Das verlorene Schaf
Eine Begebenheit aus dem Leben J.N. Darbys

John Nelson Darby

© CLV, online seit: 06.10.2001, aktualisiert: 19.04.2019

Es ist schwierig, den folgenden Bericht von J.N. Darby einzuordnen. Eine Ausgabe betitelte ihn als „eine Begebenheit aus den frühen Jahren J.N. Darbys“. Da es hier um Kerry und nicht Calary geht, fand sie wahrscheinlich nach Darbys dortiger Zeit statt. Andererseits scheint das, was er dem Jungen über seine Person sagt, darauf hinzuweisen, da er sich ihm als Priester vorstellte. Der allgemeine „geistliche“ Eindruck der Geschichte lässt auf die Zeit schließen, nachdem Darby Befreiung erfahren und volle Heilsgewissheit hatte.

Gegen Ende eines kalten Februartages wurde Darby in seiner Arbeit durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Ein armer Mann war zu ihm gekommen, den er nie zuvor gesehen hatte. Er stellte sich vor und bat um Verzeihung für sein Kommen zu solch später Stunde, aber er hatte einen Sohn, der krank war, und er befürchtete, dass er im Sterben lag. Darby stand auf und folgte dem anderen bereitwillig auf dessen Bitte hin, ob er den Jungen besuchen könnte. Darby schreibt:

Nach mehr als einer Stunde mühevollen Marschierens (denn die Straßen führten an manchen Stellen über steile Hügel und waren an anderen Stellen wegen der tiefen Sümpfe kaum passierbar) trat ich in die kleine Hütte. Ich schaute umher und bemerkte zunächst kein Anzeichen irgendeines Bewohners, ausgenommen eine alte Frau, die, über die Glut eines Torffeuers gebückt, dasaß. Sie erhob sich bei meinem Eintreten und bot mir mit der natürlichen Höflichkeit armer Iren den niedrigen Stuhl oder vielmehr Hocker an, auf dem sie gesessen hatte.

Ich dankte ihr und wandte mich dem Zweck meines Besuches zu, als ich in einer Ecke der Hütte einen Strohhaufen entdeckte, auf dem der arme Leidende lag. Irgendeine dünne Decke, wahrscheinlich seine eigene Kleidung, war über ihn hingebreitet, doch konnte ich in dieser ärmlichen Hütte weder Bett noch Bettzeug sehen.

Ich näherte mich und sah einen Jungen von etwa siebzehn oder achtzehn Jahren in einem offensichtlichen Zustand extremer Schmerzen und Auszehrung und, wie ich fürchtete, im letzten Stadium der Schwindsucht. Seine Augen waren geschlossen, aber er öffnete sie, als ich näher trat und starrte mich an mit einer Art wilder Verwunderung, wie ein erschrecktes Tier.

Ich sagte ihm so ruhig wie möglich, wer ich war und wozu ich gekommen war und stellte ihm einige äußerst einfache Fragen bezüglich seiner Hoffnung auf Errettung. Er antwortete nichts, ihm schien völlig unklar, was ich meinte.

Als ich weiter nachfragte und freundlich und liebevoll zu ihm redete, schaute er auf, und aus den wenigen Worten, die er äußerte, erfuhr ich, dass er etwas von Gott und einem zukünftigen Gericht gehört, aber niemals lesen gelernt hatte. Die Heilige Schrift war ihm ein Buch mit sieben Siegeln und infolgedessen wusste er überhaupt nichts über den Weg der Errettung, wie er uns im Evangelium offenbart ist. Seine Kenntnis über dieses Thema glich wahrhaftig einem völlig unbeschriebenem Blatt.

Mich erfasste Enttäuschung und fast Verzweiflung. Hier war ein Mitgeschöpf, dessen unsterbliche Seele – die offensichtlich vor dem Tor der Ewigkeit stand – für ewig gerettet werden müsste oder für ewig verloren sein würde; und er lag jetzt vor mir, die Hand des Todes griff nach ihm; nicht ein Augenblick war zu verlieren – und was sollte ich tun? Wie sollte ich es anfangen, ihm, sozusagen um die elfte Stunde, die einfachsten Grundlagen des Christentums zu vermitteln?

Ich hatte kaum je zuvor meinen Mut so sehr sinken gespürt. Ich konnte nichts tun, das wusste ich sehr wohl, aber andererseits konnte Gott alles tun; so fasste ich mir ein Herz und flehte zu meinem himmlischen Vater, mich um Christi willen in dieser äußerst schwierigen und notvollen Situation zu leiten und mir durch Seinen Geist der Weisheit einen Weg zu eröffnen, die Frohe Botschaft der Errettung so zu verdeutlichen, dass sie von diesem armen, in der Finsternis irrenden Wanderer verstanden werden konnte.

Ich schwieg einige Augenblicke, während ich innerlich betete und mit tiefer Sorge auf die mitleiderregende Gestalt vor mir blickte. Mir kam der Gedanke, dass ich vielleicht herauszufinden versuchen sollte, wie es um seine Kenntnis in anderen Dingen bestellt war und ob nicht einigermaßen Hoffnung bestände, dass er mich verstehen würde, wenn ich damit begänne (wie ich mich gerade anschickte), ihm die Evangeliumsbotschaft der Errettung aufzutun. Ich schaute ihn mit einem Blick voller Mitleid an – was auch mein aufrichtiges inneres Gefühl war – und hatte den Eindruck, dass er diesen Blick wahrnahm, denn er wurde mir gegenüber ganz sanft, als ich sagte: „Mein armer Junge, du bist sehr krank, ich fürchte, du hast große Schmerzen!“

„Ja, ich habe eine schlimme Erkältung; der Husten nimmt mir den Atem und tut mir furchtbar weh.“

„Hast du diesen Husten schon lange?“ fragte ich.

„O ja, schon sehr lange; fast ein Jahr ist es jetzt.“

„Und wie hast du ihn bekommen? Ein Junge aus Kerry, hätte ich gedacht, ist doch abgehärtet und diese kalte Luft gewohnt!“

„Ach“, antwortete er, „das war ich auch, bis zu jener schrecklichen Nacht – es war etwa um diese Zeit letztes Jahr –, als sich eines der Schafe verirrte. Mein Vater hält auf den Bergen ein paar Schafe, das ist unser Lebensunterhalt. Als wir sie jenen Abend zählten, fehlte eines, und er schickte mich, es zu suchen.“

„Zweifellos“, antwortete ich, „hast du den Wechsel zwischen der Wärme des Torffeuers in dieser engen kleinen Hütte und dem kalten Bergwind gespürt.“

„O ja, und ob! Es lag Schnee, und der Wind schnitt mir durch und durch; aber ich kümmerte mich nicht allzu sehr darum, ich war so darauf bedacht, Vaters Schaf zu finden.“

„Und hast du’s gefunden?“, fragte ich mit erhöhter Aufmerksamkeit.

„O ja, ich musste einen langen, beschwerlichen Weg zurücklegen, aber ich blieb nicht stehen, bis ich es gefunden hatte.“

„Und wie hast du es nach Hause gebracht? Ich kann mir gut vorstellen, dass du auch damit Mühe gehabt hast. War es bereit, dir zurückzufolgen?“

„Nun, ich wollte es ihm nicht zutrauen, und außerdem war es völlig erschöpft und todmüde, deshalb legte ich es auf meine Schultern und trug es so nach Hause.“

„Und waren zu Hause nicht alle froh, dich wiederzusehen, als du mit dem Schaf zurückkamst?“

„Aber gewiss waren sie es“, antwortete er. „Vater und Mutter und die Leute in der Nähe, die von unserem Verlust gehört hatten, alle kamen sie am nächsten Morgen, um sich nach dem Schaf zu erkundigen, denn die Nachbarn sind in solchen Sachen mächtig freundlich zueinander. Und es tat ihnen auch leid zu erfahren, dass ich die ganze dunkle Nacht draußen sein musste; es war Morgen, bevor ich nach Hause kam, und von all dem bekam ich diese Erkältung. Mutter sagt, es wird nicht mehr besser werden, Gott weiß es am besten; auf jeden Fall tat ich mein Bestes, um das Schaf zu retten.“

„Wie wunderbar!“, dachte ich, „hier ist die ganze Geschichte des Evangeliums. Das Schaf ist verloren, der Vater sendet seinen Sohn, um es zu suchen und zurückzubringen. Der Sohn geht bereitwillig, erleidet alles, ohne sich zu beklagen, und opfert letztendlich sein Leben, um das Schaf zu finden, und als er es gefunden hat, trägt er es auf seinen Schultern nach Hause zur Herde und freut sich mit seinen Freunden und Nachbarn über das Schaf, das verloren war, aber wiedergefunden wurde.“ Mein Gebet war erhört, mein Weg klargemacht und durch die Gnade Gottes machte ich mir diese glückliche Fügung zunutze.

Ich erklärte diesem armen sterbenden Jungen den Plan der Errettung und benutzte dazu seine eigene einfache und bewegende Geschichte. Ich las ihm die paar Verse in Lukas 15 vor, wo die Sorge des Hirten für das verirrte Schaf so wunderbar ausgedrückt ist, und er begriff sofort die Gemeinsamkeit und folgte mir mit größter Anteilnahme, als ich ihm die volle Bedeutung des Gleichnisses erklärte.

Der Herr öffnete in Seiner Barmherzigkeit nicht nur sein Verständnis, sondern auch sein Herz, um darin die besprochenen Dinge aufzunehmen. Er selbst war das verlorene Schaf, Jesus Christus der Gute Hirte, der vom Vater gesandt worden war, ihn zu suchen, und der alle die Freuden der himmlischen Herrlichkeit dieses Vaters verlassen hatte, um auf die Erde zu kommen und nach ihm und anderen, gleich ihm Verlorenen, zu suchen; und wie der arme Junge ohne Murren den eisigen Schneesturm und den schneidenden Wind ertragen hatte, so hat der herrliche Heiland den grausamen Widerspruch der Sünder gegen Sich erduldet und den bitteren Hohn und den Spott, womit man Ihn überschüttete, ohne Seinen Mund auch nur zu einem einzigen Wort der Klage zu öffnen, und hat schließlich Sein kostbares Leben niedergelegt, damit wir vom Verderben errettet und sicher in unser ewiges Zuhause gebracht werden könnten. Ebenso traut Er es Seinen Geliebten auch nicht zu, dass sie, wenn gerettet, den gefahrvollen Weg alleine gehen könnten, sondern trägt sie freudig auf Seinen Schultern zur himmlischen Herde.

Mein armer kranker Junge schien alles in sich aufzusaugen. Er nahm alles auf, er verstand alles. Ich habe niemals einen klareren Beweis der Kraft des Geistes Gottes in der Anwendung des Wortes Gottes erlebt.

Er überlebte unsere erste Begegnung nur um einige Tage. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, ihm einen anderen Teil der Schrift vorzulesen oder auszulegen. Manchmal konnten wir nichts hören als ein ersticktes, reißendes Husten; manchmal schlief er eine Weile tief, aber wann immer er zu denken und zu hören in der Lage war, waren es diese Verse aus Lukas 15, die ihm Frieden und Ermunterung schenkten. Er nahm Christus als seinen Erretter an, er betete ernstlich, wie das verlorene Schaf in den Armen des himmlischen Hirten nach Hause getragen zu werden. Er starb ergeben, friedevoll, fast jubelnd, mit dem Namen „Jesus, mein Heiland und mein Hirte“ als Letztes auf seinen Lippen.

„Denn der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist“ (Lk 19,10).


Aus dem Buch John Nelson Darby und die Anfänge einer Bewegung
von Max Weremchuk, Bielefeld (CLV) 1988, S. 236–239

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