Die Gebetsstunde
Vorrecht und Verantwortung des gemeinsamen Gebets

Henk Pieter Medema

© Bode, online seit: 07.05.2001, aktualisiert: 06.07.2023

Einleitung

Wie kommt es, dass an manchen Orten die Zusammenkünfte zum Gebet die am schlechtesten besuchten sind? Worin besteht das Vorrecht und worin die Verantwortung des gemeinsamen Gebets? Könnte es möglich sein, dass wir wieder lernen, gemeinsam zu beten?

Die Bedeutung des Gebets

Mit Sorgen und mit Grämen
und mit selbsteigner Pein
lässt Gott sich gar nichts nehmen,
es muss erbeten sein.

Aus diesem bekannten Lied werden oft die hier erwähnten Zeilen angeführt. Und manch einer mag sich dann vielleicht fragen: Warum will Gott gebeten sein? Möchte Er seine Geschöpfe vor sich in die Knie zwingen? Oder hat Er ab und zu nötig, von uns über den Stand der Dinge hier auf der Erde informiert zu werden? Natürlich nicht – alles, was wir Ihm sagen, weiß Er schon längst. Oder muss Er überzeugt werden, etwas zu tun, worauf Er von sich aus nicht gekommen wäre? Auch das kann natürlich nicht der Fall sein.

In der Bergpredigt weist der Herr Jesus diese beiden verkehrten Sichtweisen des Gebets ab. Wir brauchen unserem himmlischen Vater keine Information zukommen zu lassen: „Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe ihr ihn bittet“ (Mt 6,8). Und wir brauchen Ihn nicht zu überzeugen, dass Er in Tätigkeit kommen muss; das ist eine Vorstellung der Heiden: „Sie meinen, dass sie um ihres vielen Redens willen werden erhört werden“ (Mt 6,7).

Aber was ist denn dann der Sinn des Gebets? In diesem Artikel, der uns vor allem in praktischer Hinsicht einige Anregungen über das gemeinsame Gebet geben möchte, passt keine ausgedehnte Abhandlung über alles, was die Schrift zum Thema Gebet sagt. Dennoch möchte ich gern zunächst versuchen zu skizzieren, was das Gebet (so wie ich meine) in seinem Kern ist.

Der souveräne Gott und der abhängige Mensch

Gott ist Gott, und der Mensch ist der Mensch. Das ist keine sehr umwerfende Erkenntnis, aber doch ein wesentlicher Ausgangspunkt für jede Beschäftigung mit dem Gebet. Gott ist allmächtig, unbegrenzt, allwissend und souverän. Der Mensch ist schwach, klein, mit eingeschränktem Gesichtskreis und abhängig. Gott ist der Schöpfer, der Mensch ist ein Geschöpf. Es gibt viele Geschöpfe Gottes und seine Schöpfung ist seinen Verordnungen unterworfen: „Denn er gebot, und sie waren geschaffen; und er stellte sie hin für immer und ewig; er gab ihnen eine Satzung, und sie werden sie nicht überschreiten“ (Ps 148,5.6).

Aber der Mensch nimmt unter allen Geschöpfen Gottes einen ganz besonderen Platz ein, weil er in der Lage ist, Gott entweder anzuhängen in Liebe und Gehorsam oder sich von Ihm abzuwenden in Feindschaft und Ungehorsam. Menschen sind Menschen und bleiben das auch, aber sie geben Gott nicht immer den Platz, der Ihm zukommt. Manchmal geben sie leider irgendetwas in der Schöpfung einen Platz, der allein Gott zukommt und hängen mit ganzem Herzen einem Götzen an.

Das Wesentlichste beim Beten ist dieses: dass wir durch unser Gebet ausdrücklich die Souveränität Gottes und unsere eigene Abhängigkeit anerkennen: Wir lassen Gott dann wirklich Gott sein und wir nehmen als Menschen den einzigen Platz ein, der uns Ihm gegenüber zukommt.

Zu „beten“ bedeutet zu fragen, und der Herr Jesus sagt: „Bittet, und es wird euch gegeben werden; suchet, und ihr werdet finden; klopfet an, und es wird euch aufgetan werden. Denn jeder Bittende empfängt, und der Suchende findet, und dem Anklopfenden wird aufgetan werden“ (Mt 7,7.8).

Bitten ist gleichbedeutend mit fragen; die Antwort Gottes ist es zu geben; das Ergebnis ist, dass wir empfangen. Aber wir täuschten uns, wenn wir daraus den Schluss zögen, dass unser Bitten Gott zu einer Handlung bewegt, auf die Er von allein nicht gekommen wäre. Von großer Bedeutung ist, was der Herr Jesus weiter sagt: „Oder welcher Mensch ist unter euch, der, wenn sein Sohn ihn um ein Brot bitten würde, ihm einen Stein geben wird? und wenn er um einen Fisch bitten würde, ihm eine Schlange geben wird? Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisset, wie viel mehr wird euer Vater, der in den Himmeln ist, Gutes geben denen, die ihn bitten!“ (Mt 7,9-11). Ihren Kindern den Lebensunterhalt zu beschaffen ist etwas, was auch sündige Väter im Allgemeinen von sich aus tun. Das Fragen eines Kindes nach Brot oder Fisch ist dann auch eine natürliche Sache. Und das Geben des Vaters ist ebenso selbstverständlich wie das Fragen des Kindes.

Es wird mitunter gesagt, dass das Gebet den Himmel in Bewegung bringt. Das ist sicher eine schöne Formulierung, aber sie kann doch zu Missverständnissen führen. Eigentlich ist es nicht so, dass wir beten, um Gott dazu zu bringen, irgendetwas zu bewirken. Vielmehr werden wir uns im Gebet ganz ausdrücklich bewusst, dass Gott bereits am Werk ist. Vielleicht erkennen wir noch nicht, was genau Er wirkt und in welche Richtung sein Wirken geht. Aber wenn wir beten, suchen wir Anschluss an sein Wirken. Wir möchten gern „Gottes Angesicht suchen“, Ihn erkennen in seinen Plänen und seinem Wirken, weil wir uneingeschränktes Vertrauen zu Ihm haben. Und unsere Pläne und unsere Aktivitäten möchten wir ausdrücklich den Seinen unterstellen.

Zusammen beten als Jünger

Das erste gemeinsame Gebet, von dem das Neue Testament berichtet, ist damit in Übereinstimmung. Wir kennen es als das „Vaterunser“. „Unser Vater“ sind die Anfangsworte. Es ist ein Gebet, das die Jünger des Herrn gemeinsam bitten. Es gibt eine Gemeinschaft, die wir als Kinder Gottes haben, und zwar auch im Gebet; es gibt gemeinsames Gebet in der Versammlung, dem Leib Christi und dem Haus Gottes – aber hier in Matthäus 6 sind es Jünger, die gemeinsam beten.

Wir, die in dieser Zeit unser Herz und unser Leben dem Gehorsam gegen Christus geweiht haben, sind auch seine Jünger. Zudem sind wir Glieder der Versammlung. In der großen Drangsalszeit wird es Jünger geben, die dieses Vorrecht nicht kennen. Aber in diesem Gebet findet sich nichts, das wir als Christen, als Jünger des Meisters, nicht bitten könnten oder müssten.

Es geht nun in diesem Artikel nicht um eine ausführliche Auslegung des Vaterunsers. Aber gerade dieses Gebet ist sehr nützlich für die Antwort auf die Frage, warum Gott gebeten sein will. Es beginnt: „Unser Vater, der du bist in den Himmeln, geheiligt werde dein Name; dein Reich komme; dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden.“ Wahre Jünger versuchen nicht, dass der Vater etwas wirkt, so wie sie es gern hätten. Jünger wissen, dass ihr Vater längst dabei ist, seinen Plan auszuführen, wenn das auch mitunter nur schwierig zu erkennen ist. Ihr erstes Interesse gilt dann auch diesem Plan. Es geht ihnen zuallererst um den Namen des Vaters, das Reich des Vaters und den Willen des Vaters. Und sie selbst möchten gern klein werden, ihre Knie beugen und ihre leeren Hände zum Vater ausstrecken, um ausschließlich zu empfangen: „Unser nötiges Brot gib uns heute; und vergib uns unsere Schuld.“ Sie möchten sich gern dem Willen des Vaters anschließen: „Wie auch wir unseren Schuldnern vergeben.“ Sie verlangen danach, dass ihr Weg durch den Vater geleitet wird und dass auf diese Weise der Böse keinen Einfluss auf sie bekommt: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern errette uns von dem Bösen.“

Das Gebet auf dem Obersaal

Hast du schon einmal eine zehntägige Gebetstunde erlebt? Eine Stunde ist ja schon so lang … Und doch hat eine Gruppe von hundertzwanzig Jüngern zehn Tage lang einträchtig und ausdauernd gebetet, zwischen der Himmelfahrt des Herrn Jesus und der Ausgießung des Heiligen Geistes (Apg 1,14). Warum war dieses gemeinsame Gebet nötig? Würde der Geist etwa nicht kommen, wenn sie nicht beteten? War es nötig, den Vater dazu zu bewegen, den Geist zu senden? War das Vorhaben Gottes nicht fest? Nichts von alledem. Der Herr Jesus hatte seinen Jüngern gesagt, „auf die Verheißung des Vaters zu warten“ (Apg 1,4). Der Heilige Geist würde über sie kommen und so würden sie Zeugen des Herrn Jesus werden.

Diese langandauernde Gebetsübung diente ebenfalls dazu, sich dem Wirken Gottes anzuschließen. Die Jünger mussten lernen, auf Gottes Zeit zu warten, während sie ihren Blick nach oben gerichtet hielten. Als Er dann zu wirken begann, wurde es auch für sie Zeit zu wirken. Als der Geist zu zeugen begann, konnten auch sie zeugen. Solange Gott nicht wirkte, hatte es keinen Sinn, dass sie ans Werk gingen. Der Geist würde nur bittenden Menschen gegeben werden (Lk 11,13). Der Geist ist kein Orden für das Fleisch, so wie auch das heilige Salböl „auf keines Menschen Fleisch“ gegossen werden sollte (vgl. 2Mo 30,32). Bittende, wartende und abhängige Menschen konnten durch Gott, den Heiligen Geist als Kanäle seines gewaltigen Segens benutzt werden.

Zwei weitere Gebetstunden

Die ersten Christen haben zweifellos weitaus häufiger gebetet, als uns berichtet wird. In der Apostelgeschichte werden noch einige dieser Gelegenheiten beschrieben (Apg 4,23-31; 6,6; 12,12; 13,3; 20,36; 21,5), von denen ich noch zwei näher beleuchten möchte: Das Gebet um Freimütigkeit in Apostelgeschichte 4,23-31 und das gemeinsame Gebet während Petrus’ Gefangenschaft in Apostelgeschichte 12,12.

Es ist beeindruckend, wie die durch Verfolgung bedrohten Brüder und Schwestern „einmütig ihre Stimme zu Gott erhoben“ (Apg 4,24). Ihr Gebet ist ganz konkret, ganz gegenständlich: ein Gebet um Freimütigkeit. Ihre Not ist ja auch ganz konkret: nämlich die Angst davor, weiter ihren Mund zu öffnen. Und die Antwort ist genauso konkret: „Sie wurden alle mit Heiligem Geist erfüllt und redeten das Wort Gottes mit Freimütigkeit“ (Apg 4,31). Es konnte überhaupt nicht die Rede davon sein, dass sie Gott irgendetwas abringen mussten, was Er anders nicht gegeben hätte. Im Gegenteil: Sie wussten, dass Gott am Werk war und sie wussten sogar sehr genau, was Er bewirken wollte: ein freimütiges Zeugnis für seinen Namen. Aber die Angst schnürte ihnen die Kehle zu und ihr Mangel an Freimütigkeit blockierte das Wirken des Heiligen Geistes. Daher ihr Gebet: Sie wollten sich dem anschließen, was Gott wirken wollte und baten deshalb um Freimütigkeit. Die Antwort bestand darin, dass die „Blockade“ aufgehoben wurde und dass sie wieder mit dem Heiligen Geist erfüllt wurden.

Genauso beeindruckend ist die Gebetstunde im Haus von Maria, der Mutter des Markus, „wo viele versammelt waren und beteten“ (Apg 12,12). Es wurde für Petrus gebetet: „Von der Versammlung geschah ein anhaltendes Gebet für ihn zu Gott“ (Apg 12,5). Es fällt auf, dass der Inhalt des Gebets nicht weiter berichtet wird. Vielleicht haben sie – und das ist sehr wahrscheinlich – dem Herrn ihr ernstes Verlangen vorgelegt, dass Petrus wieder freigelassen werden möge; vielleicht haben sie noch – und auch das ist wahrscheinlich – ein aufrichtiges „Dein Wille geschehe“ hinzugefügt. Sie selbst konnten nichts tun, aber Gott war sehr wohl in der Lage, etwas zu tun, was immer dieses „Etwas“ dann auch wäre. Darum baten sie. Die Antwort war eine vollständige Überraschung für sie, als Petrus plötzlich vor ihnen stand. Nicht dass Unglaube eine Rolle gespielt hätte – darüber lesen wir nichts –, aber das Handeln Gottes kam gänzlich unerwartet für sie. Der Unterschied zu den in Apostelgeschichte 2 und 4 erwähnten Gebetstunden ist der, dass es hier nicht um etwas ging, woran die Gläubigen selbst etwas ändern konnten. Die Situation war dergestalt, dass allein Gott selbst eingreifen konnte und das gemeinsame Gebet brachte die vollständige Abhängigkeit von Ihm zum Ausdruck.

Schlecht besuchte und langweilige Gebetstunden

Wir haben gesehen, dass es ein gewaltiges Vorrecht ist, zusammen zu beten: Aber wie kommt es dann, dass die Gebetstunden in der Woche oftmals die am schlechtesten besuchten von allen Zusammenkünften sind?

Wir möchten an dieser Stelle bestimmt nichts verallgemeinern. Nicht alle Gebetstunden sind schlecht besucht. Nicht alle Gebetstunden sind langweilig. Aber andererseits handelt es sich hier nicht um eine seltene Erscheinung. Haben wir vielleicht nötig, wieder neu auf der Schulbank Gottes Platz zu nehmen, um zu lernen, gemeinsam zu beten?

Wann war es zum letzten Mal so, dass „viele (!) versammelt waren und beteten“ (vgl. Apg 12,12), dass wir gemeinsam eindringlich eine große Not zu Gott gebracht haben und dass Er auf beeindruckende Weise antwortete?

Oder lasst uns die Frage doch einmal anders formulieren: Was würde passieren, wenn wir unsere Gebetstunden abschafften? Würde sich dann besonders viel ändern? Für jene, die treu die Gebetstunde besuchen, würde ein Abend in der Woche frei werden. Für die anderen, die ohnehin nicht kommen, wäre der Unterschied gleich Null.

Dass niemand sich beunruhigt: Dieser Artikel soll natürlich kein Plädoyer für das Abschaffen der Gebetstunde sein. Genau das Umgekehrte ist das Ziel. Wir sollten uns dringend die Frage vorlegen, wie unsere Gebetstunden wieder so werden können, wie Gott sie sich vorgestellt hat.

Unsere Gebetstunden sind zu schön

Vielleicht besteht das Problem darin, dass unsere Gebetstunden zu „schön“ geworden sind. Die meisten Gebetstunden in der Woche laufen doch so ab: Es herrscht Stille, dann wird ein Lied vorgeschlagen, dann wieder Stille, manchmal folgt noch ein Lied, und dann sagt ein Bruder: Lasst uns beten! Abgesehen davon, dass auf diese Weise ganz schnell eine Viertelstunde, zwanzig Minuten oder gar noch mehr von unserer Zeit für das Gebet verlorengeht – wobei wir doch eigentlich so unglaublich viele Bitten haben müssten –, wird das Ganze in vielen Fällen zu einem festen Schema. Haben wir schon einmal eine Gebetsstunde erlebt, die mit einem Gebet begann? Wahrscheinlich kaum.

Nicht dass es verkehrt ist, ein Lied zu singen und etwas aus der Schrift zu lesen, ganz im Gegenteil. In einigen Ländern ist man gewohnt, dass ein Bruder auch noch ein kurzes Wort über den Abschnitt sagt, und das kann auch sehr gesegnet sein. Aber wenn wir eine Stunde pro Woche (eine Stunde, mehr nicht!) für das gemeinsame Gebet reservieren, sollten wir dann eine solche Stunde nicht auch intensiv mit Gebet verbringen? Mancher wird jetzt vielleicht sagen: Aber der Heilige Geist kann es doch so führen, dass Lieder vorgeschlagen und Abschnitte aus der Schrift gelesen werden. Sicher, das kann sein. Aber lasst uns dennoch gut bedenken, dass der Heilige Geist uns vor allem zu ernstem Gebet führen will.

Unsere Gebetstunden sind auch in einer anderen Hinsicht zu schön. Die Gebete werden häufig in prächtige Worte gekleidet, und zwar so schön, dass mancher andere Bruder denkt: Ich halte mal besser meinen Mund, denn so bekomme ich das nicht hin. Haben wir verlernt, Amen zu sagen zu einem unbeholfenen, stammelnden Gebet, vielleicht auch zu einem mittendrin abgebrochenen Gebet, weil der Betende einfach nicht mehr weiter kann? Oder besteht ein Teil unser Gebete einzig aus Vorträgen an den Vater und den Sohn?

Die Ursache von allem ist wahrscheinlich, dass wir nicht genug ergriffen sind von der Not, die besteht, der Not in der Welt, der Not in der Versammlung und der Not in den Familien. Jemand, der dabei ist zu ertrinken, sucht nicht nach wohlgesetzten Worten. Er ruft um Hilfe und ist dankbar für jede Hilfe, die er bekommen kann. Und wenn Kinder mit ihrem Vater reden, suchen sie auch nicht nach möglichst feierlichen und vornehmen Worten. Sie verhalten sich ganz natürlich. Wird es nicht Zeit, dass auch wir uns unserem himmlischen Vater gegenüber wieder ganz natürlich verhalten? Gewiss, mit großer Ehrerbietung vor seiner Majestät, aber dennoch: Indem wir ganz im Vertrauen zu unserem Vater reden, dürfen wir Ihm unsere Nöte bekanntmachen.

Unsere Gebetstunden sind zu vage

Versuche doch einmal, dir vorzustellen, dass Gott alle Gebete der letzten Gebetstunde erhören würde. Was würde dann geschehen?

Oh, Verzeihung. Eigentlich weißt du gar nicht mehr so genau, wofür in der letzten Gebetstunde gebetet worden ist. Und du bist nicht der Einzige. Das passiert uns allen ja schon mal. Wir haben zwar gebetet, und an sich meinten wir es ja auch so und wir haben Amen gesagt – aber so brennend war die Not dann auch wieder nicht, dass wir deshalb etwa nicht mehr hätten schlafen können.

Offen gestanden: Die Dinge, die uns tatsächlich um unseren Schlaf bringen, sind doch unsere persönlichen Sorgen und Probleme. Sie martern uns, mit ihnen ringen wir, über sie grübeln wir nach und mit ihnen haben wir unsere Mühe. Aber Gottes Belange gemeinsam auf dem Herzen zu haben und sie ganz konkret vor seinem Angesicht zu nennen, das ist für unser geistliches Niveau oftmals zu hoch.

Doch gut, nehmen wir an, dass wir sehr wohl noch wissen, wofür gebetet wurde. Könnte Gott alle diese Gebete überhaupt erhören? Sicherlich das Gebet für den ernstlich kranken Bruder oder die ernstlich kranke Schwester. Und tatsächlich können viele davon berichten, dass sie durch schwierige Zeiten hindurch von dem gemeinsamen Gebet ihrer Mitgläubigen getragen wurden. Aber das Gebet: Segne doch Dein teures Evangelium überall, wo es heute noch verkündigt wird – können wir davon je eine Erhörung sehen? Es wird bereits völlig anders, wenn wir konkret für den und den beten oder für eine Reaktion auf die Evangelisation, die vergangene Woche stattgefunden hat.

Damit soll nicht gesagt werden, dass es stets verkehrt ist, für mehr allgemeine Nöte zu beten. Aber es ist doch eine Tragik des gemeinsamen Gebets, dass so sehr oft die wirklich brennenden Nöte, die uns allen bewusst sind, einfach verschwiegen werden: Oft wird für alles Mögliche gebetet, nur nicht für die wirklich drängenden Nöte. Vielleicht ist hier schon auf sehr einfache Weise Abhilfe zu schaffen. Es wird in jedem Fall hilfreich sein, wenn wir vor der Gebetstunde für uns selbst überlegen, für welche konkreten Nöte gebetet werden sollte. Und es wird auf keinen Fall verkehrt sein, einige dieser Punkte zu Beginn der Gebetstunde laut mitzuteilen.

Unsere Gebetstunden sind zu zögernd

Wir haben Freimütigkeit, Gott zu nahen. Freimütigkeit beinhaltet, dass wir keine Hemmungen zu haben brauchen, dem Vater zu sagen, was auf unseren Herzen liegt.

Wie kommt es dann, dass Gebetstunden oftmals einen so trägen Verlauf nehmen? Zum Teil hat das möglicherweise mit einem falschen Verständnis der Leitung des Heiligen Geistes zu tun: Ich habe zwar ein Gebet auf dem Herzen, aber ich weiß nicht, ob ich das jetzt aussprechen soll; passt es wohl in die Linie des Heiligen Geistes?

Lasst uns deutlich festhalten: Es steht im Neuen Testament nichts über die Leitung des Heiligen Geistes in der Reihenfolge der Gebete. Bruder, wenn der Heilige Geist eine Gebetslast auf dein Herz legt, dann darfst du den Mund öffnen und die Last hörbar vor Gottes Thron niederlegen. Das Kriterium für die Leitung des Heiligen Geistes ist allein dieses: ob es eine Last ist, die Er selbst auf unser Herz gelegt hat. Also nicht in dem Sinn von „Es ist schon so lange still gewesen und wir haben noch nicht für die Gläubigen in Osteuropa gebetet, also sollten wir das jetzt mal tun“. Jede wirkliche Last darf ausgesprochen werden. Wenn wir uns der Einfachheit dieses Prinzips mehr bewusst wären, würden vielleicht mehr Brüder ihren Mund in den Gebetstunden öffnen.

Unsere Gebetstunden sind zu elitär

Es ist gut möglich, dass diese Überschrift manchen Leser etwas befremdet. Lasst mich versuchen zu erklären, was ich damit meine. Wenn ich weiter oben sagte: Unsere Gebetstunden sind schlecht besucht, dann haben die meisten Leser vielleicht zustimmend genickt. Wir alle sehen dieses Problem, und wir können das auch einfach feststellen. Wir wissen ziemlich genau, wer immer, wer manchmal und wer nie zur Gebetstunde kommt. Und es passiert dann mitunter auch, dass ebendies ein Gebetsgegenstand in der Stunde ist: Es wird für die gebetet, „die nicht hier sind“. Diejenigen, um die es geht, sind dann natürlich nicht anwesend.

Darin besteht das Problem, das ich in der obigen Überschrift mit dem Ausdruck „elitär“ andeuten wollte. Die Geschwister, die immer zur Gebetstunde kommen, können sehr leicht ein wenig stolz darauf sein. Aber sie sind sich oft nicht bewusst, dass sie auch zum Teil selbst mit das Problem sind: nicht durch ihre Abwesenheit – denn sie sind es ja nicht, die wegbleiben –, sondern durch ihre Anwesenheit. Das klingt eigenartig, aber es ist tatsächlich so. Stellen wir uns doch einmal vor, die Anwesenden wären alle wirklich mit dem Heiligen Geist erfüllt und dass inbrünstig gebetet würde und dass Gott auf beeindruckende Weise Gebete erhören würde. Könnte das unbemerkt bleiben? Würden nicht einige Brüder und Schwestern einmal kommen wollen, um zu sehen, was das für phantastische Zusammenkünfte sind?

Aber das ist ja nicht der Fall. Die Mehrzahl der Gebetstunden ist eben nicht phantastisch, sondern schlicht und einfach langweilig. Kein Wunder, dass davon keine Anziehungskraft ausgeht. Und doch kommen die, welche immer da sind, sich vielleicht tief in ihrem Herzen ein bisschen erhaben vor über diejenigen, die gewöhnlich fehlen.

Das Ganze kann natürlich auch umgedreht werden in die Richtung derer, die nicht kommen. Ist es denn nun wirklich so schwierig, einen Abend in der Woche für die Gebetstunde freizuhalten? Ist es nicht auch eine etwas schlappe Entschuldigung, zu sagen, man wäre so sehr in Zeitdruck? In jedem Terminkalender, wie voll er auch sein mag, kann man sich Ecken freihalten. Und ist es nicht auch eine faule Ausrede, die Gebetstunde sei langweilig, trocken und ungeistlich? Wenn du selbst lebendig, eifrig und geistlich bist, dann komm doch dazu und hilf mit, die Gebetstunde in einen Ort zu verwandeln, wo der Heilige Geist sein Werk verrichten kann! Es ist sehr gut denkbar, dass die Gesinnung derer, die wegbleiben, genauso elitär ist wie die Gesinnung derer, die immer kommen.

Wird es nicht allerhöchste Zeit, dass wir jedes Elite-Denken fahrenlassen und zusammen auf die Knie gehen – als kleine Menschen vor einem großen Gott, als abhängige, bittende Kinder vor einem gebenden Vater?

Was ist zu tun?

Natürlich könnte man alle Geschwister, die niemals zur Gebetstunde kommen, einen nach dem anderen besuchen und sie ermahnen. Ob sie sich überzeugen ließen, ist dann zwar immer noch die Frage, aber nehmen wir einmal an, dass es möglich wäre. Wenn es wirklich gelänge, alle Geschwister in die Gebetstunde zu bekommen, was hätten wir dann erreicht? Ein volles Lokal, aber noch nicht per se das Erfülltsein mit dem Heiligen Geist; viele versammelt, aber noch nicht per se viele, die auch ernstlich beten.

Was sich ändern muss, muss sich vielmehr von innen heraus ändern. Der Heilige Geist muss aufs Neue die Notwendigkeit des Gebets als eine drückende Last auf unsere Herzen legen. Wir müssen wieder lernen, was es bedeutet, uns gemeinsam – ohne Show oder Zurückhaltung – zu beugen unter die mächtige Hand Gottes. Vielleicht kann der Heilige Geist dann wieder Leben in unsere Gebetstunden bringen. Ohne Zweifel kann Er das. Wenn bei uns nur die Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, dann kann Er uns lehren, wieder wirkliche Beter zu werden. Vielleicht geschehen ja noch Wunder …


Übersetzt aus De Bode van het heil in Christus (1990)

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