Die Lehre der Befreiung im Römerbrief
Römer 3–8

John Stuart Blackburn

© EPV, online seit: 06.03.2006, aktualisiert: 16.11.2022

Leitverse: Römer 3–8

Es ist oft gesagt worden, dass ein Christ keine großen Fortschritte macht und tatsächlich häufig keine wirkliche Heilsgewissheit erlangt, solange er nicht in gewissem Maße die Erfahrung der Befreiung gemacht hat. Ich benutze dieses Wort im Sinne von Römer 6,22 („von der Sünde frei gemacht und Gottes Sklaven geworden“) und Römer 8,2 („das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes“).

Aus diesem Grund ist es gut und angebracht, dass man so oft Erklärungen und Ermahnungen zu diesem Thema hört. Allgemein scheint man zu denken, den Schlüssel hierzu bilde die Unterscheidung von „Sünde“ in Römer 5,12–8,4 und „Sünden“ in Römer 3–5. (Allerdings kommt „Sünden“ im Plural in Römer 3–5 nur einmal vor, nämlich in Römer 4,7, und ebenfalls einmal in den späteren Kapiteln, und zwar in Römer 7,5. Natürlich trifft die genannte Auffassung trotzdem zu; denn man müsste auch die Pluralform „Gesetzlosigkeiten“ in Römer 4,7 einbeziehen.) Diese Unterscheidung zwischen „Sünde“ und „Sünden“ wird beispielsweise häufig so illustriert: „Sünde“ sei die Wurzel und „Sünden“ seien die Frucht oder „Sünde“ die Natur und „Sünden“ die Praxis. So weit, so gut. Aber die Frage, die ich in diesem Artikel stellen möchte, ist diese: Hat der Begriff der Sünde durch die Kapitel Römer 5–8 hindurch immer denselben Sinn oder gibt es zwei klar unterschiedene Bedeutungen?

Von W.J. Hocking wird berichtet, dass er in Vorträgen zur Ausbildung junger Leute im christlichen Dienst zu sagen pflegte: „Arbeitet ständig an Römer 1–8!“ Aus mindestens zwei Gründen war dies ein sehr guter Rat. Ein großer Teil der Gläubigen durchlebt die Erfahrungen von Römer 7 – eine Zeit tiefer Traurigkeit aufgrund der Entdeckung, dass sie, obwohl sie gläubig sind und um die Vergebung ihrer Sünden wissen, keine Kraft haben, den Sieg über die in ihnen wohnende Sünde zu erringen: „Denn das Gute, das ich will, übe ich nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht will, dieses tue ich“ (Röm 7,19). Für sich selbst den Ausweg aus dieser Dunkelheit und Qual zu sehen und dann auch anderen helfen zu können, ist schon Grund genug, ein offenes Ohr und Herz für die Belehrungen dieser Kapitel zu haben. Aber viele jüngere (und auch ältere) Gläubige scheinen der Vorstellung anzuhängen, dass, solange wir nur die Befreiung erfahren, die Lehre nicht von Belang sei. Als Antwort hierauf reicht sicher der Hinweis aus, dass, wenn der Geist Gottes uns in Römer 5 bis 8 so zahlreiche und detaillierte Belehrungen gegeben hat, wir diese auch benötigen und mit Gewissheit viel verlieren, wenn wir sie ignorieren. Mit all dem möchte ich den Leser auffordern, dieser Lehre unter Gebet die genaueste und sorgfältigste Aufmerksamkeit zu widmen, damit dieser Artikel jedem aufrichtig Suchenden mehr Klarheit geben kann.

Beginnen wir mit einer Illustration. Das ist insofern gerechtfertigt, als diese Illustration erstens selbst aus der Schrift stammt und zweitens der Lehre des Römerbriefes zeitlich vorausgeht und deshalb zu dem zählt, was „zuvor“ zu unserer Belehrung geschrieben wurde. Wir wollen drei Gelegenheiten unterscheiden, bei denen sich Israel während seiner im zweiten und vierten Buch Mose geschilderten Geschichte in einer scheinbar ausweglosen Situation befand:

  1. als sie mit dem Gericht Gottes, dem würgenden Engel und dem Tod der Erstgeborenen, konfrontiert wurden (2Mo 12);
  2. als es am Roten Meer scheinbar keinen Ausweg vor der Vernichtung durch den Pharao gab (2Mo 14); und
  3. als sie dem Tod durch die Schlangenbisse ins Auge sahen (4Mo 21).

Jedes Mal drohte der Schrecken sofortiger Vernichtung, bis Gott eingriff und sein Volk rettete.

Im ersten Fall handelte es sich um eine Frage zwischen Israel und Gott, die dadurch entstand, dass Israel dem Gericht Gottes unterworfen war. Die Antwort bildeten das Passahlamm und die Zusage Gottes: „Sehe ich das Blut, so werde ich an euch vorübergehen.“

Im zweiten Fall bestand das Problem zwischen Israel und dem Pharao, bis Gott durch Mose eingriff, die Macht des Pharao vernichtete und seine Sklaven in dem Sinne befreite, dass der Pharao keine Gewalt mehr über sie hatte. Gott hatte gesagt: „Lass mein Volk ziehen, dass sie mir dienen!“ Solange Israel sich in der Gewalt des Pharao befand, konnte es Gott nicht dienen. Nun sind sie aus der Gewalt des Pharao befreit. Werden sie jetzt Gott dienen? Wird sich nun zeigen, dass sie durch seinen Willen kontrolliert werden?

An diesem Punkt tritt eine neue Dimension in die Geschichte ein. Tatsächlich war Israel während der ganzen Wüstenreise unfähig, Gott zu dienen. Aber erst nachdem ihnen der Wille Gottes in Gestalt des Gesetzes offenbart worden war, wurde deutlich, dass es etwas in ihnen selbst, in ihrer eigenen Natur gab, was sie unfähig machte, Gott zu gefallen. Stattdessen gelüstete es sie nach den Früchten Ägyptens, sie brachen durch ihren Götzendienst sofort das Hauptgebot des Gesetzes und wanderten in der Wüste umher, obwohl der wiederholt zum Ausdruck gekommene Wille Gottes besagte, dass sie sofort in die Freuden Kanaans eingehen sollten. Das Ende ihres Umherziehens markiert die eherne Schlange. Nachdem ihr Ungehorsam gegenüber Gott durch das Schlangengift in ihren Adern symbolhaften Ausdruck erhalten hatte, empfingen sie durch den Glaubensblick auf diese eherne Schlange das Leben (4Mo 21).

In die dritte große Notlage geriet das Volk also, als es in Gefahr stand, dem Schlangengift zu erliegen. Der Tod schien unausweichlich zu sein, bis Gott eingriff und ihnen durch ein Ebenbild der todbringenden Schlangen das Leben gab.

Die drei Rettungen aus diesen ausweglosen Situationen können wie folgt zusammengefasst werden:

  1. Die erste Errettung bezog sich auf Schuld vor Gott;
  2. die zweite auf Knechtschaft unter der in Ägypten regierenden Macht;
  3. die dritte auf das Gift in den Israeliten selbst.

Und nun zur Anwendung auf Römer 3–8:

  1. Die erste Begebenheit illustriert unsere Sünden (Übertretungen, Gesetzlosigkeiten), die uns vor Gott schuldig machten (Röm 3,19).
  2. Die zweite verdeutlicht unsere Knechtschaft unter der Sünde als der Macht, die in der Welt regiert.
  3. Die dritte entspricht der Herrschaft, die die in uns wohnende Sünde über uns ausübt.

Unser Verständnis der vorliegenden Kapitel des Römerbriefes wird durch folgende Gedanken klarer werden:

  1. Zentraler Punkt der Belehrung von Römer 6 ist die Taufe. Alle Christen sind „auf Christus Jesus“ getauft worden (Röm 6,3). Man vergleiche diesen Vers mit 1. Korinther 10,2: „getauft in der Wolke und in dem Meer“. Diese Worte beziehen sich auf den Auszug Israels aus Ägypten, also genau auf das Thema unserer zweiten Illustration. Durch den Durchzug durch das Rote Meer wurde Israel einem neuen Dienst, einem neuen Gehorsam, einem neuen Führer unterstellt. Es ist daher keineswegs eine Phantasievorstellung, wenn wir 2. Mose 14 als eine von Gott beabsichtigte Illustration zu Römer 6 nehmen; denn beide Befreiungen haben ihren Mittelpunkt in einer Taufe. Auch die christliche Taufe unterstellt uns einem neuen Dienst, einem neuen, freudigen Gehorsam gegenüber einem neuen Führer, Jesus Christus.

  2. Kann ein Zweifel daran bestehen, dass Römer 8,3 – „in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde“ (das ausdrückliche Mittel zur Befreiung von der Herrschaft der in uns wohnenden Sünde) – die Aufmerksamkeit des Lesers auf die eherne Schlange lenken soll?

  3. Ich finde den Gedanken zwingend, dass es im Römerbrief vor Kapitel 7,17 keinen Hinweis auf eine „in uns wohnende Sünde“ gibt und dass dieser Ausdruck erst fällt, nachdem das Gesetz sein Werk getan hat. Ebenso wurde in Israel das Gesetz nach dem Durchzug durch das Rote Meer und vor der symbolischen Darstellung des Giftes in unserer Natur durch das Schlangengift gegeben. Es ist mit Sicherheit ungerechtfertigt, die Folgen dieser furchterregenden Entdeckung (dass nämlich das verheerende Prinzip der Sünde in uns selbst wohnt), die doch erst aus der Einwirkung des Gesetzes erwachsen, schon in einer Aussage wie „Haltet euch der Sünde für tot!“ in Römer 6,11 zu suchen.

Es ist lehrreich, die Gedankengänge miteinander zu vergleichen, in denen der Apostel unter der Leitung des Geistes diese beiden Dinge so deutlich herausstellt: die in der Welt herrschende und die in mir wohnende Sünde. Was Ursprung und Dasein der ersteren anbetrifft, argumentiert er von der Geschichte des Menschengeschlechts her. Die Sünde ist „in die Welt gekommen“ (Röm 5,12) und hat danach „geherrscht“ (Röm 5,21). Im Blick auf die furchterregende Entdeckung der „in mir wohnenden“ Sünde hingegen argumentiert Paulus nicht von der Geschichte der Menschheit her, sondern nimmt einen Prozess der Selbstbeobachtung und der Untersuchung eigener Erfahrungen als Grundlage, deren Wahrheit für die Erfahrung jedes Christen so tief beunruhigend ist (Röm 7,15-24). Indem er seine Erfahrungen untersucht, stellt er fest, dass das „Ich“, das will, keine Gewalt hat über das „Ich“, das vollbringt. Daraus schließt er, dass eine fremde Kraft, die Sünde, Wohnung in ihm genommen hat und seine Handlungen kontrolliert.

Ein Schema mag behilflich sein, diese Belehrungen in größerer Vollständigkeit zu erfassen. Auf jeder Stufe können wir

  • einen Aspekt der Notlage des Menschen ohne Gott unterscheiden,
  • dann einen Aspekt des Todes Christi als der Grundlage, auf der Gott segnen kann,
  • weiter das Mittel, durch das wir uns diese Befreiung zu eigen machen,
  • und schließlich einen Aspekt der großen Errettung selbst.

Dieser Artikel ist größtenteils der Auslegung gewidmet; aber wir können nicht oft genug an all das denken, was unser Thema für das Herz enthält. Das gilt besonders für die zweite senkrechte Spalte. Wenn das Auge die kurzen Worte überblickt, welche Wunder der hingebenden Liebe Gottes, welche Schätze der herablassenden Gnade Christi finden sich dort, die das Herz bewegen und den Lippen Anlass zu Dank und Anbetung geben! In Verbindung mit Römer 3 erduldete Er wie das Passahlamm den Schlag des Gerichts. Mit Römer 8,32 können wir hierzu rückblickend kommentieren: Gott hat „seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle hingegeben“.

Im Blick auf die Befreiung in Römer 6 lesen wir von der „Gnade Gottes“ und der „Gabe in Gnade, die durch einen Menschen, Jesus Christus, ist“ (Röm 5,15). Achten wir bei diesem Punkt besonders auf das Werk Christi, das heißt auf sein Werk zu unserer Befreiung von der Sünde als der Macht, die in der Welt regiert. Er ist „ein für alle Mal der Sünde gestorben“. Das bedeutet: Seine Reaktion auf eine von der Sünde beherrschte Welt bestand darin, dass Er sie durch den Tod verließ; und sein Tod wird nun auch der Ausweg für sein Volk. Diese Befreiung wird für uns Wirklichkeit, wenn wir uns durch Ihn „der Sünde für tot, Gott aber lebend“ halten. Wie könnte die Sünde, welcher Er gestorben ist, innewohnende Sünde sein? Bei Ihm gab es keine innewohnende Sünde. Der ganze Unterschied zwischen der Tragweite seines Todes in Römer 6,10; 8,3 bildet einen nicht geringfügigen Teil des Beweises dafür, dass das Wort „Sünde“ in beiden Versen in unterschiedlicher Bedeutung gebraucht wird.

Wir müssen noch kurz über die „in der Welt herrschende Sünde“ nachdenken. Findet dieser Ausdruck seine Bestätigung in der praktischen Erfahrung? Nach 1. Johannes 2,16 sind Lust und Hochmut „alles, was in der Welt ist“. Die in diesen beiden Prinzipien inbegriffene Sünde verdeutlicht, was es heißt, „Sklaven der Sünde“ zu sein. Was die Welt betrifft, regiert in der Tat die Sünde, zu der Lust und Hochmut die Menschen treiben. Wenn jemand als Sklave körperlicher Begierden, einschließlich Alkohol und Drogen, lebt, ist er offenkundig durch die Macht geknechtet, die in der Welt regiert. Diese Art von Knechtschaft unter einem bitteren Joch ist natürlich damit verbunden, dass der Betreffende auch ein Gefangener der in ihm wohnenden Sünde ist. Aber viele nehmen den Druck, den die überall als die beherrschende Macht erkennbare Sünde in der Welt ausübt, wahr, ohne je daran zu denken, dass die Sünde ebenso in dem Gläubigen selbst wohnt, wie sie die ihn umgebende Welt regiert. Es ist unwahrscheinlich, dass jemand die Befreiung von der Knechtschaft des Gesetzes der im Fleische wohnenden Sünde jemals gründlich erfährt, solange er nicht entschieden mit der Welt bricht. Tatsächlich bildet ein klarer Bruch mit dem früheren weltlichen Leben oft einen unmittelbaren Bestandteil der Bekehrung.

In Römer 8,3 findet das Herz wiederum die Wunder der Liebe Gottes in den Worten „Gott … seinen eigenen Sohn … sendend“. Unter diesem Aspekt bewirkt sein Tod, dass der Stachel der innewohnenden Sünde beseitigt wird, insofern Er den Tod unter dem Verdammungsurteil über die Sünde erduldet hat. Der praktische Nutzen der Belehrung dieses Abschnitts wird viel klarer, wenn wir den unermesslichen Unterschied zwischen den Auswirkungen des Todes Christi im Blick auf unsere Sünden (Röm 3) und die in uns wohnende Sünde (Röm 8) erblicken. Im ersten Fall werden unsere Sünden erlassen (Röm 3,25), vergeben (Röm 4,7) und deshalb von uns entfernt (Ps 103,12). Wenn wir hingegen entdecken, dass die Sünde in uns wohnt und deshalb ausrufen: „Ich elender Mensch! Wer wird mich retten?“, dann erfahren wir, dass Gott die Angelegenheit ganz anders geregelt hat. Er hat die Sünde nicht weggenommen, das heißt von uns „entfernt“ – noch nicht! Er hat uns vielmehr eine neue Kraft, eine viel größere Kraft gegeben, nichts Geringeres als den Heiligen Geist, der ebenfalls „in uns wohnt“. Wenn der Gläubige „nach dem Geist“ wandelt, erfährt er seine befreiende Kraft. Auf dem Boden ist ein Flugzeug der Schwerkraft unterworfen. Aber während des Fluges gewinnt die aerodynamische Kraft der Maschinen die Oberhand über die Schwerkraft und beherrscht nun das Flugzeug. So verhält es sich auch mit der in den Gläubigen wirksamen Kraft des Geistes. „Das Gesetz des Geistes des Lebens hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.“

Wir wollen mit einem Gedanken schließen, der uns helfen kann zu verstehen, wie sich die Befreiung auswirkt, so dass wir auch im praktischen Leben aus der Beschreibung, die uns Paulus in der Ich-Form gibt, Nutzen ziehen können. In Römer 7–8 scheint sich die Bedeutung des Wortes „Gesetz“ von einem aus Geboten bestehenden Gesetz zu der damit verwandten Vorstellung der „Kontrolle“ zu wandeln, wie sie bereits durch die entgegengesetzten Kräfte der Gravitation und der Aerodynamik illustriert wurde. Das Ziel einer Studie, wie wir sie unternommen haben, ist, dass der Geist Gottes uns befähigen möchte, in seinem Wort den Wandel „nach dem Geiste“ herauszufinden, wie er in Römer 8,5-15 im Einzelnen beschrieben wird; denn „die Gesinnung des Fleisches ist der Tod, die Gesinnung des Geistes aber Leben und Frieden“, weil Gott an einer solchen Gesinnung Wohlgefallen hat.


Originaltitel: „Die Lehre der Befreiung im Römerbrief“
aus Hilfe und Nahrung, Ernst-Paulus-Verlag, 1983, S. 69–79


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