Das Mitgefühl Jesu
Am Beispiel der Auferweckung des Lazarus

Charles Henry Mackintosh

© CSV, online seit: 04.03.2006, aktualisiert: 28.12.2022

Leitverse: Johannes 11

In Johannes 11 wird uns ein wunderbares Bild des Herrn Jesus und seines Weges hier auf der Erde gezeichnet. Es gewährt uns einen tiefen Einblick in das Leben des Menschen Christus Jesus.

Joh 11,4: Als aber Jesus es hörte, sprach er: Diese Krankheit ist nicht zum Tod, sondern um der Herrlichkeit Gottes willen, damit der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde.

Ich möchte hier bemerken, dass das Studium des Weges, den der Sohn Gottes hier ging, nicht allein unser Herz mit Freude und Bewunderung erfüllt, sondern dass wir dadurch auch innerlich genährt, gekräftigt und gesegnet werden. Drei kostbare Tatsachen möchte ich zu bedenken geben.

Die Verherrlichung Gottes

Zu aller Zeit wurde der Herr Jesus in seinem Leben durch das echte und tiefe Verlangen bestimmt, seinen Vater in den Himmeln zu verherrlichen. Das war es, was Ihn von Augenblick zu Augenblick leitete. Er war der einzige Mensch, der je auf der Erde lebte, der diese eine Sache als Beweggrund für sein ganzes Leben vor sich sah – die Verherrlichung Gottes. Nicht einen Augenblick machte Ihn persönliche Zuneigung schwankend, hielt Ihn persönliche Furcht zurück. Nein, die Verherrlichung Gottes war das beherrschende Element auf seinem ganzen Weg.

Und in diesem Fall? Empfand Jesus keine Liebe für die besorgten Schwestern? Wusste Er um ihre Not und blieb trotzdem „zwei Tage an dem Ort, wo er war“ (Joh 11,6)? Ja. Er kannte ihre Notlage, und Er liebte sie. Warum eilte Er dann nicht sogleich an ihre Seite? So handeln wir, geliebte Freunde. Wir erfahren von der Krankheit eines lieben Menschen und ergreifen die nächste sich uns bietende Gelegenheit, um so schnell wie möglich zu ihm zu kommen. Doch dem Herzen des Sohnes lag die Verherrlichung seines Vaters am nächsten. Hatte der Herr ihre Not vergessen? Hatte sich seine Liebe zu ihnen verändert? Nein. Seine Zuneigung zu diesen geprüften Geschwistern war nicht abgekühlt; doch der rechte Augenblick zum Handeln war für Ihn noch nicht gekommen.

Ja, Jesus hatte Mitleid mit ihnen, Er liebte sie, empfand mit ihnen, wie nur Er allein dazu in der Lage ist. Und doch wendeten sich die Dinge in diesem trauten Heim zum Schlechteren, und der Meister kam nicht. Was empfanden ihre Herzen? Fragten sie wie die Jünger im Boot: „Lehrer, liegt dir nichts daran, dass wir umkommen?“ (Mk 4,38). Wagten die Jünger wirklich, das zum Meister zu sagen: „Liegt dir nichts daran …“? Wie wenig verstanden sie ihren Herrn, dass sie so sprechen konnten! Umkommen – mit dem Herrn Jesus an Bord? Unmöglich!

Liebe Geschwister, kennen nicht auch wir diese Sprache: „Liegt dir nichts daran …“? Wenn die Umstände dunkler zu werden drohen, beginnen wir sogleich, die Liebe dessen in Frage zu stellen, der die Umstände so hat kommen lassen. Doch bedenken wir stets: Was des Vaters Hand tut, muss stets im Licht der Liebe betrachtet werden, die in seinem Herzen ist. Ergreife das im Glauben. Versuche nie, seine Liebe anhand der äußeren Umstände zu deuten. Wie oft schickt uns der Vater Züchtigung, Sorge, Verlust, Not! Wie leicht könnte Er mich aus dem allen herausnehmen, in einem Augenblick! Er hat die Macht dazu, und doch lässt Er mich dort. Ach, möge Er uns helfen, gerade in Tagen der Prüfung ruhig auf Ihn zu vertrauen und nicht zu versuchen, seine Liebe an den Umständen abzulesen, sondern diese, was und wie immer sie auch sein mögen, als Ausdruck seiner Liebe zu verstehen! Das gibt wunderbare Kraft. Man kennt sein Herz der Liebe und hegt keinen Zweifel am Tun seiner Hand.

In ihrem schweren Kummer fliehen die Schwestern sogleich zu dem Meister. Für sie war jetzt niemand Ihm gleich. Kennen wir das nicht auch: vor Ihm den Kummer unseres Herzens, die Schwierigkeit des Weges ausschütten? Sie lassen Ihm eine Botschaft über ihre Not zukommen, aber Er eilt ihnen nicht zu Hilfe. Doch ist alles gut. Er hat sie nicht vergessen, hat nicht aufgehört, für sie besorgt zu sein.

Wenn wir unsere Not dem Herrn Jesus sagen, können wir in dem Bewusstsein ruhig sein, dass Er für uns alles Notwendige unternehmen wird. Hast du Ihm deine Schwierigkeit gebracht? Dann lasse sie bei Ihm. Das ist alles. Wie einfach! Haben wir nicht alle schon einmal ein kleines Kind gesehen, das irgendeinen kleinen Schatz der Mutter zum Aufbewahren brachte, ihn aber unruhig nach kurzer Zeit wieder selbst in die Hände nahm? Machen wir das nicht häufig genauso? Wir haben dem Herrn unsere Not gesagt und dann laden wir sie uns in der Ruhelosigkeit unseres Kleinglaubens wieder selbst auf. Krankheit, Sorge, Not, Verlust kommen über uns. Vielleicht quält uns ein Problem in der Familie. Die Sache geht schon so lange und es scheint, als habe der Meister kein Auge darauf. Hast du es dem Herrn Jesus gesagt? Dann lass es bei Ihm in glücklicher Zuversicht. Martha und Maria fanden zu diesem Punkt, und gewiss ist unser Gott des unerschütterlichen Vertrauens unserer Herzen wert. Er tut alle Dinge recht.

Der Vater mag es in seinem Handeln mit uns für gut finden, dass die Erprobung, der Druck auf Jahre hin bestehen bleiben, weil Er in seiner Weisheit weiß, dass es genau das ist, was sein Kind braucht. Fragst du nach einem Beispiel? Nimm den Dorn für das Fleisch, der dem Apostel Paulus so viel Not bereitete (2Kor 12,1-10). „Was“, sagst du, „der Apostel Paulus brauchte etwas, was ihn im Gleichgewicht hielt?“ Ja. Er war im dritten Himmel gewesen, hatte dort Worte gehört, die in einer menschlichen Sprache auszudrücken unmöglich und nicht gestattet war. Und deswegen benötigte er ein Gegengewicht, etwas, was das Fleisch im Zaum hielt. Vielleicht denkst du: „Jemand, der so hoch erhoben worden ist und so herrliche Worte gehört hat, wird doch sicher fortan bewahrt bleiben.“ Nein. Satan würde diese wunderbaren Mitteilungen mit dem Ziel benutzen, dass sich das Fleisch erhebt und brüstet. Und so gestattete Gott dem Engel Satans, Paulus mit Fäusten zu schlagen, „damit ich mich nicht überhebe“ (2Kor 12,7). Dreimal flehte der Apostel zum Herrn, dass er von ihm abstehen möge.

„Aber konnte er wirklich in Gemeinschaft mit dem Herrn gewesen sein, wenn er etwas von Ihm erbat, was der Herr zu gewähren nicht willens war?“ Das ist nicht der Punkt für uns. Lasst uns unsere Anliegen vor Ihn hinlegen, und sind sie recht, werden wir Befreiung erfahren. Sind sie nicht in Übereinstimmung mit den Gedanken des Herrn, wie im Fall des Apostels, werden wir inmitten der Prüfung etwas unendlich viel Besseres bekommen – seine Gnade, die uns befähigt, alles zu seiner Verherrlichung zu ertragen.

Aber vielleicht sagst du: „Diese geistliche Höhe ist mir zu hoch, ich werde sie nie erreichen. Und wie kann ich Ihn in meinen alltäglichen Pflichten verherrlichen, die doch nur als häusliche Plackerei von Montagmorgen bis Samstagabend erscheinen?“ Nein, Er hat dir etwas weit Besseres gegeben als eine häusliche Plackerei: Er selbst hat dich an diesen Platz gestellt, wo du bist, und dieser Platz ist nicht zu gewöhnlich, als dass du seinen Namen dort nicht verherrlichen könntest. Was sagt der Heilige Geist? „Ob ihr nun esst oder trinkt oder irgendetwas tut, tut alles zur Ehre Gottes“ (1Kor 10,31). Kann etwas gewöhnlicher sein als essen und trinken? Gewiss nicht. Und kann ich das zu seiner Verherrlichung tun? Ja. Zwei Personen mögen an demselben Tisch sitzen. Die eine isst, um den Appetit und die Esslust zu befriedigen, die andere, um den Körper für den Dienst des Herrn zu erhalten. Ob wir daheim oder im Beruf oder irgendwo sind, wir können und sollen uns überall so verhalten, dass sein Name geehrt und verherrlicht wird.

Joh 11,7.8: Danach spricht er dann zu den Jüngern: Lasst uns wieder nach Judäa gehen! Die Jünger sagen zu ihm: Rabbi, eben suchten die Juden dich zu steinigen, und wiederum gehst du dahin?

Ja; so wenig, wie Er zuvor darin einwilligte, dass Ihn persönliche Zuneigung nach Bethanien führte, ebenso wenig will Er jetzt zulassen, dass Ihn Furcht um die persönliche Sicherheit zurückhält. Für Ihn ist alles eine Frage der Herrlichkeit Gottes. Der Gedanke an persönliche Gefahr konnte Ihn nicht abhalten, das zu tun, „was seines Vaters ist“. Und jetzt ist der Augenblick gekommen, in dem die Herrlichkeit Gottes hervorstrahlen soll – durch den, der nicht sich selbst gefiel.

Das tiefe Mitempfinden des Herzens Jesu

Als Nächstes möchte ich auf das tiefe Mitempfinden des Herzens Jesu mit uns in all unseren Sorgen und Nöten hinweisen, durch die wir zu gehen haben. Sollten die Schwestern je für einen Augenblick die Liebe Jesu zu sich in Zweifel gezogen haben, wie wären sie jetzt durch die Seufzer und Tränen des Herrn beschämt worden!

Joh 11,35: Jesus vergoss Tränen.

Ich glaube, das ist einer der kürzesten Verse in der Bibel. Aber was drückt er aus! Er steht im Begriff, als „die Auferstehung und das Leben“ (Joh 11,25) zum Grab seines Freundes zu gehen; und während Er geht, weint Er. Welch zartes Mitempfinden, welche Gnade! Und Er ist auch heute derselbe. Gewiss, die Umstände sind verschieden, doch Er ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit (Heb 13,8).

Er „vergoss Tränen“. Wir sehen hier, dass Er wirklich eine menschliche Natur besaß. Ja, es war ein vollkommen menschliches Herz, das da mitfühlte. Er weinte wegen der Not und des Elends, das die Sünde in die Welt gebracht hatte. Und Er empfand es, wie kein anderer es vermochte. Seufzer und Tränen – wie zeigen sie uns die Liebe und Empfindsamkeit des Herzens unseres teuren Herrn! Ja, Er liebte diese geprüften Geschwister in Wahrheit, und sie erfuhren es. Auch wir werden es erleben, wenn wir im Herrn, in seiner Zartheit, Gnade und seinem Mitgefühl ruhen. Wie traurig jedoch, wenn Er Martha sagen musste:

Joh 11,40: Habe ich dir nicht gesagt, wenn du glaubest, so würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen?

Ungläubiges Herz, höre, zweifle nicht, und auch du wirst die Herrlichkeit Gottes sehen. Behindere nicht den Meister durch Unglauben.

Der Herr verbindet uns mit sich im Werk

Der dritte Punkt ist seine gnadenvolle Herablassung darin, dass Er sich mit uns in dem Werk verbindet, das Er jetzt in der Welt ausführt. Er tut nur das, was sie nicht vollbringen können. Er gestattet ihnen, den Stein wegzurollen. Sein Werk ist es, den Toten aufzuerwecken:

Joh 11,43: Lazarus, komm heraus!

Er steht am offenen Grab, Er ist die Offenbarung, der Ausdruck Gottes, und Gottes Herrlichkeit strahlt hervor durch seinen geliebten Sohn:

Joh 11,44: Jesus spricht zu ihnen: Macht ihn los und lasst ihn gehen!

Hier können sie wieder bei dem Werk mithelfen und können Lazarus von den Grabtüchern befreien, mit denen er an Händen und Füßen gebunden war. So erlaubt uns der Herr in Gnaden auch heute, in seinem Werk an geistlich Toten mitzuhelfen. Es ist wahr, Er allein kann das Wort reden, das den Toten zum Leben erweckt. Aber Er gestattet uns – gepriesen sei sein Name dafür! –, Er gestattet uns armen, schwachen Wesen, die durch seine Gnade errettet sind, hier oder dort ein Wort zu denen zu reden, die diese Errettung noch nicht erfahren haben. Es ist sein Wunsch, dass wir sie unter die Macht seines Wortes bringen, damit sie Segen empfangen. So dürfen wir ein wenig in unserem Maß in dem Werk mithelfen, das Er in der jetzigen Zeit vollführt.

Möge Er uns befähigen, im Glauben in diese wunderbaren Tatsachen einzutreten und sie in unser praktisches Leben hineinzunehmen, damit wir, was immer wir tun, alles zur Ehre Gottes tun, selbst die gewöhnlichsten Dinge des alltäglichen Lebens! Möge Er uns auch helfen, sein Mitempfinden mit uns in allen Umständen zu erfassen und zu verwirklichen! Und möge Er uns drittens darin beistehen, seine Mitarbeiter zu sein in der Zeit, die noch vor uns liegen mag!


Originaltitel: „Das Mitgefühl Jesu“
aus Ermunterung und Ermahnung, Jg. 45, 1991, S. 312–320

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