Der Brief an Titus (1)
Kapitel 1

Willem Johannes Ouweneel

© SoundWords, online seit: 18.05.2016, aktualisiert: 30.07.2023

DIE WAHRHEIT, DIE NACH DER GOTTSELIGKEIT IST

(1) Die Offenbarung des ewigen Lebens (Tit 1,1-4)

(a) Die Apostelschaft von Paulus (Tit 1,1-3)

Tit 1,1: Paulus, Knecht Gottes*[1]und Apostel von Jesus Christus nach [dem] Glauben von [den] Auserwählten Gottes und [der] Erkenntnis von [der] Wahrheit, die nach [der] Gottseligkeit [ist], …

Die Einleitung des Briefes (Tit 1,1-4) zeigt uns die Kennzeichen und die Grundlage der Apostelschaft von Paulus sowie der besonderen Offenbarung, die ihm zuteilgeworden war und die er verkündigen sollte. Wie bereits in der Einleitung dieser Betrachtung bemerkt, finden wir in diesen ersten Versen die großen objektiven Wahrheiten des Christentums, die vor allem durch den Dienst Paulus zu uns gekommen sind. Er ist ihr Prediger und Christus ihr Mittelpunkt. Er ist der Gegenstand unseres Glaubens; Er ist die Personifizierung der Wahrheit; in Ihm liegt das Geheimnis der Gottseligkeit; Er selbst ist das ewige Leben; Er ist unser Heiland, und Gott ist der Ursprung dieser Offenbarung: Wir sind Gottes Knechte sowie Gottes Auserwählte; Er ist es (als der nicht-lügende Gott), der das ewige Leben verheißen hat, bevor die Welt bestand; Er ist es, der zu seiner Zeit sein Wort offenbart hat (als unser Heiland-Gott), und von Ihm (d.h. von Gott, dem Vater) ist uns Gnade und Friede.

Paulus

Der Brief beginnt mit der Angabe des Autors, wobei hier keine weiteren Gefährten genannt werden (wie es der Fall ist im ersten und zweiten Korintherbrief, im Galater- und im Philipperbrief, im ersten und zweiten Thessalonicherbrief sowie im Philemonbrief). Das passt an dieser Stelle auch nicht, wenn wir bedenken, dass die besondere apostolische Autorität notwendig war, um Titus den Auftrag geben zu können, Älteste anzustellen (Tit 1,5). Aus demselben Grund wird im Hebräerbrief der Name und die Apostelschaft von Paulus (der unzweifelhaft der Verfasser ist) bewusst nicht erwähnt, damit er gegenüber den gläubigen Juden nicht die Stellung eines Apostels einnehmen konnte (das war Petrus vorbehalten, dem Apostel der Beschneidung; Gal 2,7-9) und weil der Brief keine Offenbarung neuartiger Geheimnisse enthält, obwohl der Dienst des Paulus darin bestand (Tit 1,3; Eph 3,1-12). Wenn Paulus dagegen wohl seine Apostelschaft erwähnt, passiert es immer dann, wenn das Thema des Briefes in Verbindung mit dem besonderen Dienst des Apostels steht, wie wir es gleich im Titusbrief näher sehen werden.

Knecht Gottes*

Paulus nennt sich hier zuallererst „Knecht Gottes“. Das ist etwas Besonderes. Zu Beginn des Römer- und des Philipperbriefs nennt er sich auch einen „Knecht“, doch heißt es dort „Knecht Christi Jesu“. Hier heißt es „Knecht Gottes“, so wie sich auch Jakobus in seinem Brief nennt. Auch die Verbindung von „Knecht und Apostel“ ist außergewöhnlich. Im Römerbrief heißt es „Knecht Christi Jesu, berufener Apostel“, und weiter finden wir nur noch im zweiten Petrusbrief den Ausdruck „Knecht und Apostel Jesu Christi“. Darüber hinaus ist es auffallend, dass im Titusbrief das Wort „und“ zwischen „Knecht Gottes“ und „Apostel“ nicht das übliche Wort ist (so wie es beispielsweise wohl zwischen „Auserwählten Gottes“ und „Erkenntnis“ steht), sondern das Wort, das meistens mit „aber“ übersetzt wird. Ich habe es ferner mit „jedoch“ übersetzt (vgl. Tit 1,3.15.16; 2,1; 3,4.9), um es von einem anderen Wort „aber“ zu unterscheiden (vgl. Tit 1,8.15 etc.). In Titus 1,1 steht somit nicht einfach „Knecht und Apostel“, sondern es steckt ein Höhepunkt in diesen Worten: „Knecht, jedoch auch Apostel“. Und das macht die Absicht deutlich: Paulus war nicht allein ein gehorsamer, schlichter Knecht, Gott unterworfen (worin er ein Vorbild für Titus sein möchte), sondern er ist auch ein Gesandter Jesu Christi. Er ist ein Mann, der vom Herrn mit großer Autorität bekleidet worden ist, um die Geheimnisse Gottes zu offenbaren und um im Haus Gottes Ämter zu verleihen bzw. verleihen zu lassen (und darin war er kein Vorbild, sondern Titus musste ihm einfach gehorchen).

Paulus war ein Knecht Gottes. Nicht nur ein Knecht Jesu Christi, obwohl er in allen Dingen Christus unterworfen war. Nicht mehr er lebte, sondern Christus lebte in ihm (Gal 2,20). Das Leben war für ihn Christus (Phil 1,21), aber er war auch Knecht Gottes. Das Wort „Gott“ hat hier keinen Artikel, wie es wohl in Titus 1,2.3; 2,5.10.11.13; 3,4 der Fall ist. Das ist von großer Bedeutung. Bei allen Hauptwörtern (Substantiven) in Vers 1 fehlt der Artikel. Im griechischen Sprachgebrauch bedeutet das, dass nicht die objektive Person oder Sache selbst bezeichnet wird, sondern dass das betreffende Wort ein Kennzeichen, eine Eigenschaft dessen anzeigt, worauf es Bezug hat. In unserem Fall geht es folglich nicht um die Person Gottes selbst, sondern der Ausdruck „Gottes“ charakterisiert das Knechtsein von Paulus. Die Absicht besteht nicht darin, uns etwas über die Person oder Taten Gottes mitzuteilen (wie wir es beispielsweise in Titus 1,2.3 haben), sondern um die Unterworfenheit von Paulus zu kennzeichnen: Sein Gehorsam und seine Untertänigkeit gilt Gott. So ist es auch in 1. Petrus 2,16. Die wahre christliche Freiheit besteht nicht darin, den eigenen Willen zu tun (und somit Bosheit auszuüben), sondern ist Knechtschaft an Gott (ohne Artikel).

Die einzig weitere Stelle in den Briefen, die über Knechte Gottes spricht, ist Römer 6. Früher waren wir Sklaven der Sünde zum Tod, jetzt aber sind wir Sklaven der Gerechtigkeit und Gott zu Sklaven geworden (Röm 6,16-22), um fortan Gott zu gehorchen, in Sklaverei der Gerechtigkeit zur Heiligkeit (hier steht bei „Sünde“ und „Gott“ der Artikel, weil die Betonung an dieser Stelle auf der Person liegt, der wir gehorchen). Römer 6,22 schließt wunderbar bei Titus 1 an: Wir sind Gott zu Sklaven geworden und haben unsere Frucht zur Heiligkeit, als das Ende aber ewiges Leben. Und in Titus 1,1.2 sagt derselbe Apostel: Ich bin ein Knecht Gottes und ein Apostel Jesu Christi „nach der Erkenntnis der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist, in der Hoffnung des ewigen Lebens“. In beiden Fällen stellt sich der Apostel als Knecht vor, der Gott unterworfen ist, um hier auf der Erde ein geheiligtes, gottseliges Leben zu führen und um einmal beim Herrn das ewige Leben in Vollkommenheit zu genießen.

Es steht natürlich nirgendwo, dass wir Knechte des Vaters sind, denn diese beiden Begriffe (Knecht und Vater) schließen einander vollständig aus. Galater 4 sagt sogar, dass wir früher Knechte unter Gesetz waren, jetzt aber Söhne sind, so dass wir „Abba, Vater“ rufen. Der verlorene Sohn in Lukas 15 wollte zu seinem Vater zurückkehren, um sein Tagelöhner zu werden, aber als sich das Vaterherz für ihn öffnete, konnte er das Wort „Tagelöhner“ nicht mehr über die Lippen bringen. Die Kindschaft spricht von unserer herrlichen, innigen Verbindung mit Gott, von dem, was Gott in seinem tiefsten Wesen ist: Vater. Wenn es dagegen um unsere Verantwortlichkeit und unseren Dienst geht, spricht die Schrift davon, dass wir Gott in allem völlig gehorchen sollen, so dass wir in dem Sinn Knechte sind. Es ist übrigens im Allgemeinen kennzeichnend, dass wir in den pastoralen Briefen viel mehr die Bezeichnung „Gott“ als die Bezeichnung „Vater“ finden. Gerade weil es sich nicht um Briefe an Gemeinden handelt, finden wir hier eher die allgemeinen Beziehungen, in denen Gott zu allen Menschen steht  (vgl. z.B. 1Tim 2,3-6; 4,10; 2Tim 3,16.17; 4,1; Tit 2,11; 3,4). Und wenn wir dann in allen paulinischen Briefen nur in der Anrede des Titusbriefs dem Ausdruck „Knecht Gottes“ begegnen, muss das für den ganzen Brief kennzeichnend sein.

Einen weiteren Grund dafür erkennen wir, wenn wir bedenken, dass Titus hier von Paulus eine sehr hohe, apostolische Aufgabe anvertraut bekommt, obwohl er selbst kein Apostel war. Timotheus war bei der Anstellung von Aufsehern und Diakonen ebenfalls einbezogen, bekam aber keinen ausdrücklichen Auftrag zu ihrer Anstellung; Titus dagegen wohl (Tit 1,5). Um zu verhindern, dass Titus sich angesichts dieser apostolischen Aufgabe erhob, beginnt Paulus hier sich als ein schlichter, gehorsamer Knecht Gottes vorzustellen, obwohl er selbst Apostel war. Er stellt sich als Vorbild für Titus dar, damit dieser sich gleichermaßen bewusst sein sollte, dass er sich in allem befleißigen sollte, in unterwürfiger und bescheidener Weise ausschließlich den Willen Gottes zu tun. So ist Paulus ein Vorbild für Titus, wie er auch selbst ein Nachfolger Christi ist (1Kor 11,1), der ein vollkommenes Vorbild eines Knechtes Gottes ist. Christus brauchte es nicht für einen Raub zu achten, Gott gleich zu sein (denn Er war Ihm gleich im Gegensatz zu Adam, der wohl einen Raub beging), doch machte Er sich selbst zu nichts (was nur Gott alleine kann) und nahm Knechtsgestalt an und wurde gehorsam bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz (Phil 2,6-8). So lernte Er, obwohl Er Sohn war, an dem, was Er litt, den Gehorsam (Heb 5,8). Das ist der vollkommene Gehorsam unseres Heilands, dessen Speise es war, den Willen dessen zu tun, der Ihn gesandt hatte, um sein Werk zu vollbringen (Joh 4,34).

Das Wort, das hier für „Knecht“ benutzt wird, ist doulos. Es bezeichnet jemand, der in absoluter Unterworfenheit das Eigentum seines Meisters ist. Das Griechische kennt auch das Wort andrapodon (nicht im NT), womit jemand bezeichnet wird, der im Krieg gefangen genommen und anschließend als Sklave verkauft wurde. Dagegen ist ein doulos jemand, der in Knechtschaft geboren wurde. Paulus war aus Gott geboren, aber das beinhaltete zugleich, dass er in Knechtschaft geboren war und Zeit seines Lebens seinem Meister unterworfen bleiben sollte. An anderen Stellen nennt er sich einen „Diener“. In unserer Sprache ist es meistens nicht sichtbar, aber im Griechischen werden oft verschiedene Wörter benutzt, was die Bedeutung immer wieder verändert. In 1. Korinther 3,5; 2. Korinther 3,6; 6,4; Epheser 3,7; Kolosser 1,23.25 nennt er sich einen diàkonos, wovon unser Wort „Diakon“ abgeleitet ist. Dieses Wort nimmt immer Bezug auf die Arbeit, die getan werden muss, sei es als Leibeigener oder im freien Dienst. Ein Diakon ist jemand, der einen bestimmten Dienst erfüllt. In Apostelgeschichte 26,16 und 1. Korinther 4,1 wird Paulus ein hupèretès genannt, das heißt ein Dienstknecht, der einem Vorgesetzten unterstellt ist. Schließlich nennt er sich in Römer 15,16 einen leitourgos, das heißt einen Bediensteten, einen Beamten, der einen bestimmten öffentlichen Dienst ausübt.

Apostel Jesu Christi

Weiter nennt Paulus sich „Apostel Jesu Christi“. Es ist hier nicht „Apostel von Gott“ (Gal 1,1.15; Kol 1,25), sondern er weiß sich hier durch den verherrlichten Menschen im Himmel gesandt. Durch den einfachen Menschen Jesus, der zu ihm gesagt hatte: „Ich bin Jesus, den du verfolgst“ (Apg 9,5), aber auch durch den, welchen Gott zum Herrn und zum Christus gemacht hat (Apg 2,36). Deshalb steht hier „Jesu Christi“ (der Codex Alexandrinus liest dagegen „Christi Jesu“). Gesandt durch den, der ihn auserwählt hatte, um seinen Namen vor dem Volk und den Nationen zu predigen (Apg 9,15; 22,21; 26,16-20). Der Name „Christus“ kann dem Namen „Jesus“ vorangehen oder auf ihn folgen. Andere Kombinationen davon kommen nicht vor, außer „Herr Christus“ in Römer 16,18 und Kolosser 3,24. Weiter finden wir nur noch „Herr Jesus Christus“. Die Kombination „Christus Jesus“ kommt außer in 1. Petrus 5,10 nur noch bei Paulus vor. Dieser Ausdruck legt den Nachdruck mehr auf die Tatsache, dass der Herr der Gesalbte Gottes ist, wogegen der Name „Jesus Christus“ mehr auf Ihn als den einfachen Menschen auf der Erde hinweist. In seinen späteren Schriften benutzt Paulus immer mehr den Ausdruck „Christus Jesus“, um die Autorität des Herrn mehr zu betonen. Der Titusbrief stellt hierbei eine Ausnahme dar (Tit 1,1; 2,13; 3,6 im Gegensatz zu Tit 1,4), obwohl es bedeutende Handschriften gibt, die in Titus 1,1 und 2,13 „Christus Jesus“ stehen haben.

Allein Paulus und Petrus erwähnen ihre Apostelschaft in ihren Briefen und nur in den Fällen, in denen sie ihren Dienst auch als solche ausüben. Aus diesem Grund finden wir sie in den Briefen an die Philipper, Thessalonicher, an Philemon und an die Hebräer nicht erwähnt, wo es mehr um einen persönlichen Dienst der Liebe von Paulus als Bruder gegenüber seinen Brüdern geht und nicht um autoritätsbasierte Offenbarungen oder Aufträge. Im Römerbrief ist das dagegen wohl der Fall (Autorität unter allen Völkern), ebenfalls in den Briefen an die Korinther (Gemeindeordnung), an die Galater (bzgl. der durch ihn verkündigten Wahrheit), an die Epheser und an die Kolosser (Offenbarung von Gottes Geheimnissen), an Timotheus und an Titus (Anstellung von Ältesten, Ordnung im Haus Gottes). Bevor im Titusbrief jedoch über diese Ordnung gesprochen wird, beschreibt Paulus die Wahrheiten, welche die Grundlage und den Charakter seiner Apostelschaft ausmachen und den Inhalt seines Dienstes bilden. Dieser Inhalt besteht aus vier Stücken: Zuerst ist seine Apostelschaft in Übereinstimmung mit dem Glauben der Auserwählten Gottes; zweitens ist sie in Übereinstimmung mit der Erkenntnis der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist; drittens ist sie auf die Hoffnung des ewigen Lebens gegründet und viertens auf die Tatsache, dass Gott ihm die Predigt seines Wortes anvertraut hat (Tit 1,1-3). Diese ausführliche Auflistung der Kennzeichen seiner Apostelschaft zeigt, wie wichtig die Apostelschaft in diesem Brief ist. Die Anstellung von Ältesten darf nur im Rahmen dieser Apostelschaft geschehen.

Nach [dem] Glauben von [den] Auserwählten Gottes*

Die Offenbarung der Wahrheit wird nicht denen zuteil, die im Fleisch sind. Der natürliche Mensch nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird (1Kor 2,14). Darum beruht Paulus’ Apostelschaft nicht auf dem Glauben der bekennenden Christenheit, sondern auf dem der Auserwählten Gottes. Sie ist auch nicht auf die Erkenntnis der Wahrheit gegründet, die durch den Verstand erworben wird, sondern die sich in einem gottseligen Leben praktisch zeigt. Weiter beachten wir, dass hier nicht steht, dass Paulus für den Glauben der Auserwählten Apostel ist (denn das versteht sich von selbst), sondern in Übereinstimmung mit („nach“) diesem Glauben, ähnlich wie auch von der Wahrheit gesprochen wird, dass sie in Übereinstimmung mit („nach“) der Gottseligkeit ist. Diese Übereinstimmung ist für die Gläubigen gewissermaßen der Prüfstein für die Frage, ob die Apostelschaft des Paulus echt ist. Wir sollen nicht jedem Geist glauben, sondern die Geister prüfen, ob sie aus Gott sind (1Joh 4,1). Das bedeutet auch, dass sich Paulus’ Apostelschaft nicht auf einen äußeren Zustand stützt, sondern auf einem inneren Leben aus Gott beruht, das heißt auf geistlichen Dingen. Ebenso nennt sich Paulus in 1. Timotheus 1,1 Apostel „nach“ Befehl Gottes, unseres Heilandes und in 2. Timotheus 1,1 „nach“ Verheißung des Lebens (vgl. Tit 1,2). Wie bereits erwähnt, steht hier kein Artikel vor „Glauben“. Das bedeutet im Neuen Testament immer, dass es um „das Glauben“, das heißt um die Glaubenstat des Herzens geht und nicht um den Glauben im Sinne der abstrakten, objektiven christlichen Wahrheit, das heißt um das Glaubensgut (vgl. 2Tim 3,7). Hier handelt es sich um den wahren Glauben im Herzen des erlösten Menschen, des wahren Gläubigen, der für den Verstand nicht zu erfassen ist, sondern der alleine durch Gottes Auserwählte erlebt wird.

Das alles steht in krassem Gegensatz zu den Grundsätzen, die in Israel unter dem Gesetz galten. Auch dort kannte man Ämter: Aaron war Priester „nach“ dem Gesetz (vgl. Heb 7,11-16), aber nicht „nach“ dem Glauben auserwählter Menschen. Dort war das Amt mit Gottes Zeugnis auf der Erde verbunden, das aus dem Volk Israel bestand. Als Volk war Israel über alle Völker auserkoren, aber nur für die Erde: Man wurde nicht durch Wiedergeburt ein Mitglied dieses Volkes, sondern aufgrund der natürlichen Geburt und Beschneidung. Auf natürlichem, äußerlichen Boden hat man Teil an den Verheißungen und Vorrechten des Volkes Gottes. Sicher, auch im Alten Testament konnte man zu Gott nur aufgrund von Gnade und Glauben kommen. Aber Gottes öffentliche Verbindungen mit dem Menschen waren von äußerer Art und gründeten sich auf das Gesetz. Und weil man auf natürlicher Grundlage Teil dieses Zeugnisses war, konnte es geschehen, dass Gott an den meisten von ihnen kein Wohlgefallen hatte und sie in der Wüste niederstreckte (1Kor 10,5). Auch in unserer gegenwärtigen Zeit gibt es ein äußeres Zeugnis Gottes auf der Erde, die Christenheit. Dieses Zeugnis besteht aus allen, die bekennen, Christus zu folgen, und die „den Namen des Herrn anrufen“ (1Kor 1,2; 2Tim 2,19). Durch die Taufe wird man ein Teil dieses äußeren Zeugnisses; sie bringt uns in das christliche Zeugnis auf der Erde hinein, das an anderer Stelle auch Reich der Himmel genannt wird (Mt 28,16-20). Das ist das Zeugnis, wo der Glaube, das heißt die christliche Wahrheit, gekannt wird, so wie das Zeugnis im Alten Testament auf dem Gesetz gegründet war. Vergleiche dazu Galater 3,23-27, wo wir als unter dem Glauben dargestellt werden und als solche, die Christus angezogen haben (d.h. alles äußerlich), und zwar durch die Taufe. Auch in Epheser 4,4 werden der eine Glaube und die eine Taufe zusammen mit dem einen Herrn (vgl. das Anrufen des Herrn) als die Kennzeichen des christlichen Zeugnisses auf der Erde genannt.

Aber nun der Unterschied zu unserem Vers! Da wird Paulus’ Apostelschaft nicht mit dem äußerlichen Zeugnis verbunden, wo der Glaube gekannt wird. Sie wird vielmehr mit der Glaubenstat des Herzens verbunden, wie sie von Personen, die nur dem Bekenntnis nach Christen sind, nicht gekannt wird, sondern nur von den Auserwählten Gottes. Und die sind nicht auf ein irdisches Volk beschränkt, sondern sowohl der Jude Paulus als auch der Grieche Titus hatten daran teil. Beide waren Kinder Gottes durch den gemeinschaftlichen Glauben (Tit 1,4; Gal 3,22.28.29; 4,6.7).

Darüber hinaus steht hier nicht: „nach dem Glauben der Kinder Gottes“, sondern: „nach dem Glauben der Auserwählten Gottes“. Das heißt, dass die Grundlage des Glaubens nicht in der Zeit, sondern vor der Zeit liegt, denn wir sind vor Grundlegung der Welt auserwählt worden (Eph 1,4). Unser Glaube steht mit dem ewigen Leben in Verbindung, das Gott vor ewigen Zeiten verheißen hat (Eph 1,2). Dieser Glaube und diese Auserwählung bilden die Kennzeichen des wahren Christentums. Auch das Volk Israel war auserwählt. Es war aus allen Völkern der Erde auserwählt, um Gottes Volk zu sein (5Mo 4,37; 7,6; 10,15; 14,2). Aber diese Auserwählung stand in Verbindung mit Gottes Ratschlüssen hinsichtlich dieser Erde, und diese Ratschlüsse datieren nicht von vor, sondern von ab Grundlegung der Welt (Mt 13,35; 25,34; Off 13,8; 17,8). Im Gegensatz dazu sind wir nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters, auserwählt (1Pet 1,2). Wir sind zuvorerkannt worden und zuvorbestimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein (Röm 8,29.30), bzw. durch Gott zuvorbestimmt zur Sohnschaft für sich selbst (Eph 1,5). Daraus sehen wir, dass das Christentum nicht einfach eine Fortsetzung des Judentums ist, denn sein Ursprung liegt weit vor dem des Judentums. Es basiert nicht auf neuen Geboten und Zeremonien – das alles ist in Christus zu einem Ende gekommen (Kol 2,14-23) –, sondern es ist die Offenbarung der vollen Wahrheit Gottes, die alleine gekannt wird (nicht durch Geburt oder Taufe, sondern) durch das Auserwähltsein vor der Zeit und indem man in der Zeit aus Gnade durch Gott berufen ist und glaubt. Um diese Wahrheiten kennenzulernen, musste der Überrest nach Wahl der Gnade aus Israel das gottlose Volk verlassen und zur Gemeinde hinzugefügt werden (Apg 2,47; Röm 11,5.7). Und auch ein auserwählter Teil aus den Nationen („die Vollzahl der Nationen“; Röm 11,25) musste in die Gemeinde eingefügt werden (Apg 13,48; 2Tim 2,10).

[Der] Erkenntnis von [der] Wahrheit, die nach [der] Gottseligkeit [ist]

Woraus sich diese Auserwählung praktisch ergibt, sehen wir in 1. Thessalonicher 1,4-8: Die das Wort in Aufrichtigkeit annehmen, stellen sich dadurch als Auserwählte heraus. Das ist die Seite der Verantwortlichkeit des Gläubigen, der seine Berufung und Erwählung festmachen soll (2Pet 1,10), das heißt, er muss „beweisen“, dass er  berufen und auserwählt ist. Darum fügt unser Vers noch hinzu: „Erkenntnis der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist“. Es geht hier nicht um ein intellektuelles Kennen der Wahrheit, sondern um ein Kennen des Herzens und ein Kennen, das in einem gottseligen Leben zum Ausdruck kommt.

Das hier benutzte Wort „Erkenntnis“ (epignosis) bezeichnet eine genaue, vollkommene Kenntnis (oder Erkenntnis) und derartiges Unterscheidungsvermögen. Es ist stärker als gnosis (Suche nach Erkenntnis). Es gibt Menschen, die Gott kennen (gnosis), Ihn aber nicht erkennen (epignosis, Röm 1,21.28). Wenn wir Kenntnis (gnosis) suchen (damit ist der Gewinn geistlicher Erfahrung gemeint), wird uns das nicht fruchtleer in Bezug auf die Erkenntnis (epignosis, d.h. die innerliche Kenntnis, die wir durch den Glauben empfangen haben) unseres Herrn Jesus Christus lassen (2Pet 1,5.6.8). In unserem Vers geht es um die vollkommene innerlich verarbeitete Erkenntnis der vollen Offenbarung Gottes. Gott, unser Heiland, will, dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis (epignosis) der Wahrheit kommen (1Tim 2,4). Leider gibt es allerdings Menschen, die immerzu unterwiesen werden und doch niemals zur Erkenntnis der Wahrheit kommen können (2Tim 3,7). Es gibt darüber hinaus sogar Menschen, die, nachdem sie die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, mutwillig sündigen und auf dem Weg zum Verderben voranschreiten (Heb 10,26.27). Daraus sehen wir, dass die echte Erkenntnis der Wahrheit bei denen zu finden ist, die wahrhaftiges Leben aus Gott haben, was sich daraus ergibt, dass ihre Erkenntnis der Wahrheit in Übereinstimmung mit der Gottseligkeit ist (vgl. 1Tim 6,3) und dass sie die Wahrheit nicht in Ungerechtigkeit besitzen (Röm 1,18).

Das Christentum umfasst die volle, offenbarte Wahrheit Gottes. Alle Ratschlüsse Gottes sind in Ihm bekanntgeworden. Der Ursprung dieser Wahrheit stammt, ebenso wie unsere Auserwählung, von vor allen Zeitaltern. Sie beinhaltet die Ratschlüsse, die von Ewigkeit her bei Gott waren, lange vor der Erschaffung dieser Welt. 

  1. Zuerst ist die Wahrheit die Offenbarung Jesu Christi als dem Lamm Gottes, der vor Grundlegung der Welt zuvorerkannt, aber am Ende der Zeiten um unsertwillen offenbart worden ist (1Pet 1,20).
  2. Zweitens ist die Wahrheit das ewige Vornehmen Gottes in Christus Jesus, damit jetzt den Fürstentümern und den Gewalten in den himmlischen Örtern durch die Versammlung kundgetan werde die mannigfaltige Weisheit Gottes (Eph 3,10.11).
  3. Drittens ist die Wahrheit die Auserwählung jedes einzelnen Gläubigen in der Gemeinde vor Grundlegung der Welt (Eph 1,4).
  4. Viertens ist die Wahrheit die Gnade, die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben worden ist, und das ewige Leben, das Gott vor ewigen Zeiten verheißen hat (2Tim 1,9; Tit 1,2).
  5. Fünftens schließlich das Höchste: Die Wahrheit ist nämlich das innige Verhältnis der Liebe, das zwischen dem Vater und dem Sohn von Ewigkeit her besteht, sowie die Herrlichkeit, die der ewige Sohn bei dem Vater hatte, ehe die Welt war (Joh 17,5.24).

Das alles ist uns verkündigt worden, und nicht nur das, wir haben daran sogar Anteil erhalten. Wir sind die Gegenstände der ewigen, auserwählenden Liebe des Vaters und des Sohnes, dürfen zur Gemeinde gehören, der Gott seinen Sohn über alle Dinge als Haupt gegeben hat (Eph 1,22.23), und werden in das Haus eingeführt, wo der Vater und der Sohn von Ewigkeit her gewohnt haben (Joh 14,1-3) und wo wir die Herrlichkeit des Sohnes anschauen (Joh 17,24). Welche Gnade! Was für ein unfassbares Vorrecht!

Sicher, auch das Alte Testament enthält offenbarte Wahrheit. Aber diese Wahrheit offenbart Gott alleine als den Allmächtigen, Allerhöchsten und als Jahwe, den treuen Bundesgott seines Volkes. Jahwe Elohim ist Wahrheit (2Mo 34,6; Jer 10,10). Jetzt ist die Wahrheit jedoch völlig offenbart, so dass auch Gott als das erkannt wird, was Er seinem tiefsten Wesen nach ist: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Diese Wahrheit ist in Christus zu uns gekommen, dem fleischgewordenen Wort Gottes. Er war bei Gott (Joh 1,1.14), bei dem Vater, und ist uns offenbart worden (1Joh 1,2). Durch Ihn ist die Gnade und die Wahrheit geworden (Joh 1,17), ja Er ist selbst die Wahrheit (Joh 14,6). Er kam zu uns und hat uns das Wort des Vaters gegeben, das Wort der Wahrheit (Joh 17,6-8.17). Er, der im Schoß des Vaters ist, hat Ihn, den Vater, kundgemacht (Joh 1,18), und alles, was Er von seinem Vater gehört hat, hat Er den Seinen bekanntgemacht (Joh 15,15). Diese Offenbarung der Wahrheit wird fortgesetzt von dem Geist der Wahrheit, den der Sohn uns vom Vater gesandt hat, nachdem Er zum Vater zurückgekehrt war (Joh 14,17; 15,26; 16,13; 1Joh 5,6). Es ist die Wahrheit des dreieinen Gottes.

Wie bereits gesagt, fehlt bei allen Substantiven in diesem Vers der Artikel. Ebenso wenig wie über den Glauben als die objektiven Glaubenswahrheiten gesprochen wird, geht es auch nicht um die Erkenntnis der Wahrheit. Nicht die Erkenntnis selbst steht im Vordergrund, sondern ihre Kennzeichnung der Apostelschaft, die in Übereinstimmung ist mit der Kenntnis von Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist. Es wird nicht auf den Inhalt der Erkenntnis abgezielt, sondern auf die innerliche Kenntnis. So ist es auch nicht die abstrakte Wahrheit an sich, sondern „Wahrheit“ – das, was göttlich wahr und in Übereinstimmung mit Gottseligkeit ist. Nicht die Gottseligkeit als eine für sich selbst betrachtete Tugend, sondern ein gottseliger Wandel, der wahrhaftige Kenntnis der Wahrheit charakterisiert. Es ist alles praktisch: nicht der Glaube (die Lehre), sondern die Glaubenstat des Herzens der Auserwählten. Ebenso ist es nicht die Wahrheit (die Lehre), sondern etwas, was in einem gottseligen Leben als wahrhaftig erlebt wird: Glaube im Herzen und Gottseligkeit nach außen hin.

Das Wort „Gottseligkeit“ (eusebia) besteht aus eu („gut“) und sebeia, das von einem Tätigkeitswort stammt, das „verehren“ bedeutet (vgl. Apg 17,23). Demnach geht es um „gute Verehrung“, was unter anderem mit unserem Wort „Frömmigkeit“ wiedergegeben werden kann. Das Wort „Gottseligkeit“ hat nichts mit Frucht zu tun, sondern bedeutet ursprünglich „das Fürchten (oder die Achtung) Gottes“ (vgl. „Gottesfurcht“). Im Griechischen wird dieses Wort der „Gottlosigkeit“ (asebeia) gegenübergestellt, die ursprünglich und wörtlich „Nicht-Verehrung“ bedeutet. Es gibt also solche, die Gott verehren, und solche, die Ihn nicht verehren. Gott hat den Menschen für sich selbst erschaffen (Kol 1,16: „für ihn“), damit der Mensch Ihm dienen und Ihn ehren sollte. Das war das Schöpfungsziel Gottes mit dem Menschen. Aber der Mensch fiel in Sünde, das heißt, er verfehlte das Ziel, denn sündigen bedeutet buchstäblich „das Ziel verfehlen“. Sünde ist Gesetzlosigkeit (1Joh 3,4), die Nichtanerkennung eines Gesetzes, einer Autorität über sich und somit das Tun des eigenen Willens. Nicht Gott wird gedient, sondern dem eigenen Fleisch und Satan. Die Thessalonicher hatten sich von den Götzen (den Dämonen) zu Gott bekehrt, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen (1Thes 1,9). Aus einem Leben der Sünde und Gesetzlosigkeit waren sie wieder zu Gottes Schöpfungsziel zurückgekehrt: Ihm zu dienen und Ihn zu verehren (vgl. Tit 2,12). Das Geheimnis wahrer Gottseligkeit ist die Kenntnis der Person des Herrn Jesus, Gott offenbart im Fleisch.

Tit 1,2.3: … in [der] Hoffnung [des] ewigen Lebens, das Gott, der nicht lügen kann, verheißen hat vor Zeiten der Ewigkeiten, zu seinen eigenen Zeiten aber hat er sein Wort offenbart in [der] Predigt, die mir anvertraut worden ist nach [dem] Befehl unseres Heiland-Gottes …

In [der] Hoffnung [des] ewigen Lebens

Diese Worte geben uns die dritte und Vers 3 die vierte Grundlage der Apostelschaft von Paulus: die Hoffnung des ewigen Lebens und die ihm anvertraute Predigt. Meistens übersetzt man: in der Hoffnung des ewigen Lebens. Das Griechische benutzt hier jedoch nicht die Präposition en („in“), sondern epi („auf“). So auch in Titus 3,6, wo es mit „über“ wiedergegeben wird. Die Bedeutung „auf“ beinhaltet hier folglich „aufgrund von“, was auf „Apostel Jesu Christi“ zurückgeht. Damit erhalten wir: „Apostel aufgrund der Hoffnung des ewigen Lebens“, genauso wie auch in 2. Timotheus 1,1 Paulus’ Apostelschaft mit der Verheißung des ewigen Lebens in Verbindung gebracht wird. Wie in Titus 1,1 geht es hier um etwas völlig Neues, das im Judentum nicht bekannt war, sondern jetzt durch die Predigt offenbart wurde, die besonders Paulus anvertraut worden war. Wir haben gesehen, dass seine Apostelschaft nicht auf früher offenbarten Wahrheiten basierte, sondern auf dem Glauben derer, die von vor allen Zeitaltern auserwählt waren, und auf der vollen Kenntnis der vollkommen offenbarten Wahrheit des Christentums, wie sie alleine durch die gekannt und gelebt wird, die gottselig leben. Deshalb wird die Apostelschaft hier auch nicht verbunden mit der vagen Kenntnis des ewigen Lebens, die zur Zeit des Alten Testaments bestand (dazu noch in einem bloß irdischem Sinn), sondern mit dem ewigen Leben, das Gott vor den Zeiten der Zeitalter verheißen hatte, wie auch die Gläubigen aus Vers 1 vor allen Zeitaltern auserwählt sind. Es geht hier um ewige, himmlische Grundsätze, die wenig oder nichts mit zeitlichen, irdischen Verheißungen und Segnungen zu tun haben. Wir werden darauf direkt zurückkommen.

Der Satzteil „des ewigen Lebens“ steht im sogenannten Genitivus Objectivus, das heißt, dass das ewige Leben hier der Gegenstand unserer Hoffnungen ist. Beiden Begriffen geht kein Artikel voran, ebenso wie es bei den Hauptwörtern in Vers 1 der Fall ist. Auch hier ist es deshalb die Absicht, den Hauptgegenstand (die Apostelschaft von Paulus) zu charakterisieren: Es ist „das Hoffen auf ewiges Leben“, nicht der Inhalt unserer Hoffnung, das heißt das, was gehofft wird (wie in Titus 2,13, wo der Artikel vor Hoffnung steht). Es geht hier um das Hoffen selbst. Wir dürfen das nicht in dem Sinn auffassen, wie es oft in Traueranzeigen benutzt wird: „Der oder die ist in der Hoffnung des ewigen Lebens gestorben.“ Der Gedanke, der leider meistens dahintersteht, ist der eines unsicheren, manchmal ängstlichen Hoffens auf den Himmel nach dem Sterben. Dieser Gedanke ist aus zwei Gründen völlig fehl am Platz. Erstens ist die christliche Hoffnung niemals unsicher oder ängstlich, sondern immer vollkommen und absolut sicher. Denn diese Hoffnung ist nicht abhängig von uns, von der Größe unseres Glaubens und von unserer Gottseligkeit, sondern von der Verheißung Gottes, der nicht lügen kann und der bedingungslos zu seinem Wort steht. Deshalb kann die Bibel über die „volle Gewissheit der Hoffnung“ sprechen, über die Hoffnung als einen „Anker der Seele“ und über den Glauben als einer „Verwirklichung dessen, was man hofft“ (Heb 6,11.12.18; 11,1). Hier wird dem Zweifel kein Platz eingeräumt.

Der zweite Grund, warum wir den Gebrauch dieses Ausdrucks oft verurteilen müssen, besteht darin, dass die Erfüllung dieser Hoffnung in der Schrift nicht mit dem Zustand nach dem Entschlafen verbunden wird, sondern mit dem Kommen Christi und seinem Eingang in die volle Herrlichkeit, wie in Titus 2,13 (vgl. auch Tit 3,7). Die Bedeutung wird deutlich in Römer 5,2 (Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes), Römer 8,21 (Hoffnung auf die Befreiung der Schöpfung), Kolosser 1,5 (die in den Himmeln aufbewahrte Hoffnung) und Kolosser 1,27 (Christus, die Hoffnung der Herrlichkeit) sowie in 1. Petrus 1,3 (eine lebendige Hoffnung durch Auferstehung zu einem Erbteil in den Himmeln). Auch im Alten Testament gab es eine Hoffnung aufgrund einer Verheißung und die Hoffnung Israels (Apg 28,20) nach der an die Väter ergangenen Verheißung (Apg 26,6.7). Und auch diese Hoffnung hatte Bezug auf die neue Welt auf der anderen Seite des Grabes, zustande gebracht durch den Christus (Apg 23,6; 24,14.15; Jer 29,11; 31,17). Das war die Seligkeit, auf die Jakob wartete; nicht die Glückseligkeit des Himmels nach dem Sterben (1Mo 49,18), sondern die Hoffnung auf das irdische Friedensreich unter dem Messias (vgl. Lk 13,28.29). Es war eine irdische, zeitliche Hoffnung, in der Zeit verheißen. Unser Vers spricht dagegen von einer himmlischen, ewigen Hoffnung, vor allen Zeitenden verheißen. Es ist die Hoffnung des ewigen Lebens, das keinen Anfang und kein Ende hat, sondern das von Ewigkeit bei dem Vater war und uns offenbart worden ist (1Joh 1,2). Es ist keine Hoffnung verbunden mit Gottes Ratschlüssen (in der Zeit gefasst) im Hinblick auf die Erde, sondern eine Hoffnung, die Bezug nimmt auf Gottes ewige Ratschlüsse, sein eigenes Haus mit Kindern zu füllen, die seinen Sohn als ihr Leben besitzen; ewigem Leben, das uns verheißen ist durch Gott in Christus, bevor die Welt und das Weltliche, die Zeit und das Zeitliche bestanden, ja Leben, das außerhalb von Gottes Ratschlüssen und Regierungswegen bezüglich dieser Welt ist. Es ist eine Hoffnung und Verheißung, die auch nicht in dieser Welt erfüllt wird, sondern im Himmel. Natürlich ist sie bereits jetzt unser Teil, aber ihren vollen Genuss erwarten wir noch.

In dieser Hinsicht besteht ein interessanter, nuancierter Unterschied in der Beschreibung des ewigen Lebens bei Johannes und Paulus. Der Apostel Johannes sieht es als etwas an, was wir bereits jetzt besitzen, denn er lässt uns sehen, dass Christus selbst der wahrhaftige Gott und das ewige Leben ist (1Joh 5,20), das Wort des Lebens, das bei dem Vater war und uns offenbart ist (1Joh 1,2). Weil wir an den Sohn geglaubt haben, haben wir das ewige Leben bereits jetzt, denn Er ist das Leben, und da wir den Sohn haben, haben wir Ihn als unser Leben (1Joh 5,12; Joh 3,15.16; 5,24; 6,40.47.54). Johannes stellt das ewige Leben auch mit den eigenen Worten des Herrn Jesus vor als das Erkennen des allein wahren Gottes und Jesu Christi, den Er gesandt hat. Und diese Erkenntnis ist bereits jetzt unser Teil, somit auch das ewige Leben (Joh 17,2.3). Dagegen ist Paulus’ Verkündigung mit der gegenwärtigen himmlischen Stellung des Menschen Christus Jesus zur Rechten Gottes verbunden als Frucht seines Werkes auf der Erde. Die Ergebnisse dieses Werkes rechnet uns Gott zu: Er sieht uns grundsätzlich bereits in der Stellung, die Christus jetzt einnimmt („hat uns … mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christus Jesus“; Eph 2,6). All unsere Segnungen sind geistlicher Art und in den himmlischen Örtern, so dass wir sie erst dann völlig werden genießen können, wenn wir auch tatsächlich im Himmel sein werden. Sicher ist Christus bereits jetzt unser Leben, aber Paulus sieht dieses Leben als verborgen in Gott, indem wir auf seine Offenbarung warten (Kol 3,1-4). Deshalb stellt er das ewige Leben als das wahre göttliche Leben vor, das wir erst im Himmel uneingeschränkt genießen werden (vgl. Röm 2,7; 5,21; 6,22.23; Gal 6,8; 1Tim 1,16). Auch Judas begreift es als etwas Zukünftiges (Jud 21).

Das Gott, der nicht lügen kann, verheißen hat vor Zeiten der Ewigkeiten

Dieses ewige Leben wurde von Gott verheißen, bevor die Zeit begann, und damit sicher vor dem Bestehen von Menschen. Wem hat Er es dann verheißen? Die Verheißungen des Alten Testaments ergingen an die Väter (Apg 26,6.7), aber hier wird von einer Verheißung vor allen Zeiten gesprochen. Die Theologen verbinden es meistens mit der ersten aller Verheißungen in 1. Mose 3,15 (vgl. beispielsweise die Randnotizen der NBG-Übersetzung[2]. Aber die Unrichtigkeit hiervon sticht direkt ins Auge. Liegt 1. Mose 3,15 vor den Zeiten der Zeitalter? Waren nicht vielleicht schon viele Jahrhunderte verlaufen? Zweitens: War sie eine Verheißung ewigen Lebens? Nein, es war überhaupt keine Verheißung, sondern eine Gerichtsankündigung an die Schlange, und es war nicht die Rede von Leben, sondern von Tod: für die Schlange. Nein, die Verheißung unseres Verses wurde gegeben, bevor die Schöpfung bestand. Es war keine Verheißung, die an Menschen erging; sie erging nicht einmal an Engel, denn auch diese gehören zur Schöpfung und auch sie haben die Ratschlüsse Gottes erst kennengelernt, nachdem Gott im Fleisch offenbart und die Gemeinde entstanden war (vgl. z.B. Joh 1,18; Eph 3,9-11). Die Verheißung, über die hier gesprochen wird, war also eine Verheißung innerhalb der Gottheit selbst, eine Verheißung des Vaters an den Sohn. Nicht so sehr in dem Sinn, dass der Sohn selbst hier vorgestellt wird als das ewige Leben (wie Johannes das tut; 1Joh 1,2), sondern als derjenige, in dem und durch den dieses ewige Leben Menschenkindern geschenkt werden sollte, solchen, die Gott errettet und berufen hat „nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade, die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben ist“ (2Tim 1,9). Es ist deshalb eine Verheißung in und an Christus Jesus, die sich auf die bezieht, die vor Grundlegung der Welt auserwählt worden sind (vgl. auch Eph 3,11). „Dies ist die Verheißung, die er uns verheißen hat: das ewige Leben“ (1Joh 2,25). Es ist die „Verheißung des Lebens, das in Christus Jesus ist“ (2Tim 1,1). Was ihre praktische Auswirkung betrifft, sagt Petrus: „Er hat uns die kostbaren und größten Verheißungen geschenkt, damit ihr durch diese Teilhaber der göttlichen Natur werdet“ (2Pet 1,4).

Ist das nicht eine unfassbare Tiefe an Gnade? Teilhaber der göttlichen Natur – nicht in die Gottheit eingeführt, denn das ist für ein Geschöpf nicht möglich, aber wohl auf eine derartige Höhe gebracht, dass sich dieser Einführung so dicht wie möglich genähert wird. Denn ist nicht der ewige Sohn des Vaters mein Leben geworden? In der Tat konnte das erst geschehen, nachdem der ewige Sohn Mensch geworden war und als Mensch die ewige Herrlichkeit empfangen hatte (als Frucht seines Werkes), die Er von Ewigkeit als Sohn besessen hatte (Joh 17,4). Aber als Mensch konnte Er dieselbe Herrlichkeit denen mitteilen, die an den Ergebnissen seines Werkes Anteil nahmen, so dass derselbe, in dem der Vater ist, jetzt auch in uns ist (Joh 17,22.23). Und auch das Umgekehrte trifft zu: Wir sind jetzt in Ihm, der unser Leben ist, aber Er selbst ist in seinem Vater (Joh 14,20). Ist es möglich, dass wir näher zu Gott gebracht werden konnten, als wir es jetzt sind, indem wir Ihn, der in dem Vater selbst ist, als unser Leben empfangen haben?

Ist es nicht wunderbar, zu sehen, wie Gott Gedanken des Friedens über uns hat, bevor die Welt bestand? Ab und an, wie hier in Titus 1,2, dürfen wir einen Augenblick Einsicht nehmen in die Gedanken Gottes, die Gott vor der Existenz dieser armen Welt hatte, die nur gezeigt hat, was der Mensch in seiner Verdorbenheit ist, und die die Treue Gottes in seiner Gnade angeschaut hat, in der Er dem Menschen in seinem Elend begegnete. Diese Gedanken Gottes reiften nicht etwa während dieser „Zeiten der Zeitalter“ menschlicher Untreue und göttlicher Gnade heran, sondern sie bestanden von Ewigkeit her. Wir haben durch Gnade Teil an einem Leben, das ewig ist; das nicht nur in Ewigkeit fortdauert, sondern das auch von Ewigkeit her besteht. Von Ewigkeit her war es bei dem Vater und ist es uns in dem Sohn als unser Teil verheißen worden. Wir waren der Gegenstand der Mitteilungen des Vaters an den Sohn. Als sich der Sohn als Liebling bei dem Vater befand und Er täglich dessen Wohlgefallen war, da ergötzte Er sich bereits in der Welt seines Erdreiches und war seine Wonne bei den Menschenkindern (Spr 8,30.31). Und als die Engel zum ersten Mal ihren Schöpfer anschauten, als Er als Kind in der Krippe lag, und sie Gott auf dem Feld in der Gegend Bethlehems lobten, verkündigten sie, dass Gott an den Menschen ein Wohlgefallen hatte (Lk 2,14), nicht aufgrund dessen, was sie waren, sondern als Gegenstände seiner Gnade (2Tim 1,9).

Das ewige Leben ist unsere Verheißung durch Gott, der nicht lügen kann oder, wie es hier wörtlich heißt: der nicht-lügende bzw. nicht lügenhafte Gott. Gott ist nicht lügenhaft, das heißt, seine Natur ist wahrhaftig und unveränderlich. Was Er von Ewigkeit verheißen hat, das hat Er in Verbindung mit seiner eigenen unveränderlichen Natur verheißen. Seine Ratschlüsse sind ebenso wenig veränderlich wie Er selbst. Darin kann Er uns nicht betrügen, denn sonst müsste Er seine Natur verleugnen, und Er kann sich selbst nicht verleugnen (2Tim 2,13). Das trifft schon auf seine irdischen Verheißungen zu: „Nicht ein Mensch ist Gott, dass er lüge … Sollte er sprechen und es nicht tun und reden und es nicht aufrechterhalten?“ (4Mo 23,19). Die Beständigkeit Israels lügt nicht (1Sam 15,29). Auch für die bedingungslosen Verheißungen aufgrund der Gnade an die Väter  gilt bereits, dass die Gnadengaben und die Berufung Gottes unbereubar sind (Röm 11,29); wie viel mehr für die himmlischen, ewigen Verheißungen. Wir haben eine unwandelbare Hoffnung als einen Anker der Seele, und es ist unmöglich, dass Gott lügt, denn treu ist Er, der die Verheißung gegeben hat (Heb 6,18.19; 10,23). Diese Verse aus dem Hebräerbrief enthalten dieselben Begriffe wie unsere Verse in Titus, wenn es auch einen wichtigen Unterschied gibt, denn der Hebräerbrief gewährt uns keine neuen Offenbarungen, sondern die Erfüllung der Verheißungen an die Väter im Christentum (Heb 6,13-20).

In einem gewissen Sinn haben auch wir Teil an den Verheißungen, die Gott den Erzvätern gab. Wir müssen diese Verheißungen deshalb auch gut von den ewigen Verheißungen unterscheiden, mit denen wir uns jetzt beschäftigen. Abraham empfing die Verheißung, dass er Erbe der Welt werden sollte, nur empfing er die Verheißung, als er noch unbeschnitten war, und zwar durch Gerechtigkeit des Glaubens. Darum wurde er nicht nur der Vater der Beschnittenen (Israel), sondern auch der Unbeschnittenen, die Gerechtigkeit aufgrund desselben Glaubens empfangen sollten, den er besaß. Dadurch galt die Verheißung auch für seine geistliche Nachkommenschaft (Röm 4,9-16). Wir, die Gläubigen aus den Nationen, sind in den Baum der Verheißung eingefügt worden, von der die Wurzel (die Verheißung an) Abraham ist (Röm 11,16-18). Früher waren die Heiden Fremdlinge betreffs der Bündnisse der Verheißung (Eph 2,12). Aber Christus, der kam, um die Verheißungen der Väter zu bestätigen, hat auch an den Nationen Barmherzigkeit erwiesen (Röm 15,8.9; vgl. Apg 2,39). Die Verheißung an Abraham ist in seinem Nachkommen, das heißt Christus, erfüllt worden, und alle, die an Ihn glauben, empfangen die Verheißung und sind auf dem Grundsatz des Glaubens Abrahams Nachkommen und nach Verheißung Erben: wie Isaak Kinder der Verheißung (Gal 3,15-29; 4,28). Außerdem wurde Christus Mittler eines besseren Bundes, der auf bessere Verheißungen gegründet ist, als die unter Gesetz es waren, damit die Berufenen die Verheißung des ewigen Erbes empfingen (Heb 8,6; 9,15). Allerdings steht weit über diesem allen, dass uns, den Gläubigen der Gemeinde, eine ewige, himmlische Verheißung geschenkt worden ist, die alles übertrifft, was den Vätern geschenkt wurde. Denn wer von den Alten besaß den Sohn als sein Leben? Zweifellos hatten sie Leben aus Gott, denn damals wie heute ist es der Geist, der lebendig macht (vgl. Joh 1,12.13; 3,3-8; 6,63; 1Pet 4,6). Das ewige Leben konnte uns jedoch erst geschenkt werden, nachdem Christus gestorben und auferstanden war (Joh 3,15.16; 6,51-54; 12,24). Der Herr wollte nicht nur, dass die Seinen Leben hätten, sondern dass sie es in Überfluss (das ist das ewige Leben) haben sollten (Joh 10,10; vgl. Joh 20,22).

Es stimmt zwar, dass man im Alten Testament den Begriff „ewiges Leben“ kannte, allerdings besaß man davon nur eine vage Vorstellung. Darüber hinaus war es ausschließlich auf die Erde gerichtet, das heißt, es nahm Bezug auf das (Auferstehungs-)Leben in Unvergänglichkeit unter der segensreichen Regierung des Messias (vgl. Röm 2,7). Psalm 133 schildert uns die Gemeinschaft des Priestervolkes im Tausendjährigen Reich, wenn der Herr auf Zion seinen Segen verordnen wird sowie „Leben bis in Ewigkeit“. An Daniel erging das Wort, dass in der Endzeit viele derer, die im Staub der Erde schlafen, erwachen würden: „diese zu ewigem Leben und jene zur Schande, zu ewigem Abscheu“ (Dan 12,2). Das hat vor allem Bezug auf den Überrest aus den zehn Stämmen, den Gott inmitten der Völker erwachen lassen und ins Reich einführen wird (vgl. Hes 20; 37). Der Herr Jesus dehnt die Tragweite dieser Worte auch auf diejenigen aus den Nationen aus, die nach der Aufnahme der Gemeinde zur Bekehrung kommen werden. Diese werden das Reich erben und in das ewige Leben eingehen (Mt 25,34.46). Auch die Juden besaßen zur Zeit des Herrn eine vage Vorstellung vom Erbe des ewigen Lebens (vgl. z.B. Lk 10,25 und Joh 5,39).

Tatsächlich war der Inhalt des wahren ewigen Lebens in den „Zeiten der Zeitalter“ unbekannt. Es war vor den Zeiten verheißen worden und wurde zu Gottes Zeit durch die Predigt von Paulus offenbart. In den dazwischenliegenden Zeitepochen war es unbekannt. Es war ein Geheimnis. Den Ausdruck „Zeiten der Zeitalter“ müssen wir uns näher anschauen. Buchstäblich steht dort eigentlich: „vor ewigen Zeiten“, was sich wie ein Widerspruch anhört, weil sich ewig und zeitlich einander gegenüberstehen. In der Tat wird „ewig“ (aionios) meistens in dem Sinn von „ohne Beginn und/oder Ende“ benutzt und damit als Gegenteil zu „zeitlich“ (wie in 2Kor 4,18; vgl. auch Röm 16,26; 1Tim 6,16; Phlm 1,15; Heb 9,14; 1Pet 5,10). Hier ist aionios jedoch mit „Zeiten“ verbunden (chronos) ebenso wie in Römer 16,25: „ewige Zeiten hindurch“, und in 2. Timotheus 1,9: „vor ewigen Zeiten“, genau wie in unserem Vers. Hier bedeutet „ewig“ nicht endlos, sondern das Wort wird mit der endlichen Bedeutung von aion verbunden, das meistens eine Periode von unendlicher Dauer ist („Ewigkeit“). Oft hat es jedoch auch die Bedeutung einer endlichen Zeitepoche („Zeitalter/Jahrhundert“) im Sinn einer Haushaltung, wobei es um das geht, was in dieser Zeitepoche stattfindet, und damit um ihre geistlichen oder sittlichen Kennzeichen und nicht so sehr um die eigentliche Länge dieser Periode. Vergleiche zum Beispiel Titus 2,12 und 2. Korinther 4,4; Galater 1,4 und Epheser 1,21; 2,7. Weil „ewig“ für uns nie diesen endlichen Beiklang hat (obwohl es zu dem endlichen Wort „Zeitalter/Jahrhundert“ gehört), übersetzen wir lieber „Zeiten der Zeitalter“, wie es meistens auch übersetzt wird. Andererseits muss aion manchmal auch im Sinn eines Beiwortes (adjektivisch) übersetzt werden: „Der König der Zeitalter“ bedeutet „der ewige König“ (1Tim 1,17), und „der Vorsatz der Zeitalter“ (wie es wörtlich in Epheser 3,11 heißt) bedeutet „der ewige Vorsatz“, der Vorsatz von aller Ewigkeit her.

Der Ausdruck „Zeiten der Zeitalter“ deutet folglich auf die unterschiedlichen Haushaltungen hin (vor der Entstehung der Gemeinde), in denen Gott den Menschen auf verschiedenartige Weise erprobte und die Welt auf das vorbereitete, worin ausschließlich aller Segen für den Menschen liegt: nicht die Werke des Menschen, sondern Gnade, Gerechtigkeit und ewiges Leben, offenbart in Christus Jesus und all denen geschenkt, die, aus allen Völkern abgesondert, zusammen die Gemeinde Gottes bilden sollten, in der es weder Jude noch Grieche gibt. Dieser Segen war vor den Zeiten der Zeitalter verheißen worden und blieb während der Zeiten der Zeitalter verborgen (Röm 16,25; Eph 3,9; Kol 1,26), das heißt während der Zeitepoche bis zum Kreuz. Die verhüllte, verborgene Weisheit Gottes, die Gott zu unserer Herrlichkeit bestimmt hatte, hatte Er vor allen Zeitaltern (wörtlich: vor den Zeitaltern) bestimmt. Keiner der Obersten dieser Zeitepoche kannte sie, wie geschrieben steht: „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz aufgekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.“ Das war alles in früheren Zeitepochen unbekannt; Gott aber hat es jetzt den Aposteln durch seinen Geist offenbart (1Kor 2,6-10). Es ist das Geheimnis, das von allen Zeitaltern (wörtlich: „seit den Zeitaltern“, das heißt während der zurückliegenden Zeitalter) in Gott verborgen war, damit jetzt durch die Gemeinde die mannigfaltige Weisheit Gottes kundgetan werde nach dem ewigen Vorsatz, den Er gefasst hat in Christus Jesus, unserem Herrn (Eph 3,9-11). Gott hat uns nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade berufen, die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben, jetzt aber offenbart worden ist durch die Erscheinung unseres Heilandes Jesus Christus (2Tim 1,9.10). „Glückselig eure Augen, dass sie sehen …, denn wahrlich, ich sage euch, dass viele Propheten und Gerechte begehrt haben zu sehen, was ihr anschaut, und haben es nicht gesehen“ (Mt 13,16.17).

Nach der Erschaffung des Menschen war die Zeit noch nicht gekommen („die geeignete Zeit“, wie unser Vers eigentlich sagt), um die Wahrheit zu offenbaren. Zuerst musste auf verschiedene Art und Weise völlig ans Licht kommen, wer der Mensch ist, bevor Gott offenbaren  konnte, wer Er ist. In den nachfolgenden Zeitepochen vor dem Kreuz legt Gott immer wieder andere Maßstäbe an den Menschen an, um zu prüfen, was in dessen Herzen ist (5Mo 8,2.16). Der Refrain bleibt dabei immer gleich: Der auf die Probe gestellte Mensch versagt beinahe umgehend in seiner Verantwortlichkeit, woraufhin Gott sein Gericht bringt, während seine Gnade für einen kleinen, gläubigen Überrest sorgt. Diese beiden Linien der Verantwortlichkeit des Menschen und der Gnade Gottes werden uns bereits in 1. Mose 2 im Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sowie im Baum des Lebens vorgestellt. Am Kreuz begegnen sich beide Linien und werden beide Bäume vereinigt: Der letzte Adam entspricht der Verantwortlichkeit des ersten Adam im Hinblick auf die Sünde und den Sünder und öffnet darüber hinaus den Weg zum ewigen Leben, das Gott bereits verheißen hatte, bevor die Sünde existierte. Der Mensch versündigt sich schon im Garten Eden, obwohl ihm nur ein einziges Verbot auferlegt worden war. Die Frau wird betrogen, der Mann sündigt aus freien Stücken (1Tim 2,14). Sie glauben den Lügen des Menschenmörders von Anfang (Joh 8,44), der in der Tat selbst behauptete, dass Gott ein Lügner wäre („ihr werdet durchaus nicht sterben“), dass Er ungerecht wäre („Gott will nicht, dass ihr ihm gleich sein werdet“) und dass Gott nicht Liebe wäre („Er enthält euch absichtlich die höchsten Segnungen“). Aber Gott beweist das Gegenteil: Er war Wahrheit und darum muss der Mensch sterben. Er war heilig und trieb den Menschen von seinem Angesicht hinweg. Er war gerecht und ließ die gerechte Strafe nicht ausbleiben. Aber darüber hinaus erwies sich, dass Gott Liebe war, denn Er übte die Todesstrafe an einem unschuldigen Tier aus (obwohl Er die Folgen der Sünde über den Menschen selbst brachte), bekleidete den Menschen mit den Fellen des Tieres und nahm sie wieder auf Grundlage des vergossenen Blutes des stellvertretenden Opfers an.

Neue Grundsätze hielten Einzug. Die Nachkommen des ersten Menschenpaares werden auf die Probe gestellt in Bezug auf die Art und Weise, wie sie ihre erworbene Erkenntnis des Guten und Bösen benutzen würden und ob sie Gottes Gericht über ihren natürlichen toten Zustand anerkennen, indem sie Ihm allein aufgrund eines stellvertretenden Opfers nahen. Das wird uns in Kain und Abel vorgestellt. Diese Periode endet damit, dass die gesamte Menschheit den Weg Kains geht, so dass Gott sagen muss, dass die Bosheit des Menschen groß war auf der Erde und alles Gebilde der Gedanken seines Herzens nur böse den ganzen Tag (1Mo 6,5). Doch Noah findet Gnade in den Augen des Herrn und wird mit seinem Haus durch die Sintflut hindurch gerettet.

Nach dem Fall des Menschen in der abgelaufenen Zeitepoche der uneingeschränkten Gewissensfreiheit setzt Gott nach der Sintflut die Obrigkeit ein, um das Böse zu bestrafen und zu zügeln. Außerdem ist die Menschheit ab jetzt durch Gottes Verfügung in Völker aufgeteilt. Diese Ordnung der Völker und Obrigkeiten bleibt bis zum Ende bestehen, doch versagt der Mensch auch hier von Anfang an. Der erste Vorsteher der Erde wird ein Trinker. Seine Nachkommen verwalteten die Erde zu ihren Gunsten und hassten Gott. Das Gericht hierüber war in erster Linie die Sprachenverwirrung von Babel, wird aber endgültig erst in dem Gericht über die Völker der Endzeit ausgeübt werden. Nach der Zerstreuung Babels überlässt Gott die Völker ihren eigenen Wegen. Für sie brechen die „Zeiten der Unwissenheit“ an (Apg 14,16; 17,30). Gott erwählt sich Abraham und seine Nachkommen und sondert sie von allen Nationen ab. Abraham empfängt ausschließlich bedingungslose Verheißungen und keine Anordnungen (außer dem Befehl, sein Land zu verlassen und ins Land der Verheißung zu ziehen). Wir haben gesehen, dass sowohl seine leibliche Nachkommenschaft (Israel) als auch seine geistliche Nachkommenschaft, die von seinem Glauben abstammt, Teilhaber dieser Verheißungen sind.

Diese Einsetzung von unbereubaren Verheißungen ändert ihren Charakter jedoch stark, als Gott dem Menschen neben der Gabe der Verheißungen sein Gesetz auferlegt, das sich Israel tatsächlich selbst um den Hals legte, indem es von sich aus und ohne Selbsterkenntnis sagte: „Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun“ (2Mo 19,8). Galater 3 macht vollkommen deutlich, was der Platz und die Funktion des Gesetzes war. Es nahm nicht den Platz der Verheißung ein, sondern kam daneben ein, damit die Übertretung überströmend würde. Die Verheißung verlangt nichts von dem Menschen, sondern schenkt allein aus Gnade (obwohl eine Bekehrung notwendig ist, um den Segen zu ererben). Bevor die Verheißung jedoch erfüllt werden sollte (in Abrahams Nachkommen, d.i. Christus), wurde das Gesetz hinzugefügt, um dem Menschen zu zeigen, was der Zustand seines Herzens war, damit er überzeugt würde, dass die Verheißung allein aus Gnade und durch Glauben empfangen werden konnte und nicht aufgrund von Gesetzeswerken. Prinzipiell war es möglich, Gerechtigkeit aufgrund von Gesetzeswerken zu erhalten, denn: „Der Mensch, der diese Dinge tut, wird durch sie leben“ (Röm 10,5). Aber weil der Mensch vollkommen verdorben und zu nichts Gutem imstande war, konnte er das Gesetz nicht halten (Röm 8,7). Darum brachte das Gesetz in Wirklichkeit nichts anderes als Zorn (Röm 4,15), Verdammnis (2Kor 3,9), Fluch (Gal 3,10) und Tod (Röm 7,5.9.10.13; 2Kor 3,7; Gal 3,21) über den Menschen und war dadurch in sich selbst unvollkommen (Gal 5,23; Phil 3,6; Heb 7,19; 10,1). Das Einzige, wozu das Gesetz in der Lage war, war, die Übertretung überströmend zu machen (Röm 5,13.20; 7,7.8.13; 1Kor 15,56) und sie ans Licht zu bringen (Röm 5,13; 7,13; Gal 3,19.24; 1Tim 1,8.9).

Israel, das nach einem Gesetz der Gerechtigkeit strebte, ist nicht zu diesem Gesetz gelangt (Röm 9,31.32). Wir kennen die Geschichte Israels unter dem Gesetz. Stephanus (Apg 7) schilderte uns diese Geschichte, indem er die Treue Gottes (in der Verheißung) der Untreue des Volkes gegenüberstellte. Diese Untreue beinhaltete, dass das Volk Gott verwarf, und zwar auf zwei Weisen: einerseits, indem sie den Götzen dienten (bereits von Ägypten anfangend!), und andererseits, indem sie die Diener Gottes verwarfen, angefangen bei Joseph bis zu Christus selbst. Gottes richtende Hand vertrieb das Volk zweimal aus dem Land, nachdem Jerusalem zweimal verwüstet wurde: durch Nebukadnezar und durch den römischen Feldherrn Titus (vgl. 2Chr 36,15-17 und Lk 21,20-24). In beiden Fällen sorgt die Gnade Gottes für einen Überrest, der ins Land zurückkehrt: nach der Babylonischen Gefangenschaft und in der Zukunft. Seit der ersten Verwüstung Jerusalems hat die Regierung Gottes ihren Sitz nicht mehr in Jerusalem, sondern in den Häuptern der Nationen, beginnend mit Nebukadnezar bis zum Tier aus Offenbarung 13. Das sind die „Zeiten der Nationen“ (Lk 21,24).

Zu seinen eigenen Zeiten aber hat er sein Wort offenbart

Das unmittelbare Ergebnis dieser Geschichte der „Zeiten der Nationen“ ist das Kreuz, wo das böse Herz des Menschen eigentlich erst in seiner Gänze offenbar wird, während gleichzeitig auch das Herz Gottes vollkommen bloßgelegt wird.  Zuerst durch das Wort, das Fleisch wurde und unter uns wohnte: Gott, offenbart im Fleisch (Joh 1,14; 1Tim 3,16). Dann in seiner ganzen Fülle in der Predigt von Paulus durch den Heiligen Geist, nachdem Christus gestorben und auferstanden war und sich zur Rechten Gottes gesetzt hatte. Die Verheißung wurde vor allen Zeiten gegeben – die Offenbarung dagegen in der Zeit.

Wir müssen hier zunächst auf den Unterschied in den beiden Wörtern „Zeiten“ hinweisen, die in unseren Versen benutzt werden (vgl. Fußnote zu Tit 1,3 in der Elberfelder Üb., Edition CSV Hückeswagen). Bei „Zeiten der Zeitalter“ wird das Wort chronos benutzt und bei „zu seinen Zeiten“ das Wort kairos. Das letztgenannte Wort bedeutet „die richtige, gelegene Zeit“. In der Mehrzahl wird es oft mit „Zeitpunkte“ übersetzt, besonders wenn es in Verbindung mit chronos vorkommt (1Thes 5,1; Apg 1,7). Es deutet auf eine Periode hin, die durch bestimmte Eigenschaften gekennzeichnet wird. Dagegen weist chronos auf einen kürzeren oder längeren Zeitraum hin, manchmal auf einen Zeitpunkt, wobei die Dauer des Zeitraums im Vordergrund steht und nicht ihre Beschaffenheit wie bei kairos. Bei „Zeiten der Zeitalter“ geht es um die lange Periode, in der die Verheißung des ewigen Lebens bestand, die aber verborgen war; und bei „seinen Zeiten“ geht es um eine Periode, die gekennzeichnet wird durch die Offenbarung von Gottes Wort. Das wird noch durch „seinen“ verstärkt. Ich habe „zu seinen eigenen Zeiten“ übersetzt, wobei „seinen“ sich nicht auf Gott, sondern auf das Wort bezieht. Es wurde zu seiner eigenen Zeit offenbart, das heißt zu der dafür „geeigneten“, bestimmten Zeit. Das Wörtchen „eigen“ legt den vollen Nachdruck auf „Zeiten“. Wenn jemand fragen würde, warum Gott sein Wort nicht zu einer früheren Zeit offenbarte, dann lautet die Antwort, dass es genau die richtige, passende Zeit ist, das heißt weder früher noch später. Diese geeignete Zeit ist „jetzt“ (2Tim 1,10). Jetzt ist die „wohlangenehme Zeit (kairos), der Tag des Heils“ (2Kor 6,2).

Andere Textstellen gewähren uns weitere Einsichten in die göttliche Offenbarung zur rechten Zeit und belehren uns dabei nebenher auch weiter über den Unterschied zwischen chronos und kairos. Als die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn (Gal 4,4). Christus war zuvorerkannt vor Grundlegung der Welt, wurde aber am Ende der Zeiten offenbart (1Pet 1,20). Hier ist es in beiden Fällen chronos, denn es geht hier darum, dass die vergangenen Zeiten zu einem Ende gekommen waren. In Galater 3 und 4 gab es zunächst eine Periode, die durch das Gesetz gekennzeichnet wurde; doch als diese Zeit erfüllt (voll) war, sandte Gott seinen Sohn und brach die Zeitepoche des Glaubens an. Im ersten Petrusbrief gab es Zeiten, in denen das Lamm noch unbekannt war, aber als diese Zeiten zu Ende gekommen waren, wurde Christus offenbart. Römer 5,6 sagt, dass Christus zur bestimmten Zeit (kata kairon = „übereinstimmend mit der richtigen Zeit“) für Gottlose gestorben ist, und in 1. Timotheus 2,6 lesen wir, dass Christus sich selbst als Lösegeld gegeben hat, wovon das Zeugnis zu seiner Zeit (kairois idiois, genau wie in unserem Vers) verkündigt werden sollte. Hier geht es nicht um einen abgeschlossenen Zeitraum, sondern um die richtige, passende Zeit (oder Gelegenheit bzw. um den richtigen, passenden Zeitpunkt, dass etwas geschieht).

Die früheren Zeiten der Zeitalter sind vorbei. In der Vollendung der Zeitalter ist Christus einmal offenbart worden (dasselbe Wort wie in unserem Vers, aber ein anderes als „erscheinen“ in Hebräer 9,24 und 28), um die Sünde durch das Opfer seiner selbst abzuschaffen, den Tod zunichtezumachen sowie um Leben und Unverweslichkeit ans Licht zu bringen (Heb 9,26; 2Tim 1,10). Auf uns ist das Ende der Zeitalter gekommen (1Kor 10,11). Christus erschien, um uns das ewige Leben zu offenbaren. Er war einerseits das ewige Leben selbst, andererseits derjenige, dem es verheißen war, der es bewahrte und der kam, um es uns zu schenken. Die zurückliegenden „Zeiten der Zeitalter“ hatten jedoch dafür gesorgt, dass dieses ewige Leben dem Menschen nicht ohne Weiteres gegeben werden konnte, weil er in Vergehungen und Sünden tot war (Eph 2,1). Deshalb war es nicht ausreichend, dass Christus das ewige Leben war und es verleihen konnte – zuerst waren das Kreuz und die Auferstehung notwendig, bevor der Mensch dieses ewige Leben empfangen konnte. Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fiel, würde es alleine bleiben; wenn es aber starb, würde es viel Frucht bringen (Joh 12,24). Darum ist die Offenbarung des Wortes Gottes zu seiner Zeit nicht allein die Offenbarung der Verheißung des ewigen Lebens, sondern auch die Offenbarung von Gottes Gnade Sündern gegenüber, von Frieden mit Gott und ewiger Errettung. Gottes Gerechtigkeit wurde außerhalb des Gesetzes offenbar (obwohl das Gesetz und die Propheten von ihr zeugten), nämlich durch Glauben an Jesus Christus zur Erweisung seiner Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit (kairos; Röm 3,21-26). Zuerst musste deutlich gemacht werden, dass der Mensch vollständig in der Macht der Sünde ist; danach musste er davon erlöst werden und erst dann würde er das ewige Leben empfangen können. Wiedergeburt ist die Voraussetzung für den Empfang ewigen Lebens.

Das ist auch genau das, was der Herr Jesus Nikodemus klarmachen wollte (Joh 3). Nikodemus kam zu Ihm, um die neue Offenbarung kennenzulernen. Aber der Herr macht ihm deutlich, dass jemand zuerst von neuem geboren werden muss, bevor er das Reich Gottes sehen (Joh 3,3) und am Reich teilhaben kann (Joh 3,5). Diese Wiedergeburt war eine bekannte Sache, denn auch im Alten Testament war bereits von ihr die Rede (Hes 36,25-27). Außerdem ist sie eine irdische Sache, denn alle Menschen, die jemals Leben aus Gott empfingen oder noch empfangen werden, waren oder werden wiedergeboren. Der Herr sagt auch selbst (in Joh 3,12), dass die Wiedergeburt zum Irdischen gehört. Erst wenn wir an dieser irdischen Sache teilhaben, können wir das Himmlische empfangen. Die neue Geburt gehört nicht zu den geistlichen, himmlischen Segnungen aus Epheser 1, sondern ist die Eintrittstür zu diesen Segnungen. Das Himmlische selbst ist mit dem verbunden, der aus dem Himmel herabkam und uns das Himmlische gebracht hat, nämlich das ewige Leben. Er würde es aber erst schenken können, nachdem Er nicht nur aus dem Himmel herabgekommen, sondern auch ans Kreuz erhöht worden war, damit jeder, der an Ihn glaubt, nicht verlorengehe, sondern ewiges Leben habe (Joh 3,13-16).

Das ewige Leben ist kein Prüfstein für eine weitere neue Haushaltung, sondern eine Gabe Gottes aus Gnade. Seine Verleihung beruht auf Christus (der ja selbst das Leben ist), aber als dem Gestorbenen und Auferstandenen. Erst nach seiner Auferstehung konnte Er die Jünger Brüder nennen und konnte Er seinen Vater auch ihren Vater nennen (Joh 20,17). Das alles ist für die Auserwählten Gottes bestimmt, für diejenigen, die zum ewigen Leben bestimmt sind (Apg 13,48); folglich für die, die Gott vor Augen hatte, als Er das ewige Leben vor den Zeiten der Zeitalter in und an Christus verhieß, und die der Vater dem Sohn gab (vgl. Joh 17,6-10; Heb 2,13). Ihnen ist das Wort Gottes jetzt offenbart, das heißt nicht allein das Evangelium der Gnade, sondern die volle Wahrheit Gottes (vgl. Tit 1,1 und 1Tim 2,4).

In [der] Predigt, die mir anvertraut worden ist nach [dem] Befehl unseres Heiland-Gottes

Dieses Wort wurde durch den Heiligen Geist besonders dem Apostel Paulus offenbart, dem die Predigt desselben nach Befehl unseres Heiland-Gottes anvertraut wurde. „Wie werden sie hören ohne einen Prediger? Wie werden sie predigen, wenn sie nicht gesandt sind? Der Glaube ist aus der Verkündigung und die Verkündigung durch Gottes Wort“ (Röm 10,14-17). Paulus predigte das jetzt offenbarte Wort Gottes in Wort und Schrift. Das heißt, zuerst mündlich: Als sie das Wort der Kunde Gottes von ihm empfingen, hatten die Thessalonicher es angenommen, nicht als Menschenwort, sondern, wie es wahrhaftig ist, als Gottes Wort (1Thes 2,13). Zweitens schriftlich: Er konnte seine Briefe zu Recht zu den prophetischen Schriften zählen, und zwar nicht weniger als die prophetischen Schriften des Alten Testaments (Röm 16,26; vgl. Mt 26,56). Auch Petrus macht deutlich, dass die Briefe von Paulus auf demselben Niveau waren wie die Schriften des Alten Testaments und dass sie damit inspirierte Worte Gottes waren (2Pet 3,15.16), wobei seine Briefe die alttestamentlichen Schriften noch weit übertrafen, was die Offenbarung der vollen Wahrheit betraf. Denn was im Alten Testament bestenfalls vermutet werden konnte, wurde an und durch Paulus jetzt offenbart. Jesaja (Jes 64,3) hatte von dem Unbekannten gesprochen, das Gott denen bereitet hatte, die Ihn liebten; aber was dieses herrliche Geheimnis war, konnte niemand wissen. Durch den Geist Gottes wurde es dem Apostel jedoch jetzt vollständig offenbart (1Kor 2,7-10). Gott hat nichts zurückbehalten, sondern sein Herz völlig offengelegt. Der Herr Jesus hatte seinen Jüngern bereits gesagt, dass Er ihnen alles, was Er von seinem Vater gehört hatte, kundgetan hatte (Joh 15,15). Außerdem verhieß Er ihnen den Geist der Wahrheit, der sie in die ganze Wahrheit leiten würde (Joh 16,13).

Es ist (erstens) der Geist Gottes, der alle Dinge erforscht, auch die Tiefen Gottes. Es ist derselbe Geist, der (zweitens) die Geheimnisse dessen, was in Gott ist, den Aposteln bekanntmachte, und zwar ganz besonders Paulus. Es ist derselbe Geist, der (drittens) Paulus die Weisheit gab, diese Dinge zu verstehen, die ihm durch Gott geschenkt waren. Viertens war es derselbe Heilige Geist, der Paulus lehrte, mit welchen Worten er das offenbarte Wort Gottes predigen musste, so dass alle Worte, mit denen er die geistlichen Dinge weitergab, geistlich und aus dem Geist waren, ob es seine gesprochenen oder geschriebenen Worte betraf. Fünftens ist es wiederum derselbe Geist, der den Hörern von Paulus’ Worten das geistliche Unterscheidungsvermögen geben musste, damit sie annehmen und beurteilen konnten, was vom Geist Gottes war (1Kor 2,10-14). So ist alles aus dem Geist Gottes. Es ist der Geist, der offenbart. Er bedient sich dabei menschlicher Kanäle, aber macht sie so vollkommen zu seinen Instrumenten, dass das Wasser, das aus diesen Kanälen strömt, genauso sauber ist, als wenn es aus dem Brunnen käme. Und auch die, die es trinken, können es nur aufnehmen und genießen, wenn sie durch denselben Geist geleitet werden. Aber der natürliche Mensch nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird. Darum ist die Wahrheit in gewisser Hinsicht nur für solche bestimmt, die bekehrt und wiedergeboren sind. Nur sie können die Wahrheit durch Glauben erkennen, und sie haben das Zeugnis in sich selbst, d.i. das ewige Leben (1Joh 5,10-12).

Andererseits ist die Predigt des Wortes für alle Menschen. Das Wort besitzt universelle Autorität über alle Menschen, ob sie es annehmen oder nicht. Darauf liegt in unserem Vers der Nachdruck. Paulus wurde die Predigt nach Befehl unseres Heiland-Gottes anvertraut, und wir haben gesehen, dass es diese Bezeichnung ist, in der Gott als derjenige gesehen wird, der das Heil allen Menschen bringt (vgl. Tit 2,11) und der will, dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (1Tim 2,3.4). Diese Predigt umfasst deshalb zwei Elemente: erstens das Evangelium an alle Menschen, durch das sie errettet werden müssen (1Kor 15,1.2; Eph 1,13), und zweitens die Entfaltung der vollen Wahrheit allen, die tatsächlich errettet worden sind. Es war Paulus, der durch Gott als bewährt befunden worden war, mit der Verwaltung des Evangeliums der Herrlichkeit des seligen Gottes betraut zu werden (1Kor 9,16.17; 1Thes 2,4; 1Tim 1,11). Dieses Evangelium war nicht nach dem Menschen, und Paulus hatte es weder von einem Menschen empfangen noch gelernt, sondern durch Offenbarung Jesu Christi (Gal 1,11.12; vgl. Gal 1,15.16). Er war zum Prediger, Apostel und Lehrer der Nationen bestellt worden, und das Evangelium, das er verkündete, brachte Geheimnisse ans Licht, die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben, jetzt aber durch die Erscheinung Christi offenbart worden sind (2Tim 1,9-11; Röm 16,25-27). Zu Recht konnte Paulus deshalb von „seinem“ Evangelium sprechen (Röm 2,16; 16,25; 2Tim 2,8).

Durch diesen besonderen Auftrag unterscheidet sich der Dienst von Paulus sehr von dem der Zwölf. Er war nicht wie sie ein Zeuge des Lebens und der Auferstehung Christi und er hatte auch keinen besonderen Dienst an den Juden, sondern er war ein Apostel, der für die Nationen berufen wurde neben dem Zeugnis der Zwölf, die besonders in Israel wirkten. Er war kein Zeuge des erniedrigten Christus auf der Erde, sondern ein Zeuge seiner himmlischen Stellung als verherrlichter Mensch zur Rechten Gottes – Er verherrlicht und wir in dieser Stellung mit Ihm verbunden. Daher ist sein Dienst nicht zeitgebunden. Er verkündigte die ewigen, nicht die zeitlichen Ratschlüsse Gottes; die Ratschlüsse mit Bezug zum Himmel, nicht zur Erde. Deshalb redet nur er von himmlischen Segnungen.

Dagegen war Petrus einer der Zwölf und hatte darüber hinaus die Apostelschaft der Beschneidung (Gal 2,7.8). Seine Briefe richten sich an Gläubige, und sein Dienst hörte genau genommen auf, als das christliche Judentum bei der Verwüstung Jerusalems zum Ende kam (obwohl sein Dienst für den gläubigen jüdischen Überrest der Zukunft wieder von Bedeutung sein wird). Das Evangelium, das er bringt, ist nicht die Offenbarung ewiger, himmlischer Verheißungen, sondern die Erfüllung der Verheißungen an die Väter und das Zeugnis des Sterbens und Auferstehens Christi als die Grundlage dieser Erfüllung. Er predigt auch die Herrlichkeit Christi, aber nicht dessen jetzige himmlische Herrlichkeit, sondern seine irdische Herrlichkeit, die Er im Tausendjährigen Reich auf der Erde besitzen wird und die Petrus auf dem Berg der Verklärung angeschaut hatte.

Selbst der Dienst von Johannes, einem der Zwölf, ist in gewisser Hinsicht zeitgebunden. In der Tat offenbart er himmlische Grundsätze: den ewigen Sohn, aus dem Himmel herabgekommen, der Leben hat, ja selbst das ewige Leben ist, das bei dem Vater war und uns jetzt offenbart worden ist. Er beschreibt jedoch nicht den Genuss dieses ewigen Lebens im Himmel, sondern den Genuss dieses Lebens jetzt auf der Erde sowie die praktischen Früchte, die das ewige Leben in uns bewirkt. Aus Johannes 21,20-23 können wir ableiten, dass der Dienst von Johannes bis zum Kommen des Herrn bestehen bleibt. Deshalb redet sein Brief vom Abfall der letzten Stunde und darum wurde ihm auch das Buch der Offenbarung gegeben. Weder Petrus noch Johannes sprechen jedoch über das Geheimnis der Gemeinde, die nicht zeitgebunden und irdisch ist, sondern ewig und himmlisch, zuvorerkannt vor allen Zeiten und für ewig mit Christus als seinem Leib verbunden.

(b) Die Kindschaft von Titus (Tit 1,4)

Tit 1,4: … Titus, [meinem] echten Kind nach [dem] gemeinschaftlichen Glauben: Gnade und Friede von Gott*, [dem] Vater, und von Christus Jesus, unserem Heiland.

Titus, [meinem] echten Kind

Die ersten drei Versen geben uns die Kennzeichen von Paulus’ Apostelschaft an. Dieser Vers spricht von der Kindschaft von Titus. Paulus nennt Titus [sein] echtes Kind. Das Wort für „echt“ bedeutet eigentlich „gesetzlich gezeugt“ und hängt mit dem Wort „(geboren) werden“ zusammen. Wenn der Apostel Titus also sein Kind nennt, dann ist das nicht nur eine Bezeichnung, sondern Wirklichkeit, denn Titus ist durch Geburt sein eigenes Kind, jedoch nicht durch leibliche Geburt, denn Paulus fügt hinzu: „nach unserem gemeinschaftlichen Glauben“. Titus’ Kindschaft besteht also darin, dass er durch den Dienst von Paulus zum Glauben gekommen war. Er war von neuem geboren, in gewissem Sinn durch die Zeugung von Paulus, und dadurch war er nach dem Glauben Paulus’ Kind geworden. Ebenso nennt Paulus auch Timotheus ein „echtes Kind in [dem] Glauben“ (1Tim 1,2). Das Wort für „echt“ wird in Philipper 4,3 mit „treu“ wiedergegeben und steht in 2. Korinther 8,8 für sich und wird übersetzt mit „Echtheit“. Auch anderswo sagt Paulus von denen, die durch sein Wort zum Glauben kamen, dass er sie gezeugt hatte: Die Gläubigen aus Korinth hatte er in Christus Jesus durch das Evangelium gezeugt (1Kor 4,15) und sein Kind Onesimus hatte er in seiner Gefangenschaft gezeugt (Phlm 1,10).

Über sein Kind Timotheus spricht er auf besonders innige Weise: „mein geliebtes und treues Kind im Herrn“ (1Kor 4,17); „er hat wie ein Kind dem Vater mit mir gedient an dem Evangelium“ (Phil 2,22); „[mein] echtes Kind“ (2Tim 1,2). Diesen vertraulichen Ton vermissen wir im Titusbrief. Wir haben bereits gesehen, dass die Briefe an Timotheus im Allgemeinen inniger sind als die an Titus. Die Vertrautheit mit Timotheus, bei dem er sein Herz ausschüttete und dem er seine Sorgen und Ängste mitteilte, finden wir nicht im Titusbrief. Vielleicht waren die Umstände anders, möglicherweise fühlte sich der Apostel nun einmal mehr mit Timotheus verwandt.

Nach [dem] gemeinschaftlichen Glauben

Titus war sein Kind nach [dem] gemeinschaftlichen Glauben. Die Klammern zeigen, dass der Artikel auch hier fehlt. Es bedeutet also nicht: nach dem, was sie gemeinschaftlich glaubten, sondern: in Übereinstimmung mit der Tatsache, dass sie beide dasselbe glaubten. Der Jude Paulus und der Heide Titus hatten dieselbe Wahrheit im Glauben angenommen. Sie gehörten nicht nur zu derselben Gemeinde, in der es weder Juden noch Griechen gibt, sondern sie bekannten darüber hinaus denselben Glauben. In gleicher Weise schreibt Petrus an die gläubigen Juden: „denen, die einen gleich kostbaren Glauben mit uns empfangen haben“ (2Pet 1,1). Er spricht dort allerdings zu seinen eigenen jüdischen Volksgenossen, die genau wie er den Glauben empfangen hatten aufgrund der Gerechtigkeit Jahwes gegenüber seinen an die Väter ergangenen Verheißungen. Unser Vers geht jedoch viel weiter: Dort geht es um einen Juden und um einen Heiden, die beide denselben Glauben haben, der auf der Grundlage einer Verheißung beruht, die nicht an die Väter ergangen war, sondern vor den Zeiten der Zeitalter verheißen worden war. Auch dieser Vers enthält deshalb einen dezenten Hinweis auf die offenbarten Geheimnisse Gottes bezüglich des ewigen Lebens und der Gemeinde, in der kein Unterschied mehr zwischen Juden und Heiden besteht (vgl. Eph 2,11–3,12; Kol 3,11; Gal 3,25-29).

Gnade und Friede

Paulus wünscht Titus Gnade und Friede, wie er das in all seinen Briefen tut. In den persönlichen Briefen wird oft noch „Barmherzigkeit“ hinzugefügt (wie in 1. und 2. Timotheus ebenso wie in 2. Johannes) und auch in unserem Vers lesen einzelne Handschriften: „Gnade, Barmherzigkeit, Frieden“. Diese Hinzufügung finden wir in Philemon nicht, denn es handelt sich dabei eigentlich nicht um einen persönlichen Brief, weil er sich auch an die Gemeinde richtet, die in seinem Haus ist. Dagegen finden wir „Barmherzigkeit“ wohl im Judasbrief. Das erscheint merkwürdig, weil dieser Brief nicht streng persönlich ist, sondern sich an die „Berufenen“ richtet. Wir müssen jedoch bedenken, dass die „Berufenen“ wegen des Verfalls in der Christenheit und ihrer persönlichen Verantwortlichkeit inmitten dieser Umstände nicht als Gemeinde angesprochen werden, sondern als einzelne Gläubige. Wenn zu einer Gemeinde als solcher gesprochen wird, finden wir keine Rede von Barmherzigkeit, denn das würde im Widerspruch mit dem Charakter der Gemeinde stehen. Sie ist zwar durch die Barmherzigkeit Gottes Gemeinde geworden, lebt aber nicht kraft dieser Barmherzigkeit, sondern aus dem Geist. Um das zu verstehen, müssen wir wissen, was mit Barmherzigkeit gemeint ist. Barmherzigkeit ist nicht dasselbe wie „Gnade“, die Wohlgesinntheit Gottes, der dort gibt, wo kein Anrecht besteht. Aus dieser Gnade lebt auch die Gemeinde. Aber die Barmherzigkeit steht mehr in Verbindung mit der Schwachheit unseres Fleisches. Sie ist dort nötig, wo das Fleisch noch wirksam ist oder sein kann und wo der einzelne Gläubige noch in geistliche Schwachheiten fallen kann (vgl. 2Kor 4,1; 2Tim 1,16-18; Heb 4,14-16). Das kann man von der Gemeinde als solcher nicht sagen, denn in ihr hat das Fleisch keinen Platz. Sie ist aus dem Geist, durch den Geist zu einem Leib geworden und sie lebt durch den Geist. Gott sieht sie immer als vollendet an (Eph 1,22.23).

Wie bereits gesagt kommt in unserem Vers „Barmherzigkeit“ nicht vor, obwohl dieses Wort viele Handschriften haben, namentlich der bedeutsame Codex Alexandrinus. Es ist schwierig, festzustellen, ob es in den Text hineingehört. Vielleicht haben die Abschreiber es versehentlich eingefügt, weil sie die Anrede der beiden anderen pastoralen Briefe so gut kannten. In jedem Fall fehlt es in vielen wichtigen Handschriften (namentlich im Codex Sinaiticus) und alten Übersetzungen der ersten Jahrhunderte sowie bei den Kirchenvätern. Wenn es dennoch in den Text gehört, ist es unklar, warum so viele es weggelassen haben. Dieses Argument wird jedoch stark abgeschwächt, denn wir lesen von Chrysostomos (†407), dass er es aus dem Grund weglässt, weil es weiterhin nur im ersten Timotheusbrief vorkäme. Das ist jedoch ein Irrtum, denn im zweiten Timotheusbrief kommt es ebenfalls vor, so dass wir uns erneut fragen, ob es vielleicht doch in unseren Vers hineingehört. Die Regel, dass es weiterhin in allen persönlichen Briefen vorkommt, die eine Anrede und einen Segenswunsch enthalten, weist in jedem Fall stark in diese Richtung.

Paulus wünscht Titus Gnade und Frieden für das praktische christliche Leben. Wir müssen das gut von der Gnade und dem Frieden unterscheiden, die wir bei unserer Errettung empfangen. Wenn es um diese Gnade geht, dann sagt Paulus, dass wir durch Gnade errettet sind mittels des Glaubens (Eph 2,5.7.8; vgl. Eph 1,6.7) und dass wir umsonst durch Gottes Gnade gerechtfertigt werden durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist (Röm 3,24). Das ist Gottes Gnade für Sünder. Aber es gibt auch eine Gnade Gottes des Vaters für seine Kinder: eine Gnade, an der wir keinen Mangel leiden sollen (Heb 12,15); die wir festhalten sollen (Heb 12,28); die das Herz befestigt (Heb 13,9); eine Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus, in der wir wachsen sollen (2Pet 3,18). Diese Gnade ist die Wohlgesinntheit Gottes, die Er uns in Christus bewiesen hat, als wir noch Sünder waren (vgl. Tit 2,11; 3,7), die wir aber auch jetzt schon als seine Kinder kennen und genießen dürfen und sollen. Der Gerichtsthron ist jetzt für uns zum Gnadenthron geworden (Heb 4,16). Das Bewusstsein dieser Gnade und ihr Genuss bewirken Frieden in der Seele. Wenn wir Frieden haben, ruhen wir in der Gnade. Auch den Frieden kennen wir in zweierlei Hinsicht: Erstens haben wir den Frieden kennengelernt, als wir ohne Hoffnung und ohne Gott in der Welt waren (Eph 2,12). Christus hat durch das Blut seines Kreuzes Frieden gemacht, verkündigte uns, die wir fern waren, diesen Frieden und brachte uns nahe durch sein Blut (Eph 2,14.15.17; Kol 1,20). Jetzt haben wir – auf der Grundlage des Glaubens gerechtfertigt – Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus (Röm 5,1). Das Verhältnis zwischen Gott und mir als verlorenem Geschöpf ist für ewig wiederhergestellt. Aber es ist etwas anderes, ob ich auch praktischen Frieden in meinem Herzen habe und genieße; ob ich nicht nur Frieden mit Gott habe, sondern ob der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, mein Herz und meine Gedanken (vgl. Fußnote zu Phil 4,7 in der Elberfelder Üb., CSV) in Christus Jesus bewahrt und ob der Friede des Christus in meinem Herzen regiert (Kol 3,15). Es kann sein, dass ich Heilsgewissheit habe (Frieden mit Gott), aber nicht die Freude und den praktischen Frieden Gottes, der als Folge davon in meinem Herzen sein muss. Ich habe beide Arten von Frieden nötig, wie der Herr Jesus selbst gesagt hat: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch“ (Joh 14,27). Der erste Frieden ist der Frieden, den Er durch sein Blut bewirkt hat und der das Geschöpf mit Gott ins Reine bringt. Der zweite Frieden ist der persönliche Friede, den der Herr inmitten schrecklichster Umstände in seinem Herzen genoss. So finden wir auch in Johannes 20,10-23 zweimal „Friede euch“: das erste Mal in Verbindung mit seinem Erlösungswerk (Er zeigt seine Hände und seine Seite; Joh 20,20) und das zweite Mal in Verbindung mit dem praktischen Frieden, den die Jünger in ihrem Dienst für Gott nötig haben würden (Er sendet sie aus; Joh 20,21). Und Matthäus 11 lehrt uns dasselbe, was die mit dem Frieden verwandte „Ruhe“ betrifft: zuerst die Ruhe, die wir für unser Gewissen empfangen, wenn wir mühselig und beladen zum Herrn kommen; danach die praktische Ruhe, die wir für unsere Seelen empfangen, wenn wir sein Joch aufnehmen und von Ihm lernen (Mt 11,28-30).

Von Gott*, [dem] Vater, und von Christus Jesus, unserem Heiland

Gnade und Frieden empfangen wir von Gott, dem Vater, und von Christus Jesus, unserem Heiland. Hier ist es nicht im Allgemeinen „unser Heiland-Gott“, was die Beziehung angibt, in der Gott jetzt zu allen Menschen gekommen ist, wie wir gesehen haben. Hier geht es nicht um sein Verhältnis zu allen Menschen, sondern um seine Beziehung zu den Gläubigen. Und dann ist es: einerseits Gott, der als Vater gekannt wird, und andererseits der Sohn, der unser Heiland ist. Der Ausdruck „Christus Jesus, unserem Heiland“ kommt nur in der Anrede dieses Briefes vor, genauso wie in Titus 1,1 auch der Ausdruck „Knecht Gottes“ nur in dieser Anrede vorkommt. In den anderen Briefen finden wir stets: „Herr Jesus Christus“. Nur in den beiden Timotheusbriefen heißt es: „Christus Jesus, unserem Herrn“. Weil unsere Anrede als einzige Anrede die Bezeichnung „Heiland“ enthält, haben viele weniger bedeutsame Handschriften hier auch versehentlich „dem Herrn Jesus Christus“ eingefügt in Anlehnung an die anderen Briefe. Die Bezeichnung „Heiland“ kommt gut und gerne sechsmal im Titusbrief vor, das heißt öfter als in allen anderen Briefen. Zweimal steht sie für Gott im Allgemeinen (Tit 1,3; 2,10); in unserem Vers steht sie für Christus neben Gott, dem Vater; in Titus 2,13 steht sie von Christus als Gott selbst; und in Titus 3,4.6 finden wir „unseren Heiland-Gott“ und „Jesus Christus, unseren Heiland“ nebeneinander. Es wird somit zuerst mit Christus als Mensch, neben Gott verbunden (Tit 3,6; vgl. Lk 2,11; Apg 5,31; 13,23); zweitens mit Christus als Sohn neben dem Vater (Tit 1,4; vgl. 1Joh 4,14); drittens mit Christus als Gott selbst (Tit 2,13; vgl. 2Pet 1,1); viertens mit Gott im Allgemeinen (Tit 1,3; 2,10) und fünftens mit Gott selbst, neben Jesus Christus als Mensch (Tit 3,4; vgl. Lk 1,47; 1Tim 1,1; 2,3-5). Wir kommen auf die Bedeutung dieser Bezeichnung noch zurück.

(2) Die Anstellung von Ältesten zur Überführung der Widersprechenden (Tit 1,5-16)

(a) Die Eigenschaften der Ältesten oder Aufseher (Tit 1,5-9)

Tit 1,5.6: Deswegen ließ ich dich in Kreta zurück, damit du die mangelnden [Dinge] in Ordnung bringen und in jeder Stadt Älteste anstellen möchtest, wie ich dir geboten hatte: Wenn jemand unsträflich ist, Mann einer Frau, gläubige Kinder habend, [die] nicht eines ausschweifenden Lebens beschuldigt werden oder zügellos [sind].

Nach der Einleitung der ersten vier Verse kommt Paulus jetzt zum Hauptthema des Briefes. Zuerst hat er die „gesunde Lehre“ behandelt, jetzt kommt es auf ihre praktische Auswirkung im Haus Gottes an. Die Vorschriften, die der Apostel gibt, lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: erstens (im Rest von Kapitel 1) persönliche Vorschriften für Titus selbst, die die Anstellung von Ältesten sowie die Vorgehensweise gegenüber falschen Lehrern betrifft. Danach folgen (in Kapitel 2) Ermahnungen für verschiedene Klassen Gläubiger: alte und junge, Männer und Frauen sowie Knechte.

Deswegen ließ ich dich in Kreta zurück

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, liegt der Nachdruck hier auf der Anstellung von Ältesten und im ersten Timotheusbrief auf der Bewahrung der gesunden Lehre. Sowohl Timotheus als auch Titus waren durch Paulus auf seinen Reisen an einem bestimmten Platz zurückgelassen worden, Timotheus in Ephesus (1Tim 1,3) und Titus auf Kreta. Beide hatten da auch bereits Aufträge von Paulus empfangen und empfingen später einen Brief, in dem diese Aufträge schriftlich bestätigt wurden. Auch mussten beide nur vorübergehend in ihrem Arbeitsgebiet bleiben. In der Überlieferung von Eusebius wird berichtet, dass Titus später nach Kreta zurückgekehrt und dort bis zu seinem Tod „Bischof“ gewesen sein soll; doch hier war – angesichts des bereits damals eingetretenen klerikalen Zustands – der Wunsch offensichtlich der Vater des Gedankens. Der zeitlich begrenzte Aufenthalt von Titus auf Kreta wird (neben Tit 3,12) auch durch das Wort „zurücklassen“ (apoleipo) ausgedrückt, das eine mehr vorübergehende Bedeutung hat als das von einigen weniger bedeutsamen Handschriften benutzte Wort kataleipo.

Damit du die mangelnden [Dinge] in Ordnung bringen … möchtest

Titus sollte „das Mangelnde“ (eigentlich: das Restliche, Übriggebliebene) in Ordnung bringen. Damit ist also gemeint, dass er die Tätigkeiten von Paulus unter den Gläubigen, mit denen dieser nicht fertig geworden war, fortsetzen und abschließen sollte. Darauf weist das Wort „in Ordnung bringen“ (epidiortheo) hin, das zusammengesetzt ist aus epi (wörtlich „auf“; hier: „zusätzlich, weiterhin“), dia (wörtlich „durch“; hier stärker: „durch und durch“) sowie orthos („richtig“). Das Verb bedeutet also: „weiterhin durch und durch richtigstellen“, wobei das Wörtchen „weiterhin“ darauf hinweist, dass Titus die Arbeit von Paulus („die restliche, übriggebliebene Arbeit“) beenden sollte. Zweitens sollte Titus in jeder Stadt Älteste anstellen. Dieser Vers ist also eine Überschrift aller Anordnungen, die Paulus gibt: Der zweite Satzteil (Anstellung von Ältesten) wird in Kapitel 1 ausgearbeitet, und den ersten Teil, die hirtendienstliche Arbeit unter den Gläubigen, finden wir in Kapitel 2.

Täglich drang die Sorge um alle Versammlungen auf Paulus ein (2Kor 11,28). Die Gläubigen hatten sich erst vor kurzem bekehrt und noch so viel Belehrung und Seelsorge nötig. Diese Sorge erstreckte sich sogar bis zu den Gemeinden, die er noch nie gesehen hatte, wie die in Rom (Röm 1,11; 15,29). Die jungen Gläubigen hielten oft noch an allerlei heidnischem Bösen fest, was dem Apostel große Sorgen machte. Das sehen wir zum Beispiel auch aus seinen Anordnungen für die Ältesten (Tit 1,6-9), wo wir Eigenschaften erwähnt finden, die für uns selbstverständlich sind (wie „Mann einer Frau“; „nicht dem Wein ergeben“, „nicht zornmütig“), damals aber sicherlich keine Selbstläufer waren. Wenn Paulus nicht selbst im Hirtendienst für die Gläubigen tätig sein konnte, dann konnte er einen Gesandten schicken. So sandte er Timotheus zu den Korinthern, um sie an seine Wege zu erinnern, die in Christus sind, wie er überall in jeder Versammlung lehrte (1Kor 4,17; 16,10). Ebenso sandte er ihn zu den Thessalonichern, um sie hinsichtlich ihres Glaubens zu befestigen und zu trösten, damit sie in ihren Drangsalen nicht wankend würden (1Thes 3,2). Genauso verfuhr Paulus in Ephesus (1Tim 1,3-5) und ebenso auch Titus in Kreta. Paulus hatte gepflanzt, Titus sollte begießen (1Kor 3,6).

Und in jeder Stadt Älteste anstellen möchtest, wie ich dir geboten hatte

Es ist für uns von großer Wichtigkeit, zu erkennen, dass Titus somit als ein Abgesandter, ein von Paulus Bevollmächtigter, auf Kreta war. Die Autorität, mit der er seine Arbeit auf Kreta verrichtete, war die apostolische Autorität, die ihm der Apostel für eine Zeit verliehen hatte. Allein unser Vers gibt uns hierfür bereits vier Anhaltspunkte: 

  1. Es ging um die eigene Arbeit des Apostels, die Titus abschließen sollte: Die Arbeit, die von Paulus „übriggelassenen“ war, musste er „weiterhin richtigstellen“.
  2. Die einzigen Gründe, warum Titus Älteste anstellte, bestanden für ihn darin, dass der Apostel ihn dazu auf der Insel zurückgelassen und ihm dies geboten hatte.
  3. Darüber hinaus war Paulus’ Auftrag klar umrissen und begrenzt, denn Titus sollte für eine kurze Zeit auf Kreta bleiben (vgl. Tit 3,12), die Arbeit zu Ende bringen und anschließend zurückkehren. Er sollte nicht etwa überall und zu allen Zeiten Älteste anstellen, wo er es für nötig erachtete – wir lesen zum Beispiel nicht, dass er in Korinth Älteste anstellen sollte –, sondern sein Auftrag galt nur für Kreta.
  4. Schließlich achten wir auf den letzten Satzteil von Vers 5: „wie ich dir geboten hatte“, in dem das Wörtchen „ich“ im Griechischen besonders betont wird, was die apostolische Autorität, die Titus für die Anstellung von Ältesten nötig hatte, erneut unterstreicht.

All das zeigt, dass diese Anstellung ausschließlich in der Autorität des Apostels Paulus geschah. Wenn die Kommentatoren der NBG-Übersetzung an einer Stelle bemerken, dass die Gemeinden bei dieser Anstellung ihren Teil beigesteuert haben sollen, dann ist das nicht nur aus der Luft gegriffen, sondern darüber hinaus im Widerspruch zu allen Angaben des Neuen Testaments. Wir werden dem nachgehen.

Über die Anstellung von Ältesten lesen wir im Neuen Testament in der Tat nur dreimal:

  1. In Apostelgeschichte 14,23 lesen wir, dass Paulus und Barnabas (beides Apostel, vgl. Apg 14,4.14) in den Gemeinden von Lystra, Ikonium und Antiochien Älteste erwählten.
  2. Auch in Apostelgeschichte 20,28 sagt Paulus zu den Ältesten von Ephesus, dass der Heilige Geist sie als Aufseher in der Herde gesetzt hatte, um die Gemeinde Gottes zu hüten.
  3. Die dritte Stelle ist hier in Titus. Das Wort „anstellen“ in unserem Vers ist ein ziemlicher starker Ausdruck, wenn wir ihn mit den Worten der beiden anderen Verse vergleichen: erwählen und setzen. Das für „erwählen“ benutzte Wort hat durchaus nicht die Bedeutung von „anstellen“, wie einige Übersetzungen wollen, sondern bedeutet normalerweise in der Tat „auserwählen“ (vgl. die Verwendung desselben Wortes in Apg 10,41 und 2Kor 8,19).

Das Wort für „setzen“ (tithèmi) in Apostelgeschichte 20,28 hat oft die Bedeutung von „in einen bestimmten Dienst setzen“ (nicht so sehr in ein Amt; vgl. z.B. Joh 15,16 [die Jünger]; 1Tim 1,12; 2Tim 1,11 [Paulus]; Heb 1,2 [Christus]). In diesem Zusammenhang ist 1. Korinther 12,28 sehr wichtig, wo wir diesem Wort ebenfalls begegnen: „Gott hat einige in der Gemeinde gesetzt: erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer.“ Wir müssen gut verstehen, dass es hier nicht um Ämter geht, sondern um Gaben, die Gott gegeben hat, damit der Gemeinde gedient würde. Diese Personen dienen der Gemeinde nicht, weil sie dazu in einem bestimmten Amt angestellt wurden, sondern weil sie dazu unmittelbar vom Herrn eine Gabe empfangen haben. Nicht die Gemeinde selbst, sondern Gott hat sie in die Gemeinde gesetzt. Darum drückt es Epheser 4,11 so aus: „Christus hat einige als Apostel gegeben, andere als Propheten und andere als Evangelisten und andere als Hirten und Lehrer.“ Es ist völlig gegen die Schrift, wenn beispielsweise vom Lehreramt gesprochen wird: Der Lehrer ist eine Gabe, die von Christus an die Gemeinde gegeben wurde. Dagegen wird man zu einem Amt von einem Apostel oder seinem bevollmächtigten Vertreter angestellt. Wir kommen noch darauf zurück – wir müssen jetzt zuerst einmal die Wörter betrachten, die sich auf die Anstellung beziehen.

Das Wort „anstellen“ in unserem Vers (kathistèmi) weist (anders als tithèmi) auf die Anstellung zu einer bestimmten Funktion oder zu einem Amt hin. So beispielsweise der Knecht, der über seine Mitknechte oder Güter „gesetzt“ wurde (z.B. Mt 24,45.47; 25,21.23), oder das Amt des Richters (Lk 12,14; Apg 7,27.35) oder Joseph als Haupt über Ägypten und das Haus Pharaos (Apg 7,10). Ebenso das Priesteramt im Alten Testament (Heb 5,1; 7,28; 8,3) und die „Diakone“  in Apostelgeschichte 6,3. „Anstellen“ (kathistèmi) ist von „stellen“ (histèmi; nicht tithèmi) abgeleitet, das nie „anstellen“ bedeutet wie kathistèmi und tithèmi. Deshalb dürfen wir in Apostelgeschichte 1,23 (wo histèmi verwendet wird) auf keinen Fall lesen: „anstellen“ oder sogar „vorstellen“ (NBG-Übersetzung), weil es das Griechische nicht zulässt und weil es außerdem eine bestimmte Wahl an Gläubigen andeutet. Die Jünger stellten nichts vor – sie „stellten“ nur die Männer „dar“, die als einzige die festgelegten Voraussetzungen für die Apostelschaft erfüllten. Nirgendwo lesen wir von einer amtlichen Anstellung durch eine Gemeinde. Zwar erwählt die Menge in Apostelgeschichte 6 sieben Männer, doch sind es die Apostel, die sie „über diese Aufgabe bestellen“ und die ihnen die Hände auflegen. Auch in 2. Korinther 8,19 „wählt“ die Gemeinde, aber dort hat es nichts mit einem Amt zu tun. Genau wie in Apostelgeschichte 6 geht es dort um die Belange der Armen, und darin hat die Gemeinde sicher Einfluss, denn sie ist es, die die Mittel für diese Zuwendung an Arme zur Verfügung stellt. Sobald es sich jedoch um eine offizielle Anstellung handelt, kann es nur über die Apostel gehen. Und wenn es dann auch noch um ein Verwaltungsamt geht, wie es beim Aufseheramt der Fall ist, lesen wir überhaupt nichts mehr von einer Einflussnahme durch die Gemeinde, sondern dann liegt die Wahl und Anstellung ganz in den Händen der Apostel bzw. ihrer Bevollmächtigten. Natürlich muss das jederzeit unter der Leitung des Heiligen Geistes erfolgen – Paulus und Titus stellen nicht aufgrund eigener Willkür an, sondern benennen diejenigen, die durch den Heiligen Geist bereits vorher zubereitet wurden und die das auch gezeigt hatten. Es ist damit letzten Endes der Heilige Geist, der die Aufseher in der Herde setzt (Apg 20,28). Deshalb verleiht Paulus Titus nicht nur die Autorität für die Anstellung, sondern nennt auch die Voraussetzungen, denen die potentiellen Aufseher gerecht werden mussten.

Wir müssen uns jetzt mit dem Amt selbst beschäftigen. Das Wort für „Älteste“ ist presbuteros, das wörtlich „Ältere“ bedeutend. Nach diesem Wort ist die presbyterianische Kirche benannt. Außerdem wurde davon in vielen Sprachen das Wort „Priester“ abgeleitet, ein lebendiger Beweis des Verfalls, der bereits früh in der Christenheit eintrat: Die Anzahl an Ältesten ging auf einen zurück, der der Gemeindeleiter wurde und auch die Dienste leitete (was ursprünglich absolut nichts mit dem Amt eines Ältesten zu tun hatte). Als darüber hinaus der judaistische Opferdienst (die Messe) eingeführt wurde, erhielt das lateinische Wort presbyter (das vom griechischen presbuteros abgeleitet ist) immer mehr den Inhalt, den wir heute mit dem Wort „Priester“ verbinden, nämlich jemand, der religiöse Opfertätigkeiten ausführt wie die Priester in Israel und den Nationen, aber auch die neutestamentlichen Priester im schriftgemäßen Sinne: Darbringer geistlicher Opfer (1Pet 2,5; Heb 13,9-15; Off 1,6; 5,10). Was unser Wort „Älteste“ angeht, sei am Rande bemerkt, dass der Unterschied, der in einigen Übersetzungen zwischen „Älteste“ und „Älteren“ gemacht wird, auf keine Verschiedenheit im Grundtext zurückzuführen ist. Beiden Wörtern liegt das griechische Wort presbuteros zugrunde. Es scheint mir deshalb ungefährlicher zu sein, ausschließlich das Wort „Älteste“ als Übersetzung für presbuteros zu verwenden, auch wenn es tatsächlich von Text zu Text Bedeutungsunterschiede geben kann, wie wir noch sehen werden:

  1. Zunächst einmal begegnen wir presbuteros in seiner buchstäblichen Bedeutung „älter an Lebenszeit“ in Lukas 15,25; Johannes 8,9; Apostelgeschichte 2,17; 1. Timotheus 5,2. Vergleiche auch 1. Petrus 5,1.5, wo es wohl um eine bestimmte Stellung in der Gemeinde geht, aber wo die wörtliche Bedeutung deutlich im Vordergrund steht, weil es als Gegenüberstellung zu „Jüngeren“ (neoteroi) gebraucht wird. In einem mehr übertragenen Sinn wird das Wort für die Vorväter Israels („die Ältesten“) verwendet (vgl. Mt 15,2; Mk 7,3.5; Heb 11,2). Schließlich wird presbuteros benutzt, um nicht so sehr das höhere Lebensalter selbst, wohl aber die Stellung und Verantwortung anzudeuten, die mit einer höheren Lebenszeit einhergeht. In diesem Sinn sind es diejenigen, die eine führende Aufgabe ausüben und aufgrund ihrer Weisheit und Lebenserfahrung Achtung genießen. Das sind in erster Linie die Ältesten, so wie wir sie im Alten und Neuen Testament in Israel finden (Mt 16,21; 26,47; Lk 7,3; vgl. 2Mo 24,9; 5Mo 19,12; Jos 8,33 etc.).
  2. Zweitens sind presbuteros die vierundzwanzig Ältesten in der Offenbarung, die eine Darstellung aller Heiligen aus dem Alten und Neuen Testament bis zur Aufnahme der Gemeinde bei der Wiederkunft des Herrn sind und die aufgrund ihrer führenden Funktion und gereiften Lebensweisheit in dieser Weise vorgestellt werden.
  3. Drittens hat presbuteros die Bedeutung, um die es uns jetzt geht: nämlich Älteste in den christlichen Gemeinden.

Wir müssen hierbei direkt darauf hinweisen, dass in dieser Bedeutung der „Älteste“ derselbe ist wie der „Aufseher“ (vgl. Tit 1,7). Das Wort „Aufseher“ ist eine wörtliche Wiedergabe des griechischen Wortes episkopos, nach dem die episkopale Kirche benannt ist und von dem in vielen Sprachen das Wort „Bischof“ abgeleitet wurde. Auch hier haben wir einmal mehr einen direkten Beweis, wie die christliche Tradition die Schrift verdreht hat. Immerhin steht momentan der Bischof über den Priestern, weil man durch den „Episkopen“ (Bischof) zum „Presbyter“ (Priester) geweiht wird und weil der Bischof aus den Priestern gewählt und über sie gestellt wird. Im Neuen Testament ist das Amt des „Ältesten“ jedoch genau dasselbe wie das des „Aufsehers“. Das wird allein schon aus Titus 1,5-7 deutlich: „… in jeder Stadt Älteste anzustellen …: Wenn jemand untadelig ist … Denn der Aufseher muss untadelig sein …“ (Tit 1,5-7). Titus sollte Älteste anstellen und wenn Paulus anschließend die Voraussetzungen nennt, denen die Ältesten entsprechen mussten, spricht er über „den Aufseher“. Wir haben auch in Apostelgeschichte 20 einen Beweis, wo Paulus in Milet die Ältesten von Ephesus zu sich kommen lässt und ihnen sagt, dass sie auf sich selbst und auf die ganze Herde achthaben sollten, über die sie der Heilige Geist als Aufseher gesetzt hatte (Apg 20,17.28). Es ist folglich ein und dasselbe Amt, obwohl natürlich klar ist, dass die Schrift nicht einfach so zwei verschiedene Worte für dieselbe Sache benutzt. Das Wort „Aufseher“ kennzeichnet mehr das „Amt“ und das Wort „Älteste“ mehr den „Amtsträger“. Das Erste gibt die Art der Arbeit an: Es ist eine verwaltende, leitende Aufgabe, das Achtgeben auf die Herde und das Weiden der Gemeinde Gottes. Das Zweite typisiert die Person, die diese Aufgabe ausübt, nämlich jemand mit einer gereiften Lebenserfahrung.

In beinahe allen Fällen, in denen über Älteste und Aufseher in den Gemeinden gesprochen wird, finden wir keinen Hinweis darüber, dass sie dazu offiziell angestellt wurden. Bei den jüdischen Gemeinden ist das auch nachvollziehbar, da in Israel ein offizielles Amt von Ältesten unbekannt war. Die älteren Männer, die aufgrund ihrer Lebenserfahrung die Fähigkeit hatten, zu führen, waren von selbst „die Ältesten“, und ihre Autorität war nicht formeller, sondern moralischer Natur. In den jüdischen Gemeinden verhielt es sich genauso. Auch dort erkannten die Gläubigen von selbst die moralische Autorität  der älteren Brüder, ohne dass eine offizielle Anstellung auch nur bekannt oder im entferntesten nötig war. Mehrmals ist die Rede von den Ältesten Jerusalems (Apg 11,30; 15; 16; 21,18) und auch im allgemeinen Sinn von Ältesten unter den Gläubigen aus den Juden (Jak 5,14; 1Pet 5,1.5; wie bereits gesagt sieht man aus diesen letzten Versen gut, wie unter den jüdischen Gläubigen die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Älteste“ stärker in den Vordergrund tritt). Petrus und Johannes nennen sich selbst in ihren Briefen ebenfalls Älteste (1Pet 5,1; 2Joh 1,1; 3Joh 1,1). In gewisser Hinsicht besaßen die zwölf Apostel auch eine „Aufseherschaft“ (episkopè; Apg 1,20).

Auch bei den Gemeinden aus den Nationen lesen wir ab und zu von Ältesten und Aufsehern: In Ephesus (Apg 20,17.28; 1Tim 3,2; 5,17.19), in Philippi (Phil 1,1), auf Kreta (Tit) sowie in Lystra, Ikonium und Antiochien (Apg 14,21-23). In den letzten vier Stellen lesen wir, dass die Ältesten offiziell angestellt wurden. In 1. Timotheus 3 geht das Streben nach der Aufseherschaft vom Bruder selbst aus, wobei die Voraussetzungen für die Aufseherschaft Timotheus gegeben werden, so dass er auch beurteilen musste, welche Brüder als Aufseher in Betracht kamen. Neben diesen Erwähnungen von Ältesten und Aufsehern finden wir auch in vielen Briefen Personen genannt, die Vorsteher und Führer waren, ohne dass von irgendeiner Anstellung die Rede ist. Stets geht es um die Anerkennung der moralischen Autorität, die von den älteren Brüdern ausgeht, die durch ihr Auftreten erkennen lassen, dass sie Führungsqualitäten besitzen. In Römer 12,8 werden die, die vorstehen, ermahnt, mit Fleiß zu dienen. Die Korinther werden ermahnt, sich solchen unterzuordnen, die sich selbst den Heiligen zum Dienst verordnet haben, sowie jedem, der mitwirkt und arbeitet (1Kor 16,15.16). Die Hebräer werden dazu aufgerufen, ihrer Führer zu gedenken, die das Wort Gottes zu ihnen geredet hatten. Sie sollten ihnen gehorchen und fügsam sein, weil jene über ihre Seelen wachten als solche, die Rechenschaft geben würden, damit sie es mit Freuden und nicht mit Seufzen täten, denn dies wäre ihnen nicht nützlich (Heb 13,7.17). In Apostelgeschichte 15,22 werden auch Judas und Silas Männer genannt, die Führer unter den Brüdern waren. Die Thessalonicher sollten die erkennen, die unter ihnen arbeiteten und vorstanden im Herrn und sie zurechtwiesen, und sollten sie über die Maßen in Liebe achten um ihres Werkes willen (1Thes 5,12.13). Es ist deutlich, dass diese Brüder „Älteste“ und „Aufseher“ waren, auch wenn sie nicht so bezeichnet werden. Die genannten Schriftstellen geben uns ein Bild von der Aufgabe der Ältesten: Sie mussten die Herde Gottes weiden (Apg 20,28; 1Pet 5,2), über die Seelen wachen (Heb 13,17) und der Gemeinde vorstehen, sie führen und ermahnen (Röm 12,8; 1Thes 5,12; 1Tim 5,17). Es ist wohl selbstredend, dass diese Aufgabe ziemlich wenig mit den Zusammenkommen als Versammlung zu tun hat, sondern mehr mit der persönlichen hirtendienstlichen Seelsorge, dem Besuch von Familien und der Führung in Beschlüssen verwaltender Art, die die Gemeinde betreffen.

Diese Übersicht der schriftgemäßen Angaben über die Ältesten sollte unter normalen Umständen ausreichen, um ein Bild dieses Themas zu erhalten. Angesichts der großen Verwirrung, die in der Christenheit über diesen Punkt besteht – zusammen mit den ernsten Konsequenzen, die ein Missverständnis des Neuen Testaments in diesen Dingen in der Kirchengeschichte gehabt hat –, ist es vielleicht nützlich, doch noch etwas tiefer auf einzelne Fragen einzugehen und einige verkehrte Auffassungen zu widerlegen.

  1. Wer ist befugt, Älteste anzustellen?

    Wir haben gesehen, dass im Neuen Testament Älteste nur von dem Apostel Paulus (mit Barnabas) oder von Personen, die er dazu bevollmächtigte, angestellt wurden: Titus und in bestimmter Hinsicht auch Timotheus (Apg 14,23; Tit 1,5; 1Tim 3,1-7). Für diese Anstellung ist folglich apostolische Autorität nötig. Nirgends wird gesagt, dass die Gemeinden ihre Ältesten selbst wählten oder bei der Wahl von Ältesten durch die Apostel Verfügungsrecht hatten, und in keinem einzigen Brief an eine Gemeinde wird über die Anstellung von Ältesten gesprochen. Die Gemeinden sind deshalb absolut nicht berechtigt, Älteste anzustellen. Wenn das wohl der Fall gewesen wäre, hätte Paulus nicht an Titus, sondern an die Gemeinden auf Kreta schreiben müssen und auch nicht an Timotheus, sondern an die Gemeinde in Ephesus. Wir haben gesehen, dass in verschiedenen Briefen über Brüder gesprochen wird, die in der Gemeinde führten und über die Seelen wachten, aber dabei wird nicht über eine Anstellung gesprochen, sondern ausschließlich über moralische Autorität (aufgrund von Wandel und Glaube, Heb 13,7), die durch die anderen erkannt werden sollte. Sie sollten ihre Führer nicht wählen, sondern die erkennen, die der Heilige Geist über sie setzte (Apg 20,28). Es ist in der Schrift undenkbar, dass eine Gruppe Menschen von Gottes Seite her die Befugnis haben würde, selbst die Personen zu wählen, die sie führen sollten. Jede Form von Demokratie ist gegen die Schrift. Allein die Apostel bzw. diejenigen, die von ihnen dazu einen strikten Auftrag empfingen, waren berechtigt, das Amt zu verleihen. Wir haben zwar gesehen, dass in einigen anderen Fällen die Gemeinde bei der Wahl bestimmter Diener wohl Einfluss hatte (Apg 6,5; 2Kor 8,19), allerdings geht es dort nie darum, zu führen und vorzustehen, sondern es geht um die materiellen Bedürfnisse in der Gemeinde. Und selbst in diesen Fällen war die apostolische Zustimmung nötig (Apg 6,3.6). Wenn es dagegen um das Vorstehen geht, ist jede Demokratie ausgeschlossen.

    Wenn sich die Gemeinde doch die Berechtigung zuspricht, Älteste anzustellen, dann beansprucht sie etwas, was nur den Aposteln vorbehalten war. Man tut dann genau dasselbe wie der Papst, der für sich das beansprucht, was ausschließlich Petrus anvertraut war. Wenn ein Bürgermeister seinen politischen Kommissaren den Auftrag gibt, Agenten anzustellen, haben die Bürger dadurch plötzlich auch das Recht bekommen, Agenten anzustellen, einfach nur deshalb, weil der Bürgermeister seinen Kommissaren geschrieben hat? Die Gemeinde besitzt keine Berechtigung, anzustellen. Man sagt vielleicht, dass es ihr auch nicht verboten sei. Aber das zeigt die Gesinnung des Herzens. Stellt euch vor, die Gemeinde könnte alles tun, was ihr nicht verboten wäre. Welche Handhabe gibt es dann gegen die Einführung allen römischen Bilderdienstes, des Messopfers, des Papsttums, des Ablasses, der Hierarchie, des Altars etc.? Nein, der Gläubige fragt nicht, wie weit er gehen kann, ohne Gottes Verbote zu übertreten, sondern er fragt nach dem, was Gott ihm geboten hat. Und wenn ein anderer meint, dass es doch wohl von Bedeutung ist, dass die Gemeinden in den ersten Jahrhunderten wohl ihre Ältesten anstellten, dann frage ich, warum wir dann die römische Kirche überhaupt verlassen haben?  Denn das ist die Fortsetzung der ältesten christlichen Kirche. Es wäre schön gewesen, wenn die Reformatoren auch diesen römischen Sauerteig, den Klerikalismus (das am wenigstens schwerwiegend aussieht und das Fleisch am meisten anspricht), über Bord geworfen hätten. Der Grundsatz muss deutlich sein: Wenn es um die Leitung geht, ist alles von oben und nicht aus dem Menschen. Christus ist Sohn über sein Haus (Heb 3,6) und der Heilige Geist wohnt in diesem Haus (1Kor 3,16; Eph 2,22). Christus stellt die zwölf Apostel an; Er berief den Apostel Paulus; dieser bevollmächtigte Titus und Timotheus, und nur diese Personen stellten Älteste an. 

  2. Sind heute also keine Ältesten mehr nötig?

    Das hängt davon ab, wie man es meint. Sicherlich hat die Gemeinde auch heute Männer nötig, die durch ihre Lebenserfahrung und geistliche Gesinnung imstande sind, die örtlichen Gemeinden zu weiden. Aber sie tun das aufgrund ihrer moralischen Autorität, und es gibt keine Gründe, warum sie offiziell als Aufseher angestellt werden müssten – abgesehen von der Frage, wie das dann ablaufen müsste. Auch zur Zeit des Neuen Testaments gab es in den Gemeinden solche Männer, ohne dass von einer Anstellung irgendeine Rede wäre. Tatsächlich wird nur zweimal von Anstellung gesprochen (Apg 14,23; Tit 1,5). In den meisten Fällen bestand keine formelle, sondern allein eine moralische Autorität. Meistens reichte das aus. In einzelnen Fällen war jedoch eine offizielle Anstellung offensichtlich sinnvoll, weil es den Ältesten im Hinblick auf eindringendes Böse zusätzliche Autorität verlieh. Gerade unser Kapitel zeigt das recht deutlich (Tit 1,9-16).

    In unserer Zeit ist diese zusätzliche Autorität nicht mehr nötig, weil wir jetzt ein Autoritätsorgan haben, das dafür Vorsorge trifft, nämlich das vollendete Neue Testament. In der Anfangszeit gab es die schriftlich niedergelegten Worte der Apostel zur Unterweisung und Überführung noch nicht (2Tim 3,16), so dass die Apostel damals ihre Autorität noch zur Geltung bringen konnten, indem sie selbst Älteste anstellten. Nach dem Abscheiden der Apostel wurden die Gemeinden dem Wort Gottes übergeben, wie Paulus deutlich an die Philipper schreibt (Phil 2,12.13) und den Ältesten von Ephesus sagt (Apg 20,26-32). Auch Petrus und Johannes geben bei ihrem Abschied keine Anordnungen in Bezug auf ihre Nachfolge, sondern weisen nur auf das Wort Gottes hin (2Pet 1,12.15; 3,1.2; 1Joh 2,21.24.27). Ebenso wie wir heute keine Apostel mehr haben, haben wir auch keine offizielle Anstellung von Ältesten mehr nötig. Es gibt keinen einzigen Bruder mehr, der sich anmaßen könnte, Apostel zu sein, denn die Apostel mussten den Herrn gesehen haben (1Kor 9,1); ihr Dienst ging mit Zeichen, Wundern und mächtigen Taten einher (2Kor 12,12), und mit den neutestamentlichen Propheten (wie Markus und Lukas) legten sie das Fundament (Eph 2,20), wobei deutlich ist, dass das Fundament nur einmal, zu Beginn, gelegt zu werden brauchte. Deshalb gibt es keine Apostel und auch keine offiziellen Aufseher mehr, wobei wir den Dienst der Apostel in den Worten des Neuen Testaments noch immer bei uns haben, ebenso wie wir glücklicherweise noch immer Brüder haben, die den Dienst von Ältesten ausüben.

    Dazu kommt noch, dass die Anfangszeit der Gemeinde zugleich eine Übergangszeit vom Äußerlichen (Judaistischen) zum Innerlichen (Christlichen) war und damit auch vom Formellen, Amtlichen zum Moralischen, Sittlichen. Aber es gibt noch etwas! Selbst wenn es heute noch Apostel gäbe, die die Vollmacht hätten, Älteste anzustellen, wo würden sie es heute tun? Die Ältesten der Stadt X haben Autorität über die ganze Gemeinde der Stadt X, aber wo ist die Gemeinde aufzufinden? Sie ist über viele „Kirchen“ und Sekten verteilt. Die Ältesten von Ephesus waren zu Aufsehern über die ganze Herde von Ephesus gesetzt (Apg 20,28), aber später gab es durch die Entzweiung keinen einzigen Ort mehr, wo die ganze Gemeinde gemeinsam zusammenkam. Wenn man jetzt also Älteste anstellen würde, würde man sie höchstens über eine Sekte setzen können – und gemäß der Grundbedeutung dieses Wortes (vgl. den Kommentar zu Tit 3,10.11) ist jede „Kirche“ außerhalb der römischen Kirche eine Sekte, die jedoch genauso wenig „Bischöfe“ anstellen kann (abgesehen davon, dass sie keine Berechtigung dazu hat), weil sie nicht die vollzählige christliche Kirche ist. 

  3. Welche Gaben haben die Ältesten nötig?

    Das ist eine wichtige Frage, weil sie uns zum Unterschied führt zwischen den biblischen Ämtern und dem, was im Neuen Testament „Gaben“ genannt wird. Wir haben gesehen, dass Epheser 4 sagt, dass Christus der Gemeinde Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer „gegeben“ hat. Diese Personen sind der Gemeinde als „Gaben“ zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes des Christus gegeben worden (Eph 4,8.11.12). In 1. Korinther 12 lesen wir, dass Gott sie in der Gemeinde „gesetzt“ hat (nicht angestellt). Aber diese Gaben, die Christus gibt, außerhalb des Menschen, haben nichts mit den Ämtern zu tun, die nicht zur Auferbauung des Leibes Christi dienen, sondern zur Verwaltung des Hauses Gottes. Die große Verwirrung ist in der Christenheit genau dadurch entstanden, weil man diesen Unterschied zwischen Gaben und Ämtern nicht mehr gesehen hat. Es ist direkt gegen die Schrift, von Ämtern eines Propheten oder Lehrers zu sprechen oder von der Gabe des Aufsehers. Man spricht doch auch nicht von dem Amt des Kunstmalers oder der Gabe des Bezirksrichters?Natürlich mussten die Ältesten eine Anzahl von wichtigen Qualitätsmerkmalen besitzen, die aber nichts mit „Gaben“ im schriftgemäßen Sinn zu tun haben, sondern äußerlich und sittlich sind (vgl. 1Tim 3,1-7; Tit 1,5-9): Sie beziehen sich auf die Familie, Lebensführung und Erfahrung des Betreffenden. Für das Amt war jedoch keine Gabe nötig, obwohl es natürlich möglich war, dass ein Aufseher gleichzeitig die Gabe eines Lehrers hatte, was aber unabhängig voneinander war. Das geht deutlich aus 1. Timotheus 5,17 hervor: „Die Ältesten, die wohl vorstehen, lass doppelter Ehre für würdig erachtet werden, besonders die, die in Wort und Lehre arbeiten.“ Es gab demnach Älteste, die wohl vorstanden, aber nicht in Wort und Lehre arbeiteten, einfach deshalb, weil sie dafür keine Gabe besaßen. Diese Gabe hatte also mit ihrem Amt nichts zu tun. Das ergibt sich auch dadurch, dass es viele andere geben konnte, die lehrten, während sie ganz und gar keine Aufseher waren. 1. Timotheus 2,11 schließt nur die Frauen vom Lehren aus, so dass alle Männer, ob Aufseher oder nicht, lehren konnten (insofern sie dafür natürlich eine Gabe hatten). Bei Paulus und Apollos sehen wir das beispielsweise auch: Sie lehrten in den Gemeinden, waren aber an keinem einzigen Ort Aufseher (abgesehen von der apostolischen Autorität, die Paulus über alle Gemeinden hatte).

    Wir lesen zwar in 1. Timotheus 3,2 und Titus 1,9, dass die Aufseher lehrfähig und in der Lage sein sollten, zu ermahnen. Aber hier geht es nicht um die Gabe des Lehrers, der dazu fähig ist, in den Zusammenkünften der Gemeinde das Wort Gottes auszulegen; denn was hat die Auslegung des Wortes mit dem Vorstehen der Gemeinde zu tun? Wenig. Die Ältesten mussten die Fähigkeit haben, um zum Zweck ihres Vorsteherdienstes zu lehren, das heißt, dass sie selbst das Wort Gottes angenommen und befolgt hatten und jetzt durch ihre Lebenserfahrung imstande sein sollten, auch anderen dieses Wort als Lebensregel vorzustellen. Sie erhielten nicht den Auftrag, zu lehren (so wie ein Lehrer ihn von Christus empfängt, um in der Gemeinde zu lehren), sondern wenn sie mit dem Wort ermahnen konnten, war das eine förderliche Eigenschaft für ihre Aufgabe als Vorsteher. Diesen Unterschied sehen wir auch bei Stephanus und Philippus. Die Gemeinde und die Apostel stellten sie als Diakone ein – also in ein Amt –, aber Christus hatte eine höhere Aufgabe für sie, die völlig außerhalb des Amtes und noch viel mehr außerhalb jeder menschlichen Einwirkung (selbst von Aposteln) lag: nämlich zu predigen. Philippus wird ein Evangelist genannt (Apg 21,8) – und das ist eine Gabe.

Wir sehen also, dass es wichtige, fundamentale Unterschiede zwischen Gaben und Ämtern gibt, die wir wie folgt zusammenfassen können:

  1. Die Gaben dienen der Auferbauung des Leibes Christi und haben damit eine organische Funktion (Röm 12,5-8; 1Kor 12,4-31; Eph 4,7-16). Die Ämter dienen der Verwaltung des Hauses Gottes und haben daher eine organisatorische Funktion (1Tim 3,1-15).
  2. Jemand hat eine Gabe einzig und allein aufgrund der Tatsache, dass Christus sie ihm gegeben hat, das heißt ohne menschliche Einwirkung. (Wer machte Markus und Lukas zu Propheten? Wer machte die Zwölfe und Paulus zu Aposteln? Wer machte Philippus zum Evangelisten?) Dagegen hat jemand ein Amt durch die Anstellung oder Sanktionierung der Apostel oder ihrer Bevollmächtigten.
  3. Die Gaben sind universell, das heißt, sie sind der ganzen Gemeinde gegeben und nicht einer örtlichen Gemeinde. Paulus war Lehrer der Nationen (2Tim 1,11) und lehrte in allen Gemeinden. Lehrer und Hirten können ihre Gabe in jeder Gemeinde ausüben, je nachdem wie der Herr es führt. Dagegen ist das Amt nur für die örtliche Gemeinde. Man ist nur Ältester oder Diakon von Ephesus, Philippi oder welcher Gemeinde auch immer,  aber niemals darüber hinaus. Wir lesen jedoch nie, dass jemand Lehrer einer bestimmten Gemeinde war.
  4. Die Gaben würde es so lange geben, wie die Gemeinde auf der Erde ist. Denn sie bestehen, bis die Gemeinde zu dem Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus gekommen ist (Eph 4,13), und dieser Zustand wird auf der Erde nie erreicht. Bis zum Ende haben wir den Dienst (nicht mehr die Personen!) der Apostel und neutestamentlichen Propheten in den Schriften des Neuen Testaments, und bis zum Ende wird es Evangelisten, Hirten und Lehrer zur Auferbauung des Leibes geben. Dagegen bestand das offizielle Amt nur in der Anfangszeit, als es noch Apostel gab, die anstellten, und als das Wort Gottes noch nicht vollständig offenbart war. Doch hat Gott bis heute für Brüder gesorgt, die die Aufgaben von Aufsehern und Diakonen ausüben können.
  5. Wenn über den Verfall der Gemeinde im Neuen Testament gesprochen wird, dann steht das nicht in Verbindung mit der Gemeinde als dem Leib Christi, sondern mit dem Haus Gottes (1Pet 4,17; vgl. 1Tim 3,15 und 2Tim 2,20.21). Der Leib spricht von der organischen Einheit der Gläubigen in Christus, wogegen das Haus von dem äußerlichen christlichen Zeugnis auf der Erde spricht. Im Letzteren ist Verfall möglich. Darin kann es sowohl Gefäße zur Ehre als auch zur Unehre geben. Die Gaben stehen mit der Gemeinde als dem Leib Christi in Verbindung, die Ämter dagegen mit dem Haus Gottes und haben deshalb auch Bezug zum Verfall der Gemeinde. In der Anfangszeit trug die Anstellung ins Amt dazu bei, dem Bösen in der Gemeinde entgegenzutreten, als der Verfall Einlass fand: Die ersten Diakone wurden anlässlich des Murrens der griechischsprechenden Juden in der Gemeinde angestellt, und die Aufseher auf Kreta wurden vor allem angestellt, um die vielen Widersprechenden zu überführen. Später entstand die umgekehrte Situation: Hier gab Gott das Amt nicht länger (nach dem Abscheiden der Apostel und der Ältesten gab es keine von Gott sanktionierten Ältesten mehr), und zwar ebenfalls aus dem Grund, dem Bösen entgegenzutreten, allerdings jetzt dem klerikalen Bösen: Gott wollte nicht zulassen, dass der Mensch sich auf das Amt etwas einbildete und sich über seine Brüder erhob und seine Autorität über das inzwischen vollendete Neue Testament stellte.

Aber es nützte nichts. Als Gott keine Ältesten mehr gab, begannen die Gemeinden, selbst ihre Ältesten anzustellen, obwohl die Schrift ihnen dafür keinerlei Berechtigung gab. Das war der erste Fehler. Der zweite Fehler entstand, als man den Unterschied zwischen Gaben und Ämtern aus den Augen verlor und die Aufseher nach und nach mit den Hirten und Lehrern gleichsetzte. Dann kam der dritte Fehler: Die Anzahl der Aufseher in einer Gemeinde ging allmählich auf einen Aufseher zurück (oder man erhob einen Aufseher als Primus inter Pares [„Erster unter Gleichen“]), der gleichzeitig der eine Lehrer war; anschließend war die Verwirrung perfekt. Laut Eusebius (Kirchengeschichte, Teil 3) war Ignatius bereits im Jahr 70 Bischof von Antiochien, nach Petrus und Euodius. Von einem Heiligen Geist, der benutzt, wen Er will, gab es nur noch eine geringe Vorstellung. Von einem Christus, der allein die Gaben ohne menschliche Einwirkung gab und der ausschließlich durch seine Apostel das Amt verlieh, wusste man nichts mehr. Zudem: Wo spricht die Schrift von einem Aufseher in einer Gemeinde? An keiner Stelle! Immer wird in der Mehrzahl gesprochen, sei es in Jerusalem, Ephesus, Philippi, den Städten Kleinasiens oder den Städten Kretas. Die Entstehung der Geistlichkeit und des Laientums in der Gemeinde ist das Werk des Menschen, des Fleisches. Es ist durch den Judaismus inspiriert und sozusagen über den christlichen Leisten geschlagen worden. Aber Gott hat kein Teil daran. Wie kommt es nur, dass so wenige Christen das einsehen? Nicht deshalb, weil so wenige noch bereit sind, sich dem Wort Gottes völlig zu unterwerfen und sich alleine durch dieses Wort leiten zu lassen?

Zum Abschluss noch eine kurze Bemerkung über den Unterschied zwischen der Gabe des Hirten und dem Ältestenamt. Beide liegen dicht bei einander (die Ältesten sollten die Herde Gottes weiden, Apg 20,28; 1Pet 5,2), und doch wäre es undifferenziert, sie synonym zu verwenden bzw. zu sagen, dass der Älteste die Gabe des Hirten haben müsste. Selbst diejenigen, die den Unterschied zwischen Gaben und Ämtern wohl kennen, verwechseln oft Hirten und Älteste. Der Unterschied liegt in dem Unterschied zwischen Gaben und Ämtern selbst. Die Ältesten sollten die Herde weiden, die bei ihnen war (1Pet 5,2), was ganz klar örtlich ist. Dagegen sind die Hirten der ganzen Gemeinde gegeben (Eph 4,11), und ihr Hirtendienst erstreckt sich hin zu allen Gläubigen, das heißt zu allen, zu denen der Herr ihren Dienst lenkt. Diese umfassende Fürsorge kommt vor allem in hirtendienstlichen Schriften zum Ausdruck, die wir von ihnen besitzen. Die Ältesten tragen als Älteste allein örtliche Verantwortung. Petrus war ein Hirte, der die Schafe und Lämmer (im Allgemeinen) weiden sollte (Joh 21,15-17). Es scheint mir, dass die Aufgabe des Hirten mehr seelsorgerlich und die des Aufsehers mehr leitend war. Aber es liegt nahe beieinander, denn Christus ist sowohl Hirte als auch Aufseher der Seelen (1Pet 2,25), und wenn Petrus, der Hirte war, sich an die Ältesten richtet, nennt er sich selbst den Mitältesten und Christus den Erzhirten (1Pet 5,1-4).

Wenn jemand unsträflich ist

Wir kommen jetzt zu den Eigenschaften, denen die potentiellen Aufseher entsprechen sollten. Wir werden die verschiedenen Fähigkeiten kurz unter die Lupe nehmen. Titus 1,6 beschreibt, wie die Familie des Ältesten sein sollte; Titus 1,7 nennt die Eigenschaften, die der Älteste nicht aufweisen sollte; und Titus 1,8 und 9 nennen sieben positive Qualitäten. Die erste Voraussetzung war, dass der Älteste unsträflich sein sollte, das heißt jemand, der „nicht zu strafen ist“, dem nichts angehängt werden kann. Wörtlich bedeutet das Wort „nicht-hereingerufen“. Es ist von einem Tätigkeitswort abgeleitet, das buchstäblich „hereinrufen“ bedeutet und den Sinn von „jemand vor Gericht bringen“ hat. Das Wort wird übersetzt mit „beschuldigen“, „anklagen“, „Anklage erheben gegen“, „verklagen“ (Apg 19,38; 23,28.29; 26,2.7; Röm 8,33). Das Wort „unsträflich“ wird in 1. Timotheus 3,8 für die Diakone und in 1. Korinther 1,8 sowie Kolosser 1,22 für Gläubige allgemein benutzt. Es ist schade, das Wort mit „untadelig“ zu übersetzen, weil dadurch die Bedeutung abgeschwächt wird und es hierfür außerdem andere griechische Wörter im Neuen Testament gibt.

Mann einer [einzigen] Frau

Durfte der Person des Ältesten nichts vorzuwerfen sein, so musste auch seine Familie die Prüfung bestehen. Denn zu Recht schreibt Paulus an Timotheus, dass, wenn jemand dem eigenen Haus nicht vorzustehen weiß, er auch für die Gemeinde Gottes keine Sorge würde tragen können (1Tim 3,5). Der Aufseher ist nicht nur für sein eigenes Verhalten verantwortlich, sondern auch für das seiner Kinder. Für jeden Gläubigen ist das Zeugnis nach außen von großer Bedeutung, was allerdings in besonderer Weise für die gilt, die vorstehen. Der Älteste musste der Mann einer Frau sein. Ich glaube nicht, dass es bedeutet, dass er, wenn er Witwer war, nicht wieder heiraten durfte, sondern dass zum Ausdruck gebracht werden soll, dass er nicht gleichzeitig mehrere Frauen haben durfte. Wir lesen zwar beispielsweise von den Witwen, dass sie nur dann unterstützt werden sollen, wenn sie die Frau eines Mannes war (1Tim 5,9), aber es scheint mir, dass unser Vers mehr auf die Vielehe abzielt, die unter den Heiden Usus war und zur Folge hatte, dass sich oft Heiden bekehrten, die bereits mehrere Frauen geheiratet hatten. Solche Männer konnten für eine Anstellung als Aufseher nicht in Betracht kommen, weil ihre Familie eine lebendige Erinnerung ihrer heidnischen Herkunft war und sie zudem ihren Brüdern schwerlich vorhalten konnten, nicht mehr Frauen zu nehmen, da sie bereits selbst mehr als eine Frau hatten. Vielleicht bringt jemand in einer Auseinandersetzung vor, dass die Schrift doch an keiner Stelle verbietet, dass ein Mann mehrere Frauen hat und dass doch viele Gottesmänner mehr als eine Frau hatten. Aber solchen Widersprechenden entgeht, wie viel Elend solche Vielehen stets mit sich brachten, abgesehen von der deutlichen Art und Weise, in der Gott die Ehe eingesetzt hat. So wie der Herr Jesus selbst gesagt hat: „Habt ihr nicht gelesen, dass der, der sie schuf, sie von Anfang an als Mann und Frau machte und sprach: Deswegen wird ein Mann den Vater und die Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und die zwei werden ein Fleisch sein?“ (Mt 19,4.5). Dort geht es zwar um die Entlassung einer Frau, aber genau das gleiche Argument – der eine Mann mit der einen Frau – gilt für den umgekehrten Fall: noch eine Frau zu nehmen. Es ist eine interessante Frage, ob unser Vers auch bedeutet, dass der Älteste unbedingt verheiratet sein musste – was dann nicht so gut für die „Aufseher“ (Bischöfe) und „Presbyter“ (Priester) der römischen Kirche sein würde, die einem verbindlichen Zölibat unterliegen. In jedem Fall ist es nützlich, wenn ein Ältester verheiratet ist und Kinder hat, damit er besser in der Lage ist, Gläubige in ihrem Ehe- und Familienleben zu ermahnen und ihnen zu helfen. Aber ob es auch eine Voraussetzung darstellt, ist nicht deutlich.

Der gläubige Kinder hat

Wie dem auch sei, wenn die Ältesten Kinder hatten, sollten sie gläubig sein und durften außerdem nicht der Ausschweifung oder Zügellosigkeit beschuldigt werden. Das scheint vielleicht eine überflüssige Hinzufügung zu sein, wenn die Kinder doch bereits gläubig waren, aber wir müssen immer bedenken, dass sich diese Familien gerade erst aus dem Heidentum bekehrt hatten und noch nicht so auf Kurs gebracht waren, wie es unsere christlichen Familien heute im Allgemeinen sind. Zuerst mussten es „gläubige Kinder“ sein. Das durfte sicher gefordert werden und wurde auch durchaus der Verantwortung der Ältesten zugeschrieben. Er konnte nicht sagen – was leider viele geistliche Leiter gesagt haben, deren Kinder den verkehrten Weg gingen –, dass es nicht seine Schuld sei, da er alles aufgewendet habe, was in seiner Macht stand. Nein, die Kinder waren durch die Eltern geheiligt, das heißt in den christlichen Bereich gebracht (1Kor 7,14), und sie waren so in der christlichen Sphäre auferzogen worden, in der Zucht und Ermahnung des Herrn (Eph 6,4). Aber nicht nur das: Durch die ganze Schrift hindurch sehen wir deutlich den Grundsatz, dass es nach Gottes Gedanken ist, dass die Kinder der Gläubigen errettet werden. Natürlich werden sie nicht ausschließlich durch den Glauben ihrer Eltern errettet, sondern nur durch persönliche Bekehrung und Glauben. Aber es ist nach Gottes Gedanken der „normale“ Weg für einen Gläubigen, dass er mit seinem ganzen Haus errettet wird. Wir sehen das schon in den Bildern des Alten Testaments. Die Kinder Noahs wurden in der Arche gerettet, obwohl nur von ihrem Vater steht, dass er gerecht war (1Moe 6,9; 7,1). Abraham wurde mit seinem ganzen Haus beschnitten (1Mo 17,23) und befahl seinem ganzen Haus, den Weg des Herrn zu bewahren (1Mo 18,19). Die Israeliten wurden durch das Meer hindurch gerettet mit ihren Familien (2Mo 12,3). Durch den Glauben Rahabs wurde sie mit ihrem ganzen Haus errettet (Jos 2,18). Josua diente dem Herrn mit seinem Haus (Jos 24,15). Der Fall des Gefängniswärters von Philippi lässt diesen Grundsatz deutlich sehen, denn Paulus sagt zu ihm: „Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst errettet werden, du und dein Haus“ (Apg 16,31). Es war also keine unberechtigte Forderung, dass die Ältesten gläubige Kinder haben sollten. Das Vorbild Elis und seiner Söhne lässt sehen, wie ernst es Gott nimmt, wenn die Kinder der Gläubigen ungläubig und ausschweifend sind (1Sam 3,13).

[Die] nicht eines ausschweifenden Lebens beschuldigt werden

Es verhielt sich genauso wie mit dem Ältesten selbst: Er musste nicht allein ein Bruder, sondern auch ein untadeliger Bruder sein. So mussten seine Kinder nicht nur gläubig, sondern auch untadelig sein. Ihnen durfte keine Ausschweifung vorgeworfen werden. Das heißt nicht nur, dass die Gemeinde sie nicht der Ausschweifung beschuldigte, sondern dass es auch keine berechtigte Beschuldigung gegen sie geben durfte – es geht folglich um viel ernstere Exzesse, die leider noch in Familien vorkommen konnten, die gerade erst aus dem Heidentum gekommen waren. Das Wort für „Beschuldigung“ (katègoria) kommt von dem Wort agora, das ist ein öffentlicher Ort der Rechtsprechung oder ein Markt (vgl. Apg 16,19). Die vorhergehende Präposition kata bedeutet hier „gegen“, und das Wort katègoria (wovon „Kategorie“ abgeleitet ist, das in unserer Sprache etwas ganz anderes bedeutet) steht deshalb für: „das, was gegen jemand vor einem öffentlichen Gericht eingereicht wird“. Das geht auch deutlich aus Johannes 18,29 und 1. Timotheus 5,19 hervor. Bei den Kindern der Ältesten durfte es also keine öffentliche Ausschweifung geben, die selbst der Welt auffallen würde. Das Wort für „Ausschweifung“ bedeutet eigentlich „Heillosigkeit“. Es deutet auf einen „heillosen“ Lebensweg hin, der keine Mäßigung und Selbstbeherrschung kennt, sondern im Verderben endet. Von so einem unenthaltsamen Weg, auf dem das Heil missachtet wird und man sich fleischlichem Genuss hingibt, sprechen auch Epheser 5,18 und 1. Petrus 4,3.4.

Oder zügellos

Die Kinder durften auch nicht zügellos sein oder, wie hier wörtlich steht, „nicht unterworfen“, „nicht unterwürfig“, nämlich gegenüber Autoritäten. Auch hier geht es nicht allein um den Aufstand gegen die Autorität der Eltern, sondern auch um die Autorität gegen die gesetzliche Rechtsordnung. Das sehen wir beispielsweise in 1. Timotheus 1,9, wo wir lesen, dass das Gesetz für Gesetzlose und Zügellose (die Übersetzung „Ausschweifende“ ist hier nicht richtig) bestimmt ist etc. Es ist dasselbe Wort wie „nicht unterworfen“ in Hebräer 2,8. Das Wort ist von dem häufig vorkommenden Tätigkeitswort „untertan sein“ abgeleitet. In unserem Kapitel kommt es noch einmal in Titus 1,10 vor. Wir sehen, dass die Ältesten, genau wie die Diakone, ihren Häusern wohl vorstehen mussten und ihre Kinder in aller Würdigkeit in Unterordnung halten sollten (1Tim 3,4.12) – wobei das Wort „Unterordnung“ (eigentlich „Unterwürfigkeit“) wieder mit dem Wort „zügellos“ in unserem Vers verwandt ist.

Tit 1,7-9: Denn der Aufseher muss unsträflich sein als Gottes* Verwalter, nicht eigensinnig, nicht aufbrausend, nicht dem Wein ergeben, nicht streitlustig, nicht auf schändlichen Gewinn aus, sondern gastfrei, das Gute liebend, besonnen, gerecht, heilig, enthaltsam, festhaltend das zuverlässige Wort [das] nach der Lehre [ist], damit er imstande ist, sowohl mit der gesunden Lehre zu ermahnen als auch die Widersprechenden zu widerlegen.

Denn der Aufseher muss unsträflich sein

Der Apostel beginnt jetzt, über die persönlichen Qualitäten des Aufsehers zu sprechen. Er zählt davon vierzehn auf, zuerst sieben größtenteils negative, gefolgt von sieben positiven. In Titus 1,5 hat Paulus über Älteste gesprochen, nun redet er über Aufseher. Wir haben bereits gesehen (auch im Vergleich mit Apg 20,17.28), dass Älteste und Aufseher zwei Bezeichnungen desselben Amtes sind: Aufseher gibt dabei die Art und Weise des Amtes wieder, und Älteste sagt etwas über die Eigenschaft des Amtsträgers aus. Einige Theologen haben zwar behauptet, dass Vers 5 bedeuten würde, dass Titus in jeder Stadt einen Ältesten anstellen sollte und dass darum in Titus 1,7 über „den Aufseher“ in der Einzahl gesprochen wird. Aber die meisten anderen haben eingesehen, dass das natürlich unzutreffend ist. Nirgendwo redet die Schrift über einen Ältesten in einer örtlichen Gemeinde, es geht immer um mehrere. Und die Einzahl in unserem Vers will natürlich nicht sagen, dass es nur einen Aufseher gab, sondern individualisiert alle: Paulus stellt uns den idealen Aufseher mit all seinen Qualitäten vor.

All das ist bereits sehr rasch in der Christenheit verlorengegangen. Aus den Briefen der sogenannten apostolischen Väter (namentlich Ignatius und Polycarpus, 1. und 2. Jahrhundert) schließen wir, dass es in jeder Gemeinde einen Bischof zusammen mit einem Kollegium von Ältesten und Diakonen gab. Die Letzteren mussten dem Bischof und den Ältesten untergeordnet sein, während der Bischof als Vorsitzender der Bedeutendste der Ältesten und bei weitem der wichtigste Mann in der ganzen Gemeinde war. Der Bischof war unentbehrlich, denn er bediente das Abendmahl, taufte, gab die Zustimmung zu Eheschließungen, führte Liebesmahle an und leitete die Zusammenkünfte der Gemeinde. Er war der Repräsentant Christi und Gottes in der Gemeinde und forderte darum absoluten Gehorsam und Ehrerbietung ein. Der Rat der Ältesten vergegenwärtigte analog dazu die „Versammlung der Apostel“. Die Folge dieser historischen Entwicklung ist schließlich die Hierarchie der römischen Kirche gewesen und als ein Durchschlag davon die Ämter in den protestantischen Kirchen. Sie gibt uns eine Vorstellung davon, wie der Mensch schrittweise den Platz der direkten Autorität Christi und der Leitung des Heiligen Geistes in der Gemeinde eingenommen hat.

Unsträflich … als Gottes* Verwalter

Die persönlichen Eigenschaften des idealen Aufsehers, die in unseren Versen aufgezählt werden, sind nicht ganz deckungsgleich mit denen aus 1. Timotheus 3. Die Qualitäten, die für die Ältesten notwendig sind, hängen nämlich auch von den Umständen ab. Darum finden wir hier in Vers Titus 1,9 und 10 beispielsweise die Haltung gegenüber Quertreibern in der Gemeinde, was in Kreta damals aktueller war als in Ephesus. Zuerst wird wiederholt, dass der Aufseher unsträflich sein musste. Man durfte ihm nichts anhängen können, damit man ihm in Bezug auf die Dinge, in denen er andere ermahnen sollte, nichts vorhalten konnte. In 1. Timotheus 3,7 wird noch hinzugefügt, dass der Aufseher selbst von denen, die draußen waren, ein gutes Zeugnis haben musste, damit er nicht ins Gerede kommen würde. Als solche sollten sie sich als Gottes Verwalter verhalten, als Verwalter der Güter Gottes.

In diesem Zusammenhang ist das Wort „Verwalter“ sehr lehrreich. Im Griechischen heißt es oikònomos, wovon unser Wort „Ökonom“ abgeleitet ist, das wörtlich „Hausverwalter“ bedeutet. In dieser wörtlichen Bedeutung kommt das Wort vor in Lukas 12,42; 16,1.2.8; 1. Korinther 4,2 und Galater 4,2. Man konnte auch Verwalter[3] einer ganzen Stadt sein wie Erastus in Römer 16,23. Im übertragenen Sinn kommt das Wort dreimal im Neuen Testament vor, und zwar auf sehr besondere Weise: nämlich stets in Verbindung mit dem geistlichen Haus Gottes, der Gemeinde. Es geht dann um „Hausverwalter“ des Hauses Gottes. In der Einleitung ist bereits darauf hingewiesen worden, dass sich unser Brief mit der Ordnung im Haus Gottes beschäftigt, mit dem Verhalten verschiedener Gruppen Gläubiger in diesem Haus und vor allem auch mit der Anstellung von Ältesten, was immer mit dem Haus Gottes in Verbindung steht (vgl. 1Tim 3,1-15). Doch kommt das Wort „Haus“ in unserem Brief im übertragenen Sinn nicht vor (wohl buchstäblich in Tit 1,11), außer in dem Wort oikònomos. Auch in den beiden anderen Fällen, wo das Wort vorkommt, steht im Zusammenhang mit dem Haus Gottes. In 1. Korinther 4,1 sagt Paulus, dass man die Apostel für Diener Christi und als Verwalter der Geheimnisse Gottes halten sollte. Der erste Teil des ersten Korintherbriefes (bis 1Kor 10,14) redet über die Ordnung und die Grundsätze im Haus Gottes, dem verantwortlichen christlichen Zeugnis auf der Erde. Dieses Zeugnis besteht aus „allen, die an jedem Ort den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen“ (1Kor 1,2). In Kapitel 3 spricht Paulus näher über dieses Haus als Bau Gottes (1Kor 3,9) und Tempel Gottes, in dem der Geist Gottes wohnt (1Kor 3,16.17), und zwar als ein Bau, der unter menschlicher Verantwortung aufgebaut wird (1Kor 3,10-15). Das geht bis Kapitel 10, wo der Apostel das verantwortliche Zeugnis mit dem Haus Israel vergleicht (1Kor 10,1-13). In diesem Haus Gottes ist Paulus ein „Hausverwalter“ bzw. Hüter der Geheimnisse Gottes.

Die dritte Stelle (nach 1Kor 4,1 und Tit 1,7) haben wir in 1. Petrus 4,10, wo der Apostel die Gläubigen ermahnt, einander mit ihren Gnadengaben als gute Verwalter der mannigfaltigen Gnade Gottes zu dienen. Wie im ganzen Brief steht es auch hier in Verbindung mit dem Haus Gottes. In 1. Petrus 2,5 werden die Gläubigen mit lebendigen Steinen verglichen, die zu einem geistlichen Haus, einer heiligen Priesterschaft, zusammengefügt werden. Und in 1. Petrus 4,17 sagt Paulus, dass die Zeit gekommen ist, dass das Gericht anfange bei dem Haus Gottes. Nun, in diesem Haus Gottes sind alle Gläubigen „Hausverwalter“ von Gottes mannigfaltiger Gnade. Immer wenn das Wort „Verwalter“ im übertragenen Sinn verwendet wird, steht es also in Verbindung mit dem Haus Gottes. Aber das ist noch nicht alles. Wir haben gesehen, dass in gleicher Weise die Ämter mit dem Haus Gottes in Verbindung stehen, und das wird hier bestätigt, denn die drei Stellen, die über Verwalter sprechen, geben auch die drei Gruppen Gläubiger wieder, die in Bezug auf die Ordnung im Haus Gottes in der Gemeinde bestanden: zuerst die Apostel als Verwalter der Geheimnisse Gottes, zweitens die Ältesten oder Aufseher als Verwalter Gottes und drittens die übrigen Gläubigen als Verwalter der mannigfaltigen Gnade Gottes.

Die Apostel sind die Verwalter der Geheimnisse, die Gott ihnen offenbart hat und die sie verkündigt haben (1Kor 2,7-13; Eph 3,1-7 und Kol 1,25-27: „Verwalterschaft“). Außerdem haben sie mit den neutestamentlichen Propheten das Fundament des Hauses Gottes gelegt (Eph 2,19-22). In diesem Haus sind die Ältesten diejenigen, die in den örtlichen Gemeinden als „Hausverwalter Gottes“ Führung und Leitung geben. Und schließlich werden alle Gläubigen Verwalter genannt, weil jeder von ihnen eine Gnadengabe empfangen hat, mit der er dem anderen dienen soll, sei es in der Rede oder im Dienst (1Pet 4,11).

Die Aufseher waren Verwalter von Gott, nicht von Paulus oder von Titus. Wir könnten denken, dass sie auf eine umständliche Art und Weise angestellt waren: Die Aufseher waren durch Titus angestellt, dieser wiederum hatte seinen Auftrag dazu von Paulus erhalten, und dieser war seinerseits durch Gott zum Apostel berufen worden. Die Aufseher mussten jedoch bedenken, dass sie Verwalter Gottes waren. Sie schuldeten ihre Verantwortung direkt Gott gegenüber, denn es war sein Haus, dass sie verwalteten, nicht das Haus der Apostel, und tatsächlich war es der Heilige Geist selbst, der sie zu Aufsehern über die Herde gesetzt hatte (Apg 20,28).

Nicht eigensinnig

Anschließend werden fünf Kennzeichen genannt, die der Aufseher nicht haben sollte. Das erste ist: „nicht eigensinnig“ oder, wie hier wörtlich steht, wie jemand, der danach trachtet, sich selbst zu gefallen, der mit dem eigenen Ich erfüllt ist (Egoismus) und das eigene Ich höher achtet als die anderen (Arroganz) und der dadurch ständig dickköpfig damit beschäftigt ist, seinen eigenen Willen durchzuziehen („Eigenmächtige“ in 2Pet 2,10). Das Wort scheint stets auf jemand Bezug zu nehmen, der einen bestimmten Gedanken, zu dem er einmal gekommen ist, so überbewertet, dass er nicht mehr davon abzubringen ist. Das ist wohl das Gegenteil der Eigenschaft, die die Ältesten nach 1. Timotheus 3,3 haben sollten und die mit den Worten „freundlich“ oder „nachgiebig“ (das auch in Tit 3,2 als gute Eigenschaft aller Gläubigen vorkommt) wiedergegeben werden kann und das mit der gleichen Bedeutung in Philipper 4,5 als Hauptwort vorkommt. Es ist das Entgegenkommen und Wohlwollen, das nicht auf seinem Fleck stehenbleibt und blindlings am eigenen Weg festhält, sondern bescheiden die Gegebenheiten abwägt und das Beste daraus macht; das nicht die eigenen Ideen vorbevorzugt, sondern zuerst nach den Gedanken und den Interessen der anderen (vgl. Eph 5,21; Phil 2,3-5) sowie vor allem nach dem Willen und den Gedanken Gottes fragt. Das muss an erster Stelle stehen. Wir wurden schließlich zum Gehorsam Jesu Christi auserwählt (1Pet 1,2) und müssen jeden Gedanken unter den Gehorsam des Christus gefangen nehmen (2Kor 10,5). Nie sollen wir (und die Ältesten erst recht nicht) unseren eigenen Willen tun, sondern stets prüfen, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist (Röm 12,2; Eph 5,17; 6,6; Kol 1,9; 4,12; Heb 10,36; 13,21; 1Joh 2,17).

Nicht aufbrausend

Das zweite Kennzeichen geht noch weiter: Der Aufseher sollte nicht nur nicht von sich selbst erfüllt sein, sondern es war noch schlimmer, wenn er sich nicht beherrschen konnte. Das Wort bedeutet eigentlich „schnell zum Zorn aufgestachelt“ und kommt nur hier vor. Es ist abgeleitet von dem Tätigkeitswort „zornig sein“, das wir unter anderem finden in Matthäus 5,22; Epheser 4,26 (von Personen) und Offenbarung 11,18 (von Nationen; 12,17 [vom Drachen]). Es war nicht gut, wenn der Aufseher keine Kontrolle über sich selbst hatte und schnell zornig wurde, denn wie würde er dann anderen vorstehen können? Im Gegenteil mussten insbesondere die Ältesten in der Lage sein, diejenigen, die von einem Fehltritt übereilt worden waren, im Geist der Sanftmut wieder zurechtzubringen (Gal 6,1), und als Diener des Herrn sollten sie nicht streiten, sondern gegen alle milde sein, duldsam und die Widersacher in Sanftmut zurechtweisen (2Tim 2,24.25).

Nicht dem Wein ergeben

Auch das folgende Merkmal („dem Wein ergeben“) beinhaltet genau wie das vorige Kennzeichen einen Mangel an Selbstbeherrschung, allerdings in noch gravierenderer Form. Es konnte sein, dass der potentielle Aufseher nicht nur seinen Zorn nicht bezwingen konnte, sondern auch eine ungenügende Kontrolle über bestimmte Neigungen und Begierden hatte. Das hier erwähnte Wort, das auch in 1. Timotheus 3,3 vorkommt, bedeutet eigentlich „bei dem Wein (seiend)“, das heißt, dass die Begierde nach dem Wein ausgeht, wodurch die Gefahr von Maßlosigkeit entstand. Es wird hier noch nicht einmal gesagt, dass der Aufseher kein Trunkenbold sein sollte (Röm 13,13; 1Kor 5,11; 6,10; Gal 5,21; Eph 6,18), sondern hier wird schon ein zu großes Verlangen nach Alkohol abgelehnt. Die irdischen Dingen, zu denen der Wein gehört, sind an sich selbst nicht verkehrt, es würde einem Aufseher aber schlecht anstehen, wenn er sein Herz darauf setzte. Es ist deutlich, dass Wein nicht verkehrt ist, denn der Wein erfreut Gott und Menschen (Ri 9,13), und was Gott erfreut, kann nicht verkehrt sein. Dennoch ist es von großem Gewicht, dass der Herr Jesus von diesen an sich guten Dingen Abstand hielt, bis er auf einer erlösten und gereinigten Erde wieder Wein trinken würde (Mt 26,29). Als der wahre Nasir (4Mo 6,2-4) enthielt Er sich von dem „Guten der Erde“, um Gott völlig hingegeben zu sein. Ebenso werden die Gläubigen aufgerufen, nicht das Irdische, sondern das Himmlische zu suchen (Kol 3,1.2; Phil 3,19.20). Das bedeutet nicht, dass wir überhaupt keinen Wein trinken dürfen (vgl. Kol 2,16.20-22; 1Tim 5,23). Wenn unser Herz durch diese Dinge allerdings  in Beschlag genommen wird (1Kor 6,12.13) oder wenn ich meinen Bruder damit sogar ärgere (Röm 14,21), müssen wir uns davon als Erstes enthalten, vor allem diejenigen, die Vorbilder der Herde sein sollen (1Pet 5,1-3).

Nicht streitlustig

Der Aufseher sollte auch nicht „streitlustig“ sein. Diese Eigenschaft hat mit den beiden vorherigen gemein, dass alle drei auf einen Mangel an Selbstbeherrschung hindeuten, wobei diese Eigenschaft hier wohl die gravierendste ist. Es ist schlimm, wenn jemand seinen Zorn und seine irdischen Begierden nicht zu zähmen weiß, aber wenn er dazu noch einen Hang zum Schlagen hat, ist ein sehr tiefes geistliches Niveau erreicht. Seine ganze Aktivität ist genau verkehrt ausgerichtet: Anstatt seine Energie dazu zu verwenden, sich im Zaum zu halten, wird sie benutzt, um andere zu überwältigen. Das verwendete Wort ist von dem Tätigkeitswort für „schlagen“ abgeleitet und wird auch in 1. Timotheus 3,3 erwähnt. Man ist wohl tief gesunken, wenn man dahin kommt, einen Bruder zu schlagen. Das betrifft natürlich allemal das buchstäbliche Schlagen, aber selbst mit bösartigen Worten kann man jemand brutal treffen.

Nicht auf schändlichen Gewinn aus

Das letzte negative Kennzeichen ist, dass der Aufseher nicht auf schändlichen Gewinn aus sein sollte. Der Ausdruck „auf schändlichen Gewinn aus“ ist im Griechischen ein Wort, das sich aus den Worten für „schändlich“ und „Gewinn“ zusammensetzt. Es kommt auch vor in 1. Timotheus 3,8 für die Diakone, in 1. Petrus 5,2 für die Ältesten und in einigen Handschriften in 1. Timotheus 3,3 in Bezug auf die Aufseher. Das Wort „schändlich“ bezieht sich nicht auf die Weise, in der der Gewinn gemacht wird, sondern auf den Gewinn selbst, das heißt, es geht hier nicht darum, dass man auf unehrliche Weise (durch Wucher oder Betrug) Gewinn macht, sondern der irdische, geldliche Gewinn um des Gewinnes selbst willen wird als schändlich bezeichnet, auf welch ehrliche Weise er auch vielleicht erworben wurde. Es würde dem Aufseher wohl sehr schlecht anstehen, wenn er sein Amt mit der Absicht ausüben würde, sich finanziell besser zu stellen. Wie ehrlich das auch geschehen würde (durch Spenden oder Entlohnung), wenn sein Herz darauf aus war, war dieser Gewinn schändlich. Dasselbe haben wir bei der „Weinergebenheit“ gesehen: Weder Wein noch geldlicher Lohn (vgl. Lk 10,7) sind natürlich an sich verkehrt; sie dürfen in unserem Herzen aber keinen Platz erhalten und erst recht nicht in dem Herzen der Führer. Vergleiche auch 1. Timotheus 6,5-10, wo die Geldliebe bei denen verurteilt wird, die meinten, dass die Gottseligkeit ein Mittel zum (geldlichen) Gewinn sei. Paulus konnte sagen, dass er das, was irgend ihm Gewinn war (dasselbe Wort wie das oben genannte), um Christi willen für Verlust geachtet hatte (Phil 1,21; 3,7).

Sondern gastfrei

Wir kommen jetzt zu sieben positiven Eigenschaften, einer Vollzahl sittlicher Qualitäten, die bei dem idealen Aufseher vorhanden waren. Es war nicht genug, dass eine Anzahl verkehrter Dinge bei ihm nicht zu finden waren, sondern er musste auch über positive Qualitäten verfügen. Natürlich wäre es schön, wenn alle Gläubigen diese Eigenschaften hätten, aber die Ältesten hatten sie ganz besonders nötig. Zuerst sollten sie „gastfrei“ sein. Das ist schon so etwas, was alle Gläubigen sein sollen und wozu wir auch angespornt werden (Röm 12,13), es ohne Murren zu sein (1Pet 4,9), weil einige durch Gastfreundschaft, ohne es zu wissen, Engel beherbergt haben (Heb 13,2). Das erinnert uns an Abraham, der uns gezeigt hat, was wahre Gastfreundschaft ist: Es ist nicht die Gastfreiheit denen gegenüber, die wir schon kennen, unseren Freunden und Familienmitgliedern gegenüber, die uns wieder einladen können, so dass uns Vergeltung wird (Lk 14,12-14). Sondern „gastfrei“ bedeutet im Grundtext eigentlich „Fremde lieben“, gut und herzlich denen gegenüber sein, die wir nicht kennen, die der Herr auf unseren Weg schickt und für die wir unsere Häuser öffnen sollen, sowohl für Ungläubige als vor allem auch gegenüber (unbekannten) Brüdern und Schwestern. Auch hier gilt, dass wir gegenüber allen das Gute wirken sollen, am meisten aber gegenüber den Hausgenossen des Glaubens (Gal 6,10). Der Aufseher, der die Gläubigen hierin ermahnen sollte, musste selbst dadurch ein Vorbild geben, indem er nicht nur in der Gemeinde liebevoll mit den Gläubigen umging, sondern auch in seinem eigenen Haus.

Das Gute liebend

Der folgende Ausdruck ist hier direkt damit verwandt und sieht im Griechischen auch recht ähnlich wie der vorhergehende aus: „das Gute liebend“ oder, wie man genauso gut übersetzen kann, „die Guten liebend“. Die vorherige Eigenschaft spricht von Zuneigung Fremden und vor allem Gläubigen gegenüber, und die Eigenschaft hier spricht von Zuneigung gegenüber den Guten und damit geradewegs den Gläubigen gegenüber. Aber es geht darüber hinaus: Es ist auch das Lieben, das Nachjagen von „dem Guten“ (vgl. 1Pet 3,13; Röm 12,9; Phil 4,8), die Bereitschaft zu jedem guten Werk (vgl. Tit 3,1), zu guten Werken, die Gott zuvorbereitet hat, damit wir in ihnen wandeln sollen (Eph 2,10).

Züchtig

Um das zu können, muss der Aufseher „züchtig“ sein, was im Ursprung wörtlich „gesunden Sinnes“ bedeutet [vgl. Anmerkung zu 2Tim 1,7], das heißt nicht leichtsinnig, nicht schnell durch allerlei Stimmungsschwankungen und Gefühlen mitgerissen, sondern innerlich ausgeglichen und besonnen. Gott hat uns einen Geist der Besonnenheit (oder Zucht [vgl. Schlachter 1951]) gegeben (2Tim 1,7), auch damit wir nicht mehr Unmündige seien, hin und her geworfen und umhergetrieben von jedem Wind der Lehre (Eph 4,14). Züchtigkeit ist eine Eigenschaft, die alle Gläubigen zieren soll, und es ist dann auch auffallend, dass uns diese Eigenschaft in Bezug auf verschiedene Gruppen Gläubiger noch viermal in Kapitel 2 begegnet (Tit 2,2.5.6.12).

Gerecht

Der Aufseher musste auch „gerecht“ sein. Von Natur aus sind alle Menschen ungerecht (Röm 3,4.5.10), aber diejenigen, die das Evangelium des Heils annehmen, werden durch Gott gerechtfertigt (Röm 3,22.26.28 etc.). Jeder Gläubige ist damit ein Gerechter aufgrund seines Glaubens, was allerdings nicht bedeutet, dass er auch praktisch als ein Gerechter lebt und Gerechtigkeit tut. Und darum geht es hier, genauso wie in Titus 2,12 im Hinblick auf alle Gläubigen (wie in Phil 4,8). Johannes bestätigt uns, dass diese praktische Gerechtigkeit selbst ein Beweis dafür ist, dass jemand aus Gott geboren ist (1Joh 2,29; 3,7.10). Denn Christus hat schließlich unsere Sünden getragen, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben sollten (1Pet 2,24); ja wir sollen sogar nach Gerechtigkeit streben (1Tim 6,11; 2Tim 2,22). Nicht nach der Gerechtigkeit, durch die wir Frieden mit Gott erhalten, denn die bekommt man nur aus Glauben, sondern nach der praktischen Gerechtigkeit, die die Frucht der Tatsache sein muss, dass wir Gerechte geworden sind (vgl. Phil 1,11; Heb 12,11). Aus diesen gerechten Taten der Heiligen wird das Kleid der Braut im Himmel bestehen (Off 19,8).

Heilig

Das Nächste ist „heilig“. Hier haben wir nicht das gewöhnliche Wort für „heilig“ (hagios), das immer im Sinn von Absonderung benutzt wird, nämlich vom Bösen zu Gott, sondern hier ist es hosios, das mehr „fromm“, „gottesfürchtig“ bedeutet. Hagios stimmt überein mit dem hebräischen kadoosj (z.B. in: der Heilige Israels, das Heilige der Heiligen) und hosios mit chasid, das beispielsweise viel in den Psalmen vorkommt; zum Beispiel in Psalm 16,10 (Heiliger oder Gunstgenosse [Frommer]). In Apostelgeschichte 2,27 und 13,35 wurde dieser Vers ins Griechische übersetzt und chasid wird mit hosios wiedergegeben. Beide Wörter werden sowohl für Gott als auch für den Menschen verwendet. Im ersten Fall hat es den Sinn von „gnädig“, „barmherzig“ und im zweiten bedeutet es „fromm“, „heilig“ und deutet auf jemand hin, der der Gegenstand von Gottes Barmherzigkeit ist und von daher selbst barmherzig gegenüber anderen sowie Gott gegenüber fromm und hingegeben ist. Von Gott wird in Offenbarung 15,4 und 16,5 gesagt, dass Er hosios ist, von Christus auf der Erde in Apostelgeschichte 2,27 und 13,35 und von Christus im Himmel in Hebräer 7,26. Zu den Männern wird gesagt, dass sie beten sollen, indem sie heilige (hosios) Hände aufheben (1Tim 2,8).

Enthaltsam

Der Aufseher musste „enthaltsam“ sein, das im Grundtext wörtlich bedeutet: „jemand, der Macht über sich selbst hat“; man kann sagen: „selbstbeherrscht“. Diese Kontrolle über sich selbst ist in Galater 5,22 eine [Ausprägung der] Frucht des Geistes und in 2. Petrus 1,6 eine Frucht der Erkenntnis (nämlich von Gottes Willen und Gedanken). Die Bedeutung geht auch klar aus der Verwendung des zugehörigen Tätigkeitswortes in 1. Korinther 7,9 hervor (die Unverheirateten, die sich nicht beherrschen können) und in 1. Korinther 9,25 (der Wettläufer, der in allem enthaltsam sein muss, um den Preis zu empfangen). In Apostelgeschichte 24,25 spricht Paulus zu Felix über Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit, wobei Gerechtigkeit von Gott ist und dem Menschen hinzugefügt wird und Enthaltsamkeit die Folge davon ist, dass diese Gerechtigkeit praktisch in dem Gerechtfertigten zustande gebracht wird. Die Erkenntnis Gottes und seiner Gedanken muss ich auf mich selbst und auf mein Tun und Lassen anwenden. Diese Kenntnis muss meine Wege kontrollieren, so dass ich einen geraden Weg gehe, nicht abgelenkt werde, sondern das Auge auf den höchsten Mann der Schmerzen gerichtet halte; vergleiche die Worte des Apostels: „Seid meine Nachahmer, wie auch ich Christi“ (1Kor 11,1; vgl. 1Thes 1,6).

Festhaltend das zuverlässige Wort [das] nach der Belehrung [ist]

Der Aufseher musste auch an dem zuverlässigen Wort festhalten. Der Ausdruck „Das Wort ist zuverlässig“ ist in den pastoralen Briefen bestens bekannt und kommt in unterschiedlichem Zusammenhang vor: in Verbindung mit dem Evangelium, der Lehre, der Hoffnung und den Aufsehern (1Tim 1,15; 3,1; 4,9; 2Tim 2,11; Tit 3,8). Das Wort ist zuverlässig, weil es kein Menschenwort, sondern das Wort Gottes ist (1Thes 2,13), das durch Gott, der nicht lügen kann, durch die besonders Paulus anvertraute Predigt offenbart wurde (Tit 1,2.3). So zuverlässig, wie Gott selbst ist, so zuverlässig und darum aller Annahme wert ist sein Wort. An diesem Wort musste der Aufseher trotz allen widersetzlichen Geschwätzes und Betrugs (Tit 1,10) festhalten. Wenn jemand etwas anderes predigen würde als das, was die Apostel verkündigt hatten, wäre er verflucht (Gal 1,8). Das war das Wort, das nach der Belehrung war, das heißt in Übereinstimmung mit dem, was Paulus gelehrt hatte. Der Älteste sollte nicht seine eigenen Worte lehren, sondern an dem Wort festhalten, das alleine wahrhaftig zuverlässig ist, weil es von Gott kommt, und das Paulus sie gelehrt hatte. Der Aufseher war zwar ein Mann mit Autorität, aber selbst stand er ebenfalls unter Befehlsgewalt, und zwar der Autorität des durch den Apostel verkündigten Wortes Gottes. Er sollte nur weitergeben, was er empfangen hatte – nicht selbst den Lehrer herauskehren, sondern sich bescheiden als ein Lehrling des Apostels verhalten.

Das Wort für „Belehrung“ (didachè, meistens mit „Lehre“ übersetzt) ist nicht dasselbe wie das Wort „Lehre“ in der zweiten Hälfte von Vers 9 (didaskalia). Didachè kommt nur zweimal in den pastoralen Briefen vor (hier und in 2Tim 4,2), wogegen didaskalia wohl 15-mal vorkommt. Beide Wörter sind von didasko („unterweisen“) abgeleitet, woher auch das Wort „Didaktik“ herkommt. Die zwei Substantive kann man beide mit „Lehre“ übersetzen, aber didachè ist meistens passiv: „das, was gelehrt wird“ (vgl. Mt 7,28; Off 2,14.15.24). Manchmal ist es aktiv: „das Lehren“ (Mk 4,2; 2Tim 4,2). Dikaskalia ist vornehmlich aktiv (1Tim 4,13.16; 5,17; 2Tim 3,10.16; Tit 2,7), mitunter aber auch passiv (1Tim 1,10; 4,1.6; 6,1.3; 2Tim 4,3; Tit 1,9; 2,1.10). In unserem Vers haben beide Wörter eine passive Bedeutung, so dass zwischen ihnen wenig Unterschied besteht. Vielleicht hat didaskalia hier eine Bedeutung, die etwas ins Aktive geht: „Die Aufseher müssen mit der gesunden Lehre ermahnen“, so dass es einen Unterschied zu didachè gibt: „Das Wort ist in Übereinstimmung mit dem, was gelehrt wird.“

Damit er imstande ist, sowohl mit der gesunden Lehre zu ermahnen

Es war notwendig, an diesem zuverlässigen Wort festzuhalten, weil der Aufseher dadurch zu zwei Tätigkeiten imstande sein würde, die in seiner Aufseherschaft vorkommen konnten: das Ermahnen mit der gesunden Lehre und das Überführen der Widersprechenden. Der Codex Alexandrinus liest hier versehentlich: „um die zu ermahnen (trösten), die in allerlei Bedrängnis sind“, wahrscheinlich durch eine Verwechslung mit 2. Korinther 1,4. Eigentlich steht hier: „ermahnen in der gesunden Lehre“. Die Lehre wird hier „gesund“ genannt, wie es in den Briefen an Timotheus und Titus öfters der Fall ist (vgl. 1Tim 1,10; 2Tim 4,3; Tit 2,1). Ebenso begegnen wir den Ausdrücken „gesunde Worte“ (1Tim 6,3; 2Tim 1,13), „gesund im Glauben“ (Tit 1,13; 2,2) und dem eigentlichen Grundwort in Titus 2,8 („ein gesundes, unanfechtbares Wort“). Letzteres ist das im Neuen Testament üblicherweise benutzte Wort für „gesund“, auch für Kranke, die geheilt wurden. In anderen Fällen kommt es von dem Tätigkeitswort „gesund sein“. Im übertragenen Sinn bedeutet es hier, dass das Wort, das die Apostel lehrten, rein war, ohne Einmischung fremder, menschlicher Gedanken und unbeeinflusst durch Schwätzer und Betrüger, wie es sie in Kreta gab. Mit diesem gesunden, unberührten Wort, dieser Lehre, musste ermahnt werden, damit die Gläubigen in diesem Wort blieben und dadurch auch im Glauben gesund wären (Tit 1,13; 2,2).

Wir haben bereits gesehen, dass diese Worte durchaus keinen „Lehrauftrag“ für die Aufseher enthielten und sicherlich nicht in der Zusammenkunft als Gemeinde. Es konnte vorkommen, dass der Aufseher gleichzeitig die Gabe des Lehrers hatte, aber diese Gabe hatte nichts mit seinem Amt zu tun. Aus 1. Timotheus 5,17 können wir deutlich erkennen, dass es Älteste gab, die in Wort und Lehre arbeiteten, sowie Älteste, die dazu keine Gabe hatten. Es mussten zwar alle Ältesten die Fähigkeit haben, zu lehren, wie es unser Vers und 1. Timotheus 3,2 besagt, aber dabei handelt es sich nicht um den Auftrag, in den Zusammenkünften zu lehren (was die Gabe des Lehrers beinhaltet), sondern nur die Befähigung, (nicht als Lehrer, sondern) als Lehrling das selbst Gelernte auszuarbeiten und an andere im Rahmen von persönlichen hirtendienstlichen Gesprächen und Verwaltungsaufgaben weiterzugeben. Die Fähigkeit, mit der gesunden Lehre zu ermahnen, beinhaltet also Folgendes: Wo es die hirtendienstliche oder verwaltende Aufgabe des Ältesten es notwendig machte, musste er imstande sein, seine persönlichen Lebenserfahrungen, die er in den Wegen Gottes erworben hatte, an die Gläubigen zu übermitteln, die ihm und seinen Mitaufsehern anvertraut worden waren.

Als auch die Widersprechenden zu überführen

Der Aufseher kam jedoch nicht nur mit aufrichtigen Gläubigen in Berührung, sondern auch mit Widersprechenden – entweder draußen oder drinnen –, die gegen die gesunde Lehre angingen und das zuverlässige Wort abstritten; vergleiche dasselbe Wort in Apostelgeschichte 13,45; Lukas 20,27; Judas 1,11 und anderen Stellen. Auch in Titus 2,9 kommt das Wort vor. Daraus sehen wir, dass es bereits damals in der Christenheit Personen gab, die gegen die Wahrheit angingen, wie wir sie vor allem im zweiten Timotheusbrief finden (2Tim 2,16–3,9). Welch eine Verantwortung für die Aufseher, die Anwesenheit dieser Menschen zu erkennen und besonders auch ihr verderbliches Geschwätz zu widerlegen. Das Wort für „widerlegen“ bedeutet eigentlich: den überzeugenden Beweis von etwas liefern, insbesondere jemandes Schuld oder Unrecht. Wir finden diese Bedeutung deutlich in Johannes 8,46; 16,8; 1. Korinther 14,24 und Jakobus 2,9. Vergleiche auch Hebräer 11,1 („Überzeugung“ oder „Beweis“ [siehe Anmerkung zu Heb 11,1: „ein Überführtsein“]). Wenn wir diese Grundbedeutung beachten, verstehen wir auch die Textstellen viel besser, wo das Wort durch „bestrafen“ („überführen“) übersetzt wird: Matthäus 18,15; Lukas 3,19 („zurechtweisen“); Johannes 3,20 („bloßgestellt“, „gestraft“, vgl. Anmerkung); Epheser 5,11.13; 1. Timotheus 5,20 („überführen“); Titus 1,13 („weise sie streng zurecht“, „überführe sie scharf“, vgl. Anmerkung); Titus 2,15 („überführe“); Hebräer 12,5; Offenbarung 3,19 („überführe“) und 2. Timotheus 4,2 („überführe“). Wenn wir das auf unseren Vers anwenden, sehen wir, dass die Aufseher imstande sein mussten, die Lügen der Widersprechenden öffentlich an den Pranger zu stellen, so dass alle Gläubigen ihre wirkliche Natur erkennen konnten. Chrysostomos schreibt: „Wer nicht weiß, wie er mit Widersprechenden streiten muss, und nicht imstande ist, ihre Argumente zu widerlegen, ist weit vom Lehrermandat entfernt.“ Um dazu in der Lage zu sein, war es notwendig, dass die Ältesten im Glauben und in der Lehre gesund waren. Und es gab noch etwas Weitergehendes: Wenn solche Irrlehrer in das christliche Zeugnis eingedrungen waren, mussten die treuen Gläubigen sich von solchen Personen reinigen, „wegreinigen“, damit sie Gefäße zur Ehre sein könnten, nützlich dem Hausherrn, zu jedem guten Werk bereitet. Das steht in 2. Timotheus 2,14-22. Direkt im Anschluss daran wird davon gesprochen, die Widersacher in Sanftmut zurechtzuweisen, damit sie sich bekehren würden (2Tim 2,25). Es ist also nötig, die Widersprechenden zu widerlegen und zu strafen, wobei wir dabei sehr wachsam sein müssen, um im Hinblick auf die falsche Lehre rein zu bleiben. Deshalb ist es notwendig, dass wir uns persönlich von solchen Menschen zurückziehen (Röm 16,17.18; 1Tim 6,11.20; 2Tim 3,5) und, wenn es unvermeidbar ist, jede Gemeinschaft mit ihnen aufgeben (2Tim 2,20-22; 2Joh 1,9-11). Mehr denn je gilt das für unsere Zeit, wo die gesunde Lehre nicht mehr ertragen wird, sondern wo man sich selbst nach seinen eigenen Begierden Lehrer aufhäuft, um seine Ohren verwöhnen zu lassen. Und man wendet das Ohr von der Wahrheit ab und wendet sich den Fabeln zu (2Tim 4,3.4). Mehr denn je ist es heute notwendig, die Schrift zu kennen und mit ihr zu lehren, zu widerlegen (dasselbe Wort wie in unserem Vers, „überführen“, vgl. 2Tim 3,16), zurechtzuweisen und zu unterweisen in der Gerechtigkeit (2Tim 3,16).

(b) Warnungen angesichts der falschen Lehrer (Tit 1,10-16)

Tit 1,10.11: Denn es gibt viele Widerspenstige, Schwätzer und Betrüger, besonders die aus der Beschneidung, denen man den Mund stopfen muss, die ganze Häuser umkehren, um schändlichen Gewinnes willen [Dinge] lehrend, die sich nicht geziemen [gelehrt zu werden].

Denn es gibt viele Widerspenstige

Nun wird herausgestellt, warum eine formale Autorität auf Kreta so nützlich war und warum die Aufseher die Widersprechenden widerlegen können mussten. Hier steht „Denn“: „Denn es gibt viele Widerspenstige.“ Es gab dort nicht nur einzelne Quertreiber, sondern viele, und darüber hinaus nicht außerhalb des christlichen Zeugnisses, sondern in den Gemeinden selbst. Es ging um Personen, die getauft waren und bekannten, Christen zu sein, aber nun öffentlich der Wahrheit widerstanden, so wie sie durch Gott offenbart worden war. Welch ein Kummer muss das für Paulus gewesen sein, dass solche Menschen bereits so frühzeitig in das Zeugnis eingedrungen waren. Er war nicht nur um die  Gemeinden besorgt, weil sie noch so jung und unerfahren waren und noch wenig von der Wahrheit verstanden, sondern jetzt auch deshalb, weil es Personen in ihrer Mitte gab, die die Gemeinden zu verderben drohten. Es geht hier nicht um die Frage, ob diese Personen jetzt errettet waren oder nicht. Das tut nichts zur Sache, denn darüber urteilt Gott. Die Gläubigen hatten es mit der äußerlichen Offenbarung dieser Personen zu tun, die entgegen der Lehre Zwietracht und Ärgernis anrichteten (Röm 16,17.18). Ihnen sollten sie sich entziehen, denn solche Menschen dienten nicht unserem Herrn Christus, sondern ihrem eigenen Bauch und durch süße Worte und schöne Reden verführten sie die Herzen der Arglosen (vgl. Röm 16,18 mit Tit 1,11; vgl. auch Phil 3,17.18). Die Beschreibung dieser Personen stimmt mit denen der Bekenner in 2. Timotheus 3,5-9 überein.

Widerspenstige, Schwätzer und Betrüger

Diese Widersprechenden werden in unserem Vers auf drei Weisen umschrieben: als Widerspenstige, als Schwätzer und als Betrüger.

  1. Manche fassen „Widerspenstige“ attributiv auf und übersetzen: „Denn es gibt viele widerspenstige Schwätzer und Betrüger.“ Diese Auffassung wird dadurch unterstrichen, dass einige weniger bedeutende Handschriften zwischen „viele“ und „widerspenstige“ das Wörtchen „und“ einfügen, so dass wir dann lesen müssen: „Es gibt viele und widerspenstige Schwätzer und Betrüger.“ Dem Wort „widerspenstig“ sind wir bereits in Titus 1,6 begegnet, wo wir gesehen haben, dass es „nicht unterwürfig“ bedeutet. Hier geht es also um Menschen in der Gemeinde, die sich weder der Autorität der älteren Brüder unterwarfen noch der des Apostels Paulus und seines abgesandten Titus und die sich außerdem nicht dem Wort Gottes unterwarfen, der durch Gott offenbarten gesunden Lehre, sondern die ihre eigenen ungesunden Gedanken darüberstellten.
  2. Zweitens waren es Schwätzer, was wörtlich „eitle Sprecher“ bedeutet. Es ist dasselbe Grundwort wie „leeres Geschwätz“ in 1. Timotheus 1,6. Es waren redegewandte Menschen, die durch ihre Beredsamkeit diejenigen irreführten, die unfähig und unwissend waren. Aber wie schön ihre Worte auch klangen – sie waren eitel, leer, inhaltslos und dienten nur dazu, die Leere dieser Redner zu verschleiern und dem Fleisch der anderen zu schmeicheln. Tatsächlich ist diese eitle Rhetorik für das Fleisch anziehend, und Paulus warnte auch davor, dass es eine Zeit geben würde, in der die Menschen die gesunde Lehre nicht mehr ertragen, sondern sich selbst nach ihren eigenen Begierden Lehrer aufhäufen würden, um ihre Ohren verwöhnen zu lassen. Weiter würden sie das Ohr von der Wahrheit abkehren und sich zu den Fabeln hinwenden (2Tim 4,3.4). Vergleiche damit Titus 1,13.14.
  3. Brüder, die keine geistliche Einsicht besaßen, konnten durch dieses Geschwätz irregeleitet werden, und darum werden diese Schwätzer hier als Drittes Betrüger genannt. Es waren keine Menschen, die aufrichtig meinten, dass sie das Recht auf ihrer Seite hatten, sondern in der Tat Bauernfänger, die die Gläubigen in Verwirrung bringen wollten, indem sie verderbliche Systeme einführten. Das griechische Wort bedeutet eigentlich „im Gemüt betrügen“ (es kommt auch in Gal 6,3 vor), das heißt innerlich verwirren.

Besonders die aus der Beschneidung

Diese Betrüger kamen insbesondere aus der Beschneidung, das heißt aus den Juden. „Besonders“ können wir auf zwei Arten auffassen, nämlich quantitativ, das heißt, dass die meisten dieser Betrüger Juden waren, oder auch qualitativ, das heißt, dass die schlimmsten dieser Betrüger Juden waren. „Aus der Beschneidung“ heißt: Christen, die ursprünglich beschnittene Juden waren. Es ist ein technischer Ausdruck, dem wir mehr im Neuen Testament begegnen, um Juden zu bezeichnen (Apg 10,45; 11,2; Röm 15,8; Kol 4,11; auch in Röm 3,30; 4,9.12; Gal 2,7-9.12). In Philipper 3,3 wird der Ausdruck auf die wahren Gläubigen angewendet, da die echte Beschneidung schließlich die des Herzens ist (vgl. Röm 2,28.29; Kol 2,11; Jer 4,4; 9,26; 5Mo 30,6). Hier im Titusbrief geht es um christliche Juden, die selbst nie ganz vom Gesetz befreit waren und die versuchten, den Christen aus den Nationen ein gesetzliches System aufzuerlegen. Diese Personen haben wir bereits in der Einleitung dieser Betrachtung beschrieben. Das Gefährliche dieser Judaisten war, dass sie bei ihrem betrügerischen Geschwätz an den schlechten Charakter der Kreter appellierten (Tit 1,12). Nichts verleitet die gottesdienstliche Welt mehr als ein gesetzliches System, das sich auf die Fähigkeit im Menschen gründet, Gott zu gefallen, das aber tatsächlich nur seine verdorbene Natur ans Licht bringt. Je schlechter der Charakter und je geringer die Selbsterkenntnis, desto leichter dringt solch ein System ein. Alle großen Gottesdienste der Welt werden dadurch gekennzeichnet wie auch die römisch-katholische Kirche, viele Sekten, die modernen und freisinnigen Kirchen und in gewisser Hinsicht auch der extreme Calvinismus. Alleine die evangelischen Kirchen, die sich rein erhalten haben (wie viele von ihnen mag es noch geben?), stellen hier eine Ausnahme dar.

Denen man den Mund stopfen muss

Wie in der Apostelgeschichte und unter anderem im Galaterbrief fühlten sich auch die Judenchristen in Kreta über die anderen Gläubigen erhaben, weil sie das Gesetz kannten, beschnitten waren und im Gegensatz zu den anderen das Gesetz hielten. Sie wollten diese Dinge jetzt auch den anderen auferlegen, um sie auf diese Weise in ihrem System zu fangen und Einfluss über sie zu gewinnen. Sie waren wie die Pharisäer, die den Menschen schwere Lasten auferlegten, sie selbst aber nicht mit ihrem Finger bewegen wollten (Mt 23,4). Es war allgemein ein ernstes Übel bei den Juden, dass sie meinten, sich als Führer der blinden Völker aufschwingen zu müssen, als Licht derer, die in Finsternis sind, als Erzieher der Törichten, als Lehrer der Unmündigen, ohne dass sie verstanden, dass sie selbst nichts anderes als blinde Leiter waren, finster, unverständig und unmündig (Röm 2,17-24; Mt 15,14). Wie viel schlimmer war es, wenn es dabei um Juden ging, die bekannt hatten, Christen geworden zu sein! Diesen Menschen musste man den Mund stopfen – wir würden sagen: ihnen Schweigen auferlegen. Wörtlich steht hier: etwas auf den Mund tun, das heißt Zaumzeug oder einen Maulkorb anlegen (folglich nicht dasselbe wie in Röm 3,19, wo es wörtlich heißt: den Mund zustopfen, schließen), was damit tatsächlich den Gedanken beinhaltet: Schweigen auferlegen.

Das geschah auf zweierlei Weise: erstens aufgrund der formalen Autorität von Titus und der Aufseher und zweitens dadurch, dass diesen Widersprechenden öffentlich der Mund gestopft werden musste, indem ihr Geschwätz von der Schrift und den neuen offenbarten Wahrheiten aus widerlegt wurde (Tit 1,9.13). Gegenüber solchen Personen durfte es kein Pardon geben, denn es ging um die Ehre Gottes und um das Wohl der Gemeinde. Es ist völlig fehl am Platz, zu sagen, dass wir solche Personen liebhaben müssen, wenn wir damit meinen, dass wir ihre Lehre ertragen sollen. Wenn wir diese Menschen, die bekennen, Brüder zu sein, wirklich lieben, müssen wir unsere Liebe auf eine Art zeigen, die der eines Vaters gleicht, der seine Kinder liebt, nämlich indem er Zucht über sie ausübt, damit sie dadurch umkehren (vgl. denselben Grundsatz in einem anderen Fall in 1Kor 5,5 und 2Kor 2,5-9; vgl. auch 1Tim 1,20 und 2Tim 2,25.26). Wir sollen die Brüder lieben, aber ihre (und unsere eigenen) verkehrten Taten hassen. Die Liebe freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sondern freut sich mit der Wahrheit (1Kor 13,6). Dies ist die Liebe Gottes, dass wir seine Gebote halten (1Joh 5,2.3). Das bestimmt unsere Haltung zu Mitchristen. Die Weisheit, die von oben ist, ist erstens rein, dann friedsam (Jak 3,17). Was diese Dinge angeht, sollen wir besonders nach Gerechtigkeit und Glauben streben, danach erst nach Liebe und Frieden (2Tim 2,22). Gewiss sollen wir sanftmütig sein, wenn wir die Widersacher zurechtweisen, aber das wird erst gesagt, nachdem vorgestellt wurde, dass wir uns von den Gefäßen zur Unehre reinigen sollen (2Tim 2,19-26).

Die ganze Häuser umkehren

Mehr noch als diese Personen sollen wir die ganze Gemeinde lieben, weil sie durch deren Lehre geschädigt wird. Schließlich kehren sie ganze Häuser um, indem sie Dinge lehren, die sich nicht geziemen. Sie kehren den Glauben ganzer Familien um (vgl. dasselbe Wort in 2Tim 2,18 und im buchstäblichen Sinne in Joh 2,15), das heißt, sie ruinieren diese Familien, indem sie in Bezug auf die gesunde Lehre Verwirrung säen. Ganze Häuser bringen sie durcheinander und führen die Familien in Zweifel und Uneinigkeit. Natürlich geht es dabei um Familien, die aus Mangel an geistlichem Leben, Erkenntnis, Unvermögen und vielleicht Weltförmigkeit bereits nicht mehr fest standen. Denn es zieht sich wie ein roter Faden durch die Schrift, dass ein Abweichen von der Lehre nur dann möglich ist, nachdem man sittlich abgewichen ist, das heißt, dass einer Irrlehre immer ein sittliches Abweichen zugrunde liegt. Aus 1. Timotheus 1,18.19 sehen wir deutlich, dass, wenn jemand bezüglich des Glaubens (mit Artikel, d.h. in Bezug auf das Glaubensgut, die Wahrheit) Schiffbruch erleidet, es daher kommt, dass derjenige [den] Glauben (ohne Artikel, d.h. den praktischen Glauben) und ein gutes Gewissen von sich gestoßen hat.

Aus unserem Vers geht erneut die große Verantwortlichkeit des Familienhauptes hervor. Wenn ein Vater in den geistlichen Dingen und gegenüber der Wahrheit untreu ist,  muss er damit rechnen, dass seine Kinder es auch sein werden. Wenn hier steht, dass ganze Häuser umgekehrt werden, wird deutlich, dass dies größtenteils auf die Rechnung des Familienhauptes geht. Bei der Besprechung von Titus 1,6 haben wir gesehen, dass es nach den Gedanken des Herrn ist, dass jemand mit seinem ganzen Haus errettet wird. Leider ist es jedoch so, dass man im Allgemeinen auch mit seinem ganzen Haus verlorengeht (vgl. 4Mo 16,27.30; Jos 7,24), und es ist eine große Gnade, wenn jemand als Kind einer ungläubigen Familie errettet wird (4Mo 26,11). Genauso wie von den Aufsehern verlangt werden konnte, dass ihre Kinder gläubig waren, lastet auf den ungeistlichen Ältesten die volle Verantwortung, wenn die Kinder aufgrund ihres Abweichens verlorengehen.

Um schändlichen Gewinnes willen [Dinge] lehrend, die sich nicht geziemen

Die Widersprechenden lehrten Dinge, die sich nicht geziemten gelehrt zu werden, weil sie der gesunden Lehre Gottes zuwiderliefen. Sie machten viele Gläubige durch ihr Geschwätz genauso ungesund und beschmutzt, wie sie es bereits selbst waren (vgl. Tit 1,13-16). Sie unterschieden sich recht stark von den Aufsehern, die nicht auf schändlichen Gewinn aus waren und mit der gesunden Lehre ermahnten. Aber diesen Betrügern ging es um schändlichen Gewinn, während sie ungesundes Geschwätz von sich gaben. Nicht nur das, was sie sagten war falsch, sondern auch warum sie es sagten. Ihre Beweggründe waren verdorben. Man konnte vielleicht noch der Meinung sein, dass diese Irrlehrer selbst an ihr ungesundes Gerede glaubten, aber die schändliche Geldsucht, die sie antrieb, zeigt, dass sie unehrliche Betrüger waren (Tit 1,10). Aufrichtigen Gläubigen geht es nie ums Geld. Abraham weigerte sich, die Geschenke der Welt anzunehmen, damit niemand sagen konnte, dass er Abraham reich gemacht hatte (1Mo 14,21-24). Petrus lehnte das Bestechungsgeld Simons ab, der meinte, die Gabe Gottes durch Geld erwerben zu können (Apg 8,18-20). Paulus nahm von fast keiner einzigen Gemeinde Geld an – obwohl er ein Recht darauf hatte –, damit er ihnen gegenüber frei war (1Kor 9; Phil 4; 1Thes 2).

Tit 1,12-14: Einer aus ihnen, ihr eigener Prophet, hat gesagt: Kreter [sind] immer Lügner, böse Biester, faule Bäuche. Dieses Zeugnis ist wahr. Strafe sie deshalb scharf, damit sie im Glauben gesund seien, sich nicht abgebend mit jüdischen Fabeln und Geboten von Menschen, die sich von der Wahrheit abwenden.

Einer aus ihnen, ihr eigener Prophet hat gesagt

Die Widersacher (von denen die Juden die schlimmsten ausmachten) waren nicht nur in sich selbst verdorben, sondern sie fanden darüber hinaus einen schädlichen Widerhall in dem schlechten Volkscharakter der Kreter, der leider auch bei den gläubigen Kretern nicht immer unterdrückt wurde. Dass die Kreter von Natur aus schlechte Charakterzüge aufwiesen, war keine Behauptung von Paulus, sondern wurde durch ihren eigenen Propheten beteuert. Dieser war nicht etwa ein Prophet Gottes, sondern wurde von seinen eigenen Volksgenossen als ein Prophet anerkannt und war als solcher für sie vertrauenswürdig und mit Autorität versehen. Er war einer „aus ihnen“, nämlich einer von den vielen in Titus 1,10, sofern es nicht um Juden, sondern um echte Kreter ging. Dieser Prophet war Epimenides, der um 600 v.Chr. auf Kreta lebte, das heißt zur Zeit Nebukadnezars. Er wohnte in Phaestus (nach anderen in Knossos) auf Kreta. Er scheint durch die Athener gesandt worden zu sein, um die Reinigung dieser Stadt durchzuführen. Er kam somit aus Athen, wo er derjenige gewesen zu sein scheint, der den Athenern dazu riet, den Altar für den unbekannten Gott zu bauen (Apg 17,23). Auch Cicero und Apuleius nennen ihn einen Propheten. Des Weiteren war er Philosoph und Staatsmann und dabei ein ethischer Dichter. Die angeführte Strophe ist ein Hexameter aus dem wahrscheinlich einzigen verbliebenen Fragment. Seine ethischen Philosophien stellen ihn in eine Reihe mit den heidnischen Moralisten, die in Römer 2,1-16 verurteilt werden. Paulus führt häufiger Strophen alter heidnischer Dichter an, wie von Aratus in Apostelgeschichte 17,28 und Menander in 1. Korinther 15,33.

Kreter [sind] immer Lügner, böse Biester, faule Bäuche

Epimenides’ Darstellung seiner Volksgenossen war nicht besonders sachte. Als Erstes sagt er von ihnen, dass sie immer Lügner seien. Diese Lügenhaftigkeit der Kreter war im Altertum tatsächlich sprichwörtlich. Die Kreter, Kappadozier und Zilizier (drei Namen mit einem K im Griechischen) galten als die bösesten und verdorbensten Völker überhaupt im griechischen Altertum. Auch Livius und Plutarchus stellten den Kretern ein schlechtes Zeugnis aus. Es gab damals sogar ein Tätigkeitswort krètizo, das wörtlich bedeutet: „wie ein Kreter handeln“, womit „lügen“ gemeint ist.[4] Die ersten drei Worte der Strophe von Epimenides („Kreter immer Lügner“) kommen auch bei Callimachus in der Hymne an Zeus vor. Weiter werden die Kreter „böse Biester“ benannt. Ein „Biest“ ist ein wildes Tier (vgl. z.B. Mk 1,13), was hier noch durch „böse“ verstärkt wird. Der Prophet nennt sie so wegen ihrer Empfindungslosigkeit in Bezug auf Ordnung und Autorität sowie wegen ihrer streitsüchtigen und ungehobelten Art. An anderer Stelle schreibt Epimenides: „Die Abwesenheit wilder Tiere in Kreta wird durch seine menschlichen Bewohner wettgemacht.“ Darüber hinaus sind sie „faule Bäuche“, wobei das Wort „Bauch“ eine Andeutung eines gierigen Vielfraßes ist (vgl. Röm 16,18; Phil 3,19). „Faul“ ist eigentlich „müßig“ (vgl. Mt 20,3.6; 1Tim 5,13) oder auch „träge“ (2Pet 1,8). Im übertragenen Sinne wird es in Matthäus 12,36 und in Jakobus 2,20 verwendet. Obwohl viele Kreter zum Glauben gekommen waren, hatten sie wie alle Gläubigen das Fleisch noch in sich, wozu auch diese schlechten Volksmerkmale gehörten. Wenn sie nicht ihre Glieder, die auf der Erde sind, töteten (Kol 3,5-11) und sich der Sünde für tot hielten (Röm 6,11), liefen sie große Gefahr, sich diesen verkehrten Eigenschaften preiszugeben, wodurch sie eine leichte Beute falscher Verführer werden würden, die ihrerseits selbst auch Lügner („Betrüger“, Tit 1,10), Biester („Widerspenstige“, Tit 1,10) und Bäuche waren („schändlicher Gewinn“, Tit 1,11).

Dieses Zeugnis ist wahr. Strafe sie deshalb scharf, damit sie im Glauben gesund seien

Das Zeugnis des Epimenides war wahr. Obwohl er kein Prophet Gottes war, erkannte Gott sein Zeugnis an. Und „deshalb“ war es nötig, dass Titus sie streng strafen sollte. Dieses Wort „strafen“ (auch in Tit 2,15) ist dasselbe wie „überführen“ in Titus 1,9. Ich habe übersetzt: „scharf strafen“, was wörtlich „abgeschnitten“ bedeutet – mit anderen Worten: abrupt, prompt, abgerissen. Vergleiche „Strenge“ in Römer 11,22 und in 2. Korinther 13,10. Das Wort erinnert an die Arbeit eines Chirurgen, der das bösartige Gewebe „wegschneidet“. So musste Titus durch sein Strafen das „krebsartig um sich fressende Wort“ (2Tim 2,16-18) radikal „wegschneiden“. Dieser Auftrag war so wichtig, dass er nicht den Ältesten, sondern Titus direkt gegeben wurde. In der Tat hing von der Überführung dieser Verführer das Wohl der Gemeinde ab. Dieses Übel musste mit den stärksten Mitteln bekämpft werden, damit es sich unter den Gläubigen nicht weiter ausbreiten konnte. „Ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig“ (Gal 5,9; 1Kor 5,6.7). Natürlich sollten die Widersacher mit Sanftmütigkeit zurechtgewiesen werden, denn es konnte sein, dass Gott ihnen Buße zur Erkenntnis der Wahrheit gab (2Tim 2,25). Die Liebe zum Herrn und zur Gemeinde musste jedoch an erster Stelle stehen, weshalb die Zurechtweisung streng sein musste. Andererseits musste das Ziel immer darin bestehen, den anderen zu gewinnen, „damit er im Glauben gesund sei“. Das Ziel jeder gemeindlichen Zuchtmaßnahme muss zuerst darin bestehen, die Heiligkeit des Tisches des Herrn aufrechtzuerhalten, und zweitens darin, den Abgewichenen zu gewinnen (vgl. 1Kor 5,5; 2Kor 2,5-11; Gal 6,1; 2Thes 3,14.15; Jak 5,19.20), damit er die Wahrheit erkennt und im Glauben gesund ist. Bei „Glauben“ steht hier der Artikel, das heißt, dass es hier um das geht, was geglaubt wird: um  die Glaubenswahrheit. Die positive Seite besteht in der Rückkehr zur Wahrheit, die negative Seite im Abstehen von den Lügen (jüdischen Fabeln und menschlichen Geboten).

Sich nicht abgebend mit jüdischen Fabeln

Die jüdische Theologie bestand jahrhundertelang (und eigentlich bis heute, solange die Decke auf ihrem Herzen liegt, 2Kor 3,14-16) tatsächlich genau aus diesen beiden Elementen, die in Vers 14 erwähnt werden. Zuerst aus „jüdischen Fabeln“, das heißt aus jüdischen Phantasien und Ausschmückungen der Geschichte des Alten Testaments. Paulus vergleicht diese „ausgeklügelten Fabeln“ (vgl. 2Pet 1,16) mit dem Geplauder alter Frauen (1Tim 4,7) und warnt auch Timotheus davor. Zu diesen jüdischen Erdichtungen gehören auch die „endlosen Geschlechtsregister“ (1Tim 1,4), bei denen es sich nicht um die biblischen Geschlechtsregister wie in 1. Chronika 1–8 handelt, die zum inspirierten Wort Gottes gehören. Demgegenüber geht es hier um Phantasien über den Ursprung geistlicher Wesen wie Engel und Dämonen, einer starken Vermischung jüdischen Aberglaubens und heidnischer Philosophie (der Emanationslehre, die besagt, dass alle Dinge aus einem Ursprung, der Gottheit, hervorgegangen ist), die später in die Kabbala mündete, der geheimen Mystik der Juden des Mittelalters. Das Wort „Geschlechtsregister“ ist etwas verwirrend. Wörtlich ist es „Genealogie“, das heißt die Kenntnis über die Entstehung, über die Abstammung.

Und Geboten von Menschen, die sich von der Wahrheit abwenden

Das zweite Element besteht in den Geboten von Menschen, die sich von der Wahrheit abwenden, womit folglich unbekehrte Juden gemeint sind. So wie die Fabeln einen Gegensatz zur Wahrheit bilden, so stehen die menschlichen Gebote denen von Gott gegenüber. Das Alte Testament steht voll von Geboten, aber das sind Gebote, die durch Gott auferlegt worden waren. Die jüdischen Schriftgelehrten hatten sich jedoch darauf konzentriert, diese Gebote zu zerfasern und auszuschmücken und ihnen vor allem viele neue hinzuzufügen. Sie hatten sich auf den Stuhl Moses gesetzt und legten schwere und schwer zu tragende Lasten auf die Schultern der Menschen (vgl. Mk 2,24; 3,2; 7,2), wollten sie aber selbst nicht mit ihrem Finger bewegen (Mt 23,2-4). Schon im Alten Testament hatte Gott vor diesen Menschengeboten gewarnt (Jes 29,13; Mk 7,7), denn während sie das Gebot Gottes aufgaben, hielten sie die Überlieferungen der Menschen (Mk 7,5-13). Vergleiche auch Kolosser 2,16.20-23 und 1. Timotheus 4,1-3.

Diese Phantasien und falschen Überlieferungen bildeten eine große Gefahr in der Christenheit. Die Gebote und Einrichtungen von Menschen gehen aus dem Fleisch hervor, das weder die völlige Verdorbenheit des natürlichen Menschen noch die Gnade Gottes gegenüber dem Sünder anerkennt. Sie stellten den Menschen in den Mittelpunkt und redeten ihm ein, dass er durch die Einhaltung der Gebote die Seligkeit ererben könnte. Kamen diese Ermahnungen und Belehrungen auch noch von solchen, die einen Schein von Gottseligkeit hatten, in Wirklichkeit aber von der Wahrheit abgewichen waren, dann bildeten sie eine ernsthafte Bedrohung für die Gläubigen. Paulus warnte in seinem letzten Brief vor einer Zeit, in der die Menschen die gesunde Lehre nicht mehr ertragen würden, sondern sich nach ihren eigenen Begierden selbst Lehrer aufhäufen würden, um ihre Ohren verwöhnen zu lassen. Sie würden die Ohren von der Wahrheit abkehren und sich zu den Fabeln hinwenden (2Tim 4,3.4). Leider haben in vielen Kirchen menschliche Einrichtungen tatsächlich zu Unrecht einen großen Platz eingenommen, während namentlich in der römischen Kirche die Überlieferungen (Fabeln) eine große Rolle spielen, worauf vor allem 1. Timotheus 4,1-3 abzielt.

Tit 1,15.16: Alles [ist] rein für den Reinen; für den Verunreinigten und Ungläubigen jedoch [ist] nichts rein, sondern sowohl ihr Verstand als auch ihre Gewissen ist verunreinigt. Sie geben vor, Gott* zu kennen, aber mit den Werken verleugnen sie [ihn], sind abscheulich und ungehorsam und zu jedem guten Werk ungeeignet.

Alles [ist] rein für den Reinen

Wie arglistig ist doch das Herz des Menschen (Jer 17,9)! Es ist für das Fleisch viel einfacher, äußerliche Gebote aufzustellen, die man erfüllen kann, als nach einem reinen Herzen zu streben. Und selbst wenn Gott dann (wie hier) sagt, dass es für denjenigen, der innerlich rein ist, keine Dinge gibt, die den Nutzer nach zeremoniellen Gesetzen unrein machen, verdreht der Mensch solch ein Wort zu seinem eigenen Verderben, indem er daraus schließt, dass ihm alles erlaubt sei, weil ihn ja überhaupt keine verkehrte Tat verunreinigen würde. Damit zeigt er jedoch nur, wie sehr sein Gewissen bereits verunreinigt ist! Nein, im Christentum ist nichts äußerlich: keine Gebote, keine Riten und Zeremonien, kein äußerlicher Prunk, nichts, was vor Augen ist (2Kor 10,7). Lediglich Taufe und Abendmahl sind äußerliche Symbole, die jedoch von innerlichen Dingen sprechen. Gott möchte Wirklichkeit, Er möchte Wahrheit im Innern (Ps 51,8). Der Herr sieht das Herz an (1Sam 16,7). Bei Ihm zählt nicht in erster Linie die äußerliche Stellung, die jemand einnimmt (obwohl er jemand gemäß der Stellung beurteilt, die er einnimmt und auf die er sich beruft), sondern das, was im Herzen vorhanden ist. Paulus zeigt das zum Beispiel deutlich mit Bezug auf die Stellung der Juden (Röm 2,17–3,20). Es geht um den inneren geistlichen Zustand. Man wird nicht rein, indem man die zeremoniellen Gesetze befolgt, die die jüdischen Verführer einführen wollten, das heißt nicht aufgrund von Gesetzeswerken (Röm 3,20.27.28; Gal 2,16.21; 3,2.5.11; 5,3.4; Phil 3,9), sondern durch den Glauben an Christus, der uns durch das Wasser des Wortes abgewaschen hat (1Kor 6,11; Eph 5,26; Heb 10,22). Durch diese Waschung – und nur dadurch –, die durch die Kraft seines Blutes geschieht (Heb 9,14; 1Joh 1,7; Off 1,5; 7,14), kann ein Mensch wirklich rein werden (vgl. weiter Joh 3,5; 13,10; 15,3; 1Pet 1,22.23; Jak 1,18 und Tit 3,5).

Der Gläubige ist nicht mehr unter dem Gesetz (Röm 6,14; 7,4; 1Kor 9,20; Gal 5,18), denn das ist in sich selbst unvollkommen und bringt nur Zorn, Tod, Verdammnis und Fluch. Wir sind dem Gesetz gestorben (Röm 7,4.6; Gal 2,19) und daher von ihm befreit (Röm 7,6; 8,2; Gal 3,13; 4,5). Christus ist jetzt unsere Lebensregel geworden (vgl. Gal 3,24-27), und was wahr ist in Ihm, ist auch wahr in uns (1Joh 2,8; vgl. 1Joh 3,3; 4,17). Konnte Er etwa unrein werden, als Er mit ungewaschenen Füßen aß (Lk 7,44), einen Aussätzigen (Mt 8,3) oder Toten (Mk 5,41) berührte? Genauso unmöglich ist es, dass ein Gläubiger verunreinigt wird durch bestimmte Speisen (z.B. Schweinefleisch) oder Verhaltensweisen (z.B. Essen aus ungewaschenen Schüsseln). Eine äußerliche zeremonielle Verunreinigung kann seine innerliche Reinheit nicht wegnehmen. Das sagt der Herr auch selbst deutlich: „Es gibt nichts, was von außerhalb des Menschen in ihn eingeht, das ihn verunreinigen kann, sondern was von ihm ausgeht, ist es, was den Menschen verunreinigt“ (Mk 7,15; vgl. Mt 15,10-20; Lk 6,40-45; 11,34-44). Und dem Petrus wurde gesagt: „Was Gott gereinigt hat, halte du nicht für gemein“ Apg 10,15).

Dass die Gläubigen vom Gesetz freigemacht worden sind, hat vor allem Bezug auf die Zehn Gebote, die dazu dienten, die Sünde zu erkennen und die Übertretung überströmen zu lassen (Röm 5,13.20; 7,7.8.13; Gal 3,19; 1Tim 1,8.9).  Aber der Gläubige ist gemäß dem Beschluss von Apostelgeschichte 15 auch von allen zeremoniellen Gesetzen befreit, die in Israel galten. Die einzigen Ausnahmen sind die, dass der Gläubige sich von den Verunreinigungen der Götzen und von der Hurerei und vom Erstickten und vom Blut enthalten soll (Apg 15,20), aber dabei handelt es sich auch nicht um spezifische Verordnungen für Israel, sondern um allgemeingültige Grundsätze der Schöpfungsordnung Gottes. Die zeremoniellen Gebräuche sind dort, wo die Wirklichkeit gekannt wird, nutzlos (Kol 2,16.17.20-23). Das Gesetz war nur ein Schatten (Heb 10,1), die Wirklichkeit aber ist Christi.

Man darf den Text nicht missbrauchen! Hier steht nicht, dass alles rein ist, was nach Ansicht des Reinen rein ist, sondern dass es für den Reinen rein ist; damit ist der Gebrauch selbst gemeint. Das bedeutet: An sich gibt es keine bestimmten Dinge, die den Gläubigen nach gewissen Gesetzen verunreinigen, was aber durchaus nicht heißt, dass wir alles verwenden könnten! Wir sollen unsere Freiheit nicht zu einem Anlass für das Fleisch gebrauchen (Gal 5,13), denn wir haben die Freiheit nicht zu einem Deckmantel der Bosheit, sondern als Knechte Gottes (1Pet 2,16)! Das macht alles aus. Der Reine freut sich ausschließlich über das Reine, und obwohl alle Dinge an sich rein sind, wird er nur dann von ihnen Gebrauch machen, wenn es nützlich und erbaulich ist (1Kor 10,23), kein Anstoß für den Bruder (Röm 14,14-21!), aus Glauben (Röm 14,23) und vor allem zur Ehre Gottes (Röm 14,6-8; 1Kor 10,31; Kol 3,23.24). Obwohl also an sich nichts unrein ist, kann es uns bei verkehrtem Gebrauch (nämlich wenn der Herr es nicht möchte), der aus einem verkehrten geistlichen Zustand hervorgeht, zur Sünde sein.

Für den Verunreinigten und Ungläubigen jedoch [ist] nichts rein

Bei den Verunreinigten und Ungläubigen (was hier vor allem auf die jüdischen Verführer abzielt) ist alles umgekehrt. Der Unreine ersetzt die innerliche Reinheit des Herzens (die allein alle Dinge rein macht) durch Verordnungen in Bezug auf sein äußeres Verhalten. Er macht das sogar gerne, denn indem er bestimmte Dinge außerhalb von sich selbst unrein nennt, kann er seine eigene innerliche Unreinheit vergessen. Chrysostomos schrieb: „Wenn die Seele unrein ist, denkt sie, dass alles unrein ist.“ Aber es nützt dem Unreinen nichts, wenn er sich und anderen etwas vortäuscht. Er ist innerlich völlig verunreinigt, so dass selbst das, was nach zeremoniellen Gesetzen rein ist, durch ihn unrein wird. Sein unreiner Mund, der eine böse Sprache spricht (Röm 3,10-18; Jak 3,10-12), macht auch reine Speisen unrein (vgl. Mt 15,18-20). Für ihn ist nichts rein. Er braucht sich nicht zurückzuhalten, weil er nicht unreiner wird, wenn er nach seinem Lebensgrundsatz – nämlich zu übertreten – lebt, denn alles, was er tut oder denkt, ist unrein, obwohl er sich einbildet, durch die Einhaltung bestimmter Zeremonien Gott zu gefallen (Lk 11,39-44). Alles, was an ihnen noch schön aussieht, ist in den Augen Gottes ein Gräuel (Spr 15,8; 21,4). Selbst das Edelste in ihm, sein Verstand und sein Gewissen, ist verunreinigt.

Sondern sowohl ihr Verstand als auch ihr Gewissen ist verunreinigt

Das Wort für „Verstand“ (noes) wird so übersetzt, wenn es „Kennen“ und „Verstehen“ ausdrückt (z.B. Lk 24,45: „Verständnis“), aber mit „Sinn“ wiedergegeben, wenn es Entscheidungen oder Absichten ausdrückt (z.B. 1Kor 2,16), und durch „Gesinnung“ übersetzt, wenn es sittliches Empfinden zum Ausdruck bringen soll (z.B. Röm 14,5; in der CSV-Edition auch hier mit „Sinn“ wiedergegeben; mit „Gesinnung“ übersetzt in Eph 4,23; 2Thes 2,2; 1Tim 6,5; 2Tim 3,8; Tit 1,15). Als Teil des Ungläubigen ist es stets verfinstert und verdorben (Kol 2,18; 2Tim 3,8; Röm 1,28; Eph 4,17; 1Tim 6,5) und muss deshalb erneuert werden (Röm 12,2; Eph 4,23). Das Gewissen (suneidèsis, wörtlich „Mitwissen“) ist das, was „weiß“ und unterscheidet, was die Beweggründe des Menschen sind, sowie beurteilt, was er tut und denkt (vgl. Röm 2,15). Aber gerade von denen, die sich (wie hier) mit verkehrten Belehrungen abgeben und anderen Gebote auferlegen, wird gesagt, dass das Gewissen mit einem Brenneisen gehärtet ist (1Tim 4,2). Es muss gereinigt werden (Heb 9,14; 10,22). Besonders in den Hirtenbriefen wird auf ein gutes und reines Gewissen hingewiesen (1Tim 1,5.19; 3,9; 2Tim 1,3).

Sie geben vor, Gott* zu kennen

Das Schlimme ist, dass sie den anderen Gebote auferlegen, wobei sie selbst völlig unrein sind (vgl. Mt 23,4; Lk 11,46), äußerlich allerdings fromm auftreten. Sie geben vor, Gott (hier ohne Artikel, was damit das Wesen, den Charakter Gottes ausdrückt) zu kennen (oida = „mit Einsicht kennen“, „verstehen“), verleugnen Ihn aber mit (oder: in) ihren Werken. Was für ein Gegensatz: mit Worten vorgeben, dieselbe Person zu kennen (erkennen), und mit den Werken verleugnen (verkennen). Das sind die Menschen, die eine Form der Gottseligkeit haben, deren Kraft aber verleugnen (2Tim 3,5). Besonders in den letzten (das heißt unseren) Tagen würde es viele solche Menschen geben (2Tim 3,1), aber auch schon damals wirkte das Geheimnis der Gesetzlosigkeit bereits (2Thes 2,7). Sie geben vor, Gott zu kennen – in gewissem Sinn kennen sie Gott, so wie alle Völker Gott in gewissem Sinn kennen (Röm 1,21) –, aber dann ist es ginosko, „kennenlernen“; „erfahren“; das heißt durch die Werke Gottes in der Schöpfung (Röm 1,20) und durch die Überlieferungen, die unter den Nachkommen Noahs verbreitet waren. Dadurch kann sich kein Mensch des Bewusstseins entziehen, dass es Gott gibt, das heißt als Person (deshalb steht in Röm 1,21 der Artikel vor Gott). Aber wenn es darum geht, Einsicht und Verständnis in Bezug auf das Wesen Gottes zu haben (hier steht oida und Gott ohne Artikel), gilt, dass die Heidenvölker Gott nicht „kennen“ (Gal 4,8; 2Thes 1,8), denn den Charakter Gottes kann man erstens nur durch eine besondere Offenbarung (die von Gott ausgeht) verstehen und zweitens dadurch, dass man das Evangelium annimmt (das ist unsere Seite), so dass man den Heiligen Geist empfängt.

Aber mit den Werken verleugnen sie [ihn]

Die Betrüger in unserem Vers behaupten jetzt, das Wesen Gottes zu verstehen, zeigen aber durch ihre bösen Werke (vgl. Tit 1,10.11), dass sie überhaupt kein Verständnis davon haben, wer Gott ist. Diesen Tätern der Gesetzlosigkeit wird der Herr einmal sagen müssen: „Ich habe euch niemals gekannt“ (Mt 7,23; ginosko, d.h.: „Ich bin niemals mit euch in Verbindung gekommen“), und: „Ich kenne euch nicht“ (Mt 25,12; oida, d.h.: „Ich weiß nicht, wer ihr seid, ihr steht außerhalb meines Blickfelds“). Sie sind „abscheulich“, was meistens mit „grauenvoll“ übersetzt wird. Es sind Menschen, die tun, was ein Gräuel in den Augen Gottes ist (vgl. Hiob 15,16; Ps 14,1.3; Lk 16,15; Off 21,8.27). Außerdem sind sie ungehorsam (vgl. Tit 3,3), was dem „widerspenstig“ in Titus 1,10 entspricht. Johannes sagt deutlich: Wenn jemand von Gott sagt: „Ich kenne ihn“ (ginosko), aber seine Gebote nicht hält, ist er ein Lügner und in diesem ist die Wahrheit nicht (1Joh 2,3-6).

Sind abscheulich und ungehorsam

Das Bekenntnis eines Menschen ist wertlos, wenn es nicht mit guten Werken untermauert wird. Gott möchte Wahrheit im Inneren. Für Ihn ist es so, dass eine erneuerte Gesinnung auch ein Gefallen am Guten hervorbringt sowie eine Abscheu des Bösen, während aus einem ungereinigten, verdorbenen Herzen nur böse Werke oder höchstens tote Werke hervorkommen können (Heb 6,1; 9,14). Wie kann beispielsweise eine Person aufgrund ihres eigenen Bekenntnisses jemals zum Tisch des Herrn zugelassen werden, ohne dass dieses Bekenntnis dadurch überprüft wird, indem nach Frucht gesucht wird, die der Buße würdig ist (Mt 3,8)? Denn an der Frucht wird der Baum erkannt. Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz Gutes hervor und der schlechte das Gegenteil (Mt 12,33-35). Man sammelt von Dornen keine Feigen noch liest man von einem Dornbusch eine Traube (Lk 6,43-45). Der Glaube an sich ist, wenn er keine Werke hat, tot (Jak 2,17.18). Die Quelle sprudelt doch nicht aus derselben Öffnung das Süße und das Bittere? Kann etwa ein Feigenbaum Oliven hervorbringen oder ein Weinstock Feigen? Ebenso wenig kann eine salzige Quelle süßes Wasser geben. Lasst den Weisen deshalb seine Werke aus einem guten Wandel zeigen (Jak 3,11-13). Aber bei diesen abscheulichen Personen fehlen nicht nur die Werke, sondern sie sind nicht einmal zu irgendeinem guten Werk imstande bzw. sie sind zu jedem guten Werk „unbewährt“ – wie dieses von Paulus oft verwendete Wort meistens übersetzt wird. Es ist das Gegenteil des verwandten Wortes „bewährt“ (vgl. 2Kor 13,5-7). Es geht um diejenigen, die sich gegen die Wahrheit stellen (vgl. Tit 1,14), Menschen, verdorben am Verstand (vgl. Tit 1,15) und, was den Glauben angeht, unbewährt (vgl. Tit 1,13.16; 2Tim 3,8). Auch zur Zeit Hesekiels gab es Menschen, die fromm auftraten, Interesse am Wort des Herrn vortäuschten, aber nicht danach handelten. In ihrem Mund befanden sich angenehme Worte, aber ihr Herz ging Bosheit nach (Hes 33,30-33).

Und zu jedem guten Werk ungeeignet

Wenn ein Mensch für gute Werke geeignet sein möchte, muss er dazu erst durch Christus von den bösen und toten Werken gereinigt werden (vgl. Tit 2,14; Heb 9,14) und muss in Ihm geschaffen werden zu guten Werken, die Gott zuvorbereitet hat, damit wir in ihnen wandeln sollen (Eph 2,10). Darüber hinaus muss er jedoch als Gläubiger auch praktisch von der Ungerechtigkeit abstehen, ja sich wegreinigen von allen, die das nicht tun (2Tim 2,21). Nur dann kann er ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu jedem guten Werk bereitet. Weiter ist es notwendig, sich ständig durch die Heilige Schrift überführen und unterweisen zu lassen, damit der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werk völlig geschickt (2Tim 3,16.17), kurzum: damit man im Glauben und in der Lehre gesund ist. Wir werden den Formulierungen „gutes Werk“ bzw. „gute Werke“ noch mehrfach in diesem Brief begegnen und dann näher besprechen. 


De brief van Paulus aan Titus,
Winschoten (Uit het Woord der Waarheid) o.J. (ca. 1970)

Übersetzung: Stephan Keune

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Anmerkungen

[1] Ein Sternchen nach dem Wort Gott bedeutet, dass das entsprechende Wort im Grundtext keinen Artikel hat.

[2] Anm. d. Red.: Die NGB-Übersetzung ist eine Übersetzung der Niederländischen Bibelgesellschaft aus dem Jahr 1951.

[3] Anm. d. Übs.: Im holländischen Original steht „Rentmeister“ statt „Verwalter“.

[4] Anm. d. Übs.: Vergleichbar mit dem deutschen Wort „türken“, das für „fälschen“ bzw. „vortäuschen“ steht.

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