ihr nicht in Versuchung kommet.“ Paulus konnte an seine Mitgläubigen schreiben: „… indem auch ihr durch das Flehen für uns mitwirket“ (2Kor 1,11), oder: „Betet für uns; denn wir halten dafür, dass wir ein gutes Gewissen haben“ (Heb 13,18). Aber das war nicht die Sprache Jesu, und ich brauche wohl nicht zu sagen, dass sie es auch nicht sein konnte. Aber ich wiederhole: Die Feder, die ein solches Leben für uns aufzeichnen und uns einen solchen Charakter vor Augen malen konnte, war geführt von dem Geist Gottes selbst. Er allein konnte so schreiben.

Jesus tat Gutes und lieh aus, ohne etwas zurückzuerwarten. Er gab, und seine linke Hand wusste nicht, was die Rechte tat. Niemals, bei keiner Gelegenheit, soviel ich weiß, machte Er Anspruch auf die Person oder den Dienst derer, die Er befreit oder geheilt hatte. Niemals leitete Er aus der durch Ihn bewirkten Befreiung von irgendeinem Übel die Verpflichtung her, Ihm zu dienen. Er liebte und heilte und rettete, ohne jemals eine Vergeltung zu erwarten. Er wollte nicht, dass der Gadarener, der sich „Legion“ nannte, Ihm folgte. Das Kind, das Er am Fuß des Berges heilte, gab Er seinem Vater zurück. Die Tochter des Jairus ließ Er im Kreis ihrer Familie. Den Sohn der Witwe zu Nain gab Er der weinenden Mutter wieder. Nicht einen von diesen allen forderte Er für sich. Und sollte Christus wohl etwas geben, um es wieder zurückzuerlangen? Ist Er, der vollkommene Meister, nicht der beste Vollstrecker seiner Worte: „Tut Gutes und leihet, ohne etwas wieder zu hoffen“ (Lk 6,55)? Die Natur der Gnade ist, anderen darzureichen, nicht aber sich selbst zu bereichern; und Jesus kam, damit in Ihm und in allen seinen Wegen die Gnade in ihrem unausforschlichen Reichtum und in der ihr eigentümlichen Herrlichkeit hervorstrahlte.

Er fand Knechte in dieser Welt; aber Er begann nicht damit, sie zu heilen, um dann seine Ansprüche an sie geltend zu machen. Er berief sie und teilte ihnen Gaben mit. Sie waren die Frucht der Energie seines Geistes und von Neigungen, die in ihren durch seine Liebe ergriffenen Herzen geweckt worden waren. Und als Er sie aussandte, rief Er ihnen zu: „Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebt“ (Mt 10,8).

Sicher, es gibt in den Zügen eines solchen Charakters etwas, was außerhalb des Bereichs menschlicher Begriffe liegt. Dieser Gedanke drängt sich uns immer wieder von selbst auf; und es ist lieblich, hinzufügen zu können, dass die moralische Herrlichkeit des Herrn oft in den einfachsten Formen ans Licht tritt, in Formen, die für die Begriffe und Sympathien des Herzens sofort verständlich sind.

Welch ein Gemälde! Wer vermöchte einen solchen Gegenstand bis in seine Tiefen zu erfassen, einen Gegenstand, der, wie andere bemerkt haben, zur Schau gestellt werden musste, ehe er beschrieben werden konnte! Es war der vollkommene Mensch, der einmal hier auf Erden in der Fülle jener moralischen Herrlichkeit seinen Weg ging, deren Strahlen der Heilige Geist in den Blättern der Evangelien aufgezeichnet hat. Es ist wirklich so, nächst der einfältigen, glückseligen und festen Gewissheit seiner persönlichen Liebe zu uns (die der Herr in unseren Herzen vermehren möge) gibt es nichts, was unser Verlangen, bei Ihm zu sein, brennender machen könnte als die Entdeckung dessen, was Er selbst ist. Ich habe jemand, der in den vier Evangelien die herrlichen, lichtvollen Wege des Herrn verfolgt hatte, mit einem Herzen voll Liebe und unter strömenden Tränen ausrufen hören: „Oh, dass ich bei Ihm wäre!“ Wenn es mir erlaubt ist, für andere das Wort zu nehmen, dann, geliebte Freunde, muss ich sagen, dass dieses es ist, was uns mangelt und was wir uns wünschen. Wir kennen diesen Mangel, aber wir dürfen auch hinzufügen: Der Herr kennt unseren Wunsch.

Anmerkung der Redaktion
Es wird berichtet, dass Bruder Bellett in seinen letzten Lebenstagen von einem seiner Freunde besucht wurde, der ihn in körperlich schwacher Verfassung antraf. Seine mageren Hände waren gefaltet, Tränen rannen über seine Wangen und er sagte: „Mein teurer Herr Jesus, du weißt, wie vollkommen ich mit Paulus sagen kann: Abzuscheiden und bei Christus zu sein … ist weit besser. Oh, wie viel besser! Ich sehne mich danach! Sie kommen und sprechen von einer Krone der Herrlichkeit – möchten sie aufhören; von den Herrlichkeiten, vom Himmel – möchten sie still sein! Ich wünsche keine Krone! Ich habe IHN selbst, IHN selbst! Ich werde bei IHM selbst sein! Ach, bei dem Mann von Sichar zu sein, bei dem, der stillstand, um Zachäus zu rufen, bei dem Mann von Johannes 8, bei dem Mann, der am Kreuz hing, bei dem Mann, der starb! Oh, bei IHM zu sein, ehe die Herrlichkeiten, die Kronen und das Reich in Erscheinung treten! Es ist wunderbar, wunderbar! Allein mit dem Mann von Sichar, dem Mann am Tor von Nain; und ich werde allezeit bei IHM sein! Nehmt diesen traurigen, traurigen Schauplatz, wo Er verworfen wurde, und gebt mir seine Gegenwart! Oh, der Mann von Sichar!“

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Aus The Moral Glory of the Lord Jesus Christ


Hinweis der Redaktion:

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