Das Lukasevangelium (11)
Kapitel 11

William Kelly

© J. Das, online seit: 08.11.2006, aktualisiert: 10.12.2020

Leitverse: Lukas 11

Einleitung

Ein zweiter Gesichtspunkt der Gnade folgt in Lukas 11. Es geht jetzt nicht um die allumfassende Bedeutung des Wortes Jesu, ebenso wenig um den Missbrauch des Gesetzes. Letzteres sahen wir nur zu deutlich in dem Gesetzesgelehrten, der belehrt werden musste, wer sein Nächster war, anstatt dass man ihn danach fragen konnte. Wir erfahren nun den Platz und den Wert des Gebets, welches auch an seiner Stelle bedeutsam ist. Die Reihenfolge hier ist lehrreich. Sicherlich muss ich zunächst von Gott etwas empfangen haben, bevor sich mein Herz zu Gott wenden kann. Er muss zuvor etwas mitteilen, nämlich Seine Offenbarung der Person Jesu. Ohne Sein Wort gibt es keinen Glauben (Röm 10). Sogar meine Gedanken über Jesus können für mich verderblich werden. Ja, ich bin ganz sicher, wenn es nur meine Gedanken über Jesus sind, dann müssen sie meine Seele verführen und ruinieren und für jeden anderen schädlich sein. Lukas gibt uns den wichtigen Hinweis, dass es nicht genügt, das Wort Jesu – und sei es zu Seinen Füßen – anzunehmen. Der Herr achtet darauf, dass die Jünger ihre Herzen vor Gott üben; und das wird auf verschiedene Weise gezeigt.

Herr, lehre uns beten

Zunächst wird uns das Gebet nach den Gedanken Jesu für die Jünger damals entsprechend ihren Bedürfnissen und ihrem Zustand beschrieben. Es ist ein sehr gesegnetes Gebet, welches die Anspielung des Matthäus auf das Tausendjährige Reich (Mt 6) weglässt und trotzdem all die allgemeinen und sittlichen Bitten beibehält. Danach besteht unser Herr darauf, dass das Gebet aufdringlich und mit Beharrlichkeit vorgebracht werden muss, und spricht von dem Segen, der mit ernstem Gebet vor Gott verbunden ist. Als Drittes, muss hinzugefügt werden, erwähnt der Herr die Gabe des Heiligen Geistes. Die Verknüpfung desselben mit diesem Gebet finden wir nur im Lukasevangelium. „Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisset, wie viel mehr wird der Vater, der vom Himmel ist, [nicht nur gute Dinge, sondern] den Heiligen Geist [die beste Gabe] geben denen, die ihn bitten!“ (Lk 11,13). Diese Gabe, um die der Herr die Jünger bitten lässt, ist die große kennzeichnende Segnung an die Nationen (Gal 3) und natürlich auch an die gläubigen Juden; denn der Heilige Geist war noch nicht mitgeteilt worden. Es gab in den Gläubigen schon gottgemäße Übungen des Herzens. Sie waren wirklich Jünger und aus Gott geboren. Sie sollten jedoch um die Gabe des Heiligen Geistes bitten. So war die Lage, solange sich der Herr Jesus auf der Erde aufhielt. Nach Johannes 14,16 wollte Er den Vater bitten, dass Er den Geist sende. Aber auch sie sollten zum Vater beten; denn dieser würde ganz gewiss – und Er hat es inzwischen ja auch getan – den Heiligen Geist denen geben, die nach Ihm verlangten.

Ich möchte keineswegs leugnen, dass es auch zur gegenwärtigen Zeit Fälle geben mag, die wir jedoch als unnormal bezeichnen müssen, wo Personen wirklich von ihrer Sünde überzeugt sind ohne den fest gegründeten Frieden, den die Gabe des Heiligen Geistes vermittelt. In unserem Kapitel gilt auf jeden Fall dieser Grundsatz noch; und darum ist es bezeichnend, wenn wir diese Wahrheit deutlich durch Lukas ausgedrückt finden. Er belehrt nämlich nicht über den bevorstehenden Wechsel der Haushaltung, sondern spricht von tiefgründigen sittlichen Prinzipien von großer Wichtigkeit. Diese Lehre wird zweifellos von der Entfaltung der großen Linien der göttlichen Gnade beeinflusst. So bewirkte das Herabsenden des Heiligen Geistes an Pfingsten eine gewaltige Änderung dieser Wahrheit. Ab jenem Augenblick sprach Seine Gegenwart von weit mehr als nur Seiner Gabe durch den himmlischen Vater an Einzelpersonen, die Ihn von Letzterem erbaten. Zudem war das Kommen des Geistes auch eine Antwort auf die Wertschätzung des Werkes Jesu durch den Vater. Daher kann ein Mensch sogleich in die ganze Segnung eingeführt werden. Bekehrung, Ruhe in der Erlösung durch Jesus und Empfang des Heiligen Geistes – alles kann praktisch im gleichen Augenblick sein Teil sein. Die Jünger wurden allerdings belehrt, um die Segnung zu bitten, bevor sie überhaupt gegeben worden war; denn sicherlich sehen wir hier diese beiden Wahrheiten noch getrennt: Sie waren schon durch den Heiligen Geist geboren, doch sie warteten noch auf die weitere Segnung, nämlich die Gabe des Geistes. Dieses Vorrecht sollte ihnen als Antwort auf ihr Gebet gewährt werden. Nichts könnte klarer sein. Es ist nicht gut, die Schrift abzuschwächen. Die evangelische Überlieferung ist genauso schädlich hinsichtlich der Lehre vom Heiligen Geist wie die päpstliche bezüglich des Werkes Christi und seiner herrlichen Ergebnisse für die Gläubigen schon hier auf der Erde. Wir müssen die Schriften in der Kraft Gottes verstehen.

Austreibung eines Dämons

Nach diesem vertrieb der Herr einen stummen Dämon aus einem Menschen, der nach dieser Befreiung sprechen konnte. Das fachte den Hass der Juden zur offenen Flamme an. Sie konnten die Kraft nicht leugnen; doch sie schrieben sie in ihrer Bosheit Satan zu. In ihren Augen oder nach ihren Worten war es nicht Gott, sondern Beelzebub, der Oberste der Teufel, der die Dämonen austrieb. Andere verlangten, um Ihn zu versuchen, ein Zeichen vom Himmel. Daraufhin breitete der Herr die schrecklichen Folgen dieses Unglaubens und ihrer Verderbtheit, indem sie die Kraft Gottes in Ihm dem Bösen zuschrieben, vor ihnen aus. Im Matthäusevangelium verkündete Er Sein Urteil über jenes Geschlecht der Juden (Mt 12,45). Hier steht auf breiterer Grundlage jeder Mensch vor Ihm, wer immer und wo immer er sein mag; denn es werden die sittlichen Gesichtspunkte ins Auge gefasst und nicht allein das Beispiel der Juden. Es wäre dumm und selbstmörderisch, wenn Satan seine eigenen Diener austriebe. Sogar die jüdischen Söhne verurteilten ihre Väter. In Wirklichkeit war das Reich Gottes zu ihnen gekommen; und sie erkannten es nicht, sondern verwarfen es mit Lästerung. Zuletzt fügte Er hinzu: „Wenn der unreine Geist von dem Menschen ausgefahren ist, so durchwandert er dürre Örter, Ruhe suchend; und da er sie nicht findet, spricht er: Ich will in mein Haus zurückkehren, von wo ich ausgegangen bin; und wenn er kommt, findet er es gekehrt und geschmückt. Dann geht er hin und nimmt sieben andere Geister mit, böser als er selbst, und sie gehen hinein und wohnen daselbst; und das Letzte jenes Menschen wird ärger als das Erste“ (Lk 11,24-26). Eine besondere Anwendung auf die Juden, wie im Matthäusevangelium, finden wir hier nicht. Es geht jetzt allgemein um den Menschen, wie er ist. Folglich fehlt der Satz: „Also wird es auch diesem bösen Geschlecht ergehen“ (Mt 12,45).

Auf das Bewahren des Wortes kommt es an

Obwohl der Herr sich praktisch immer noch mit einem Überrest beschäftigte und vor Ihm das Verderben jener Generation der Juden, die Christus verwarf, stand, stellt der Geist Gottes aus diesem Grund umso offensichtlicher und unleugbarer die besondere Absicht des Lukasevangeliums heraus. Wir könnten gut verstehen, wenn Lukas in seinen Belehrungen in diesem engen Blickfeld geblieben wäre. Nicht so! Lukas wurde inspiriert, die Reichweite der Worte des Herrn zu vergrößern bzw. das zu berichten, was jede Seele an jedem Ort und zu jeder Zeit anging. Er spricht von einem Menschen und dessen letzten Zustand, nachdem der unreine Geist ihn irgendwie für eine Zeit verlassen hatte, ohne das dieses zur Errettung oder zu einem positiv neuen Werk göttlicher Gnade geführt hätte. Das Wesen jener Person mochte sich geändert haben, wie die Menschen so sagen. Sie mag moralisch oder sogar religiös geworden sein. Aber ist sie von neuem geboren? Wenn nicht, umso trauriger! Wie viel schlimmer ist ihr letzter Zustand als ihr erster! Angenommen, jemand zeige Eigenschaften, die äußerst schön aussehen – wenn sie nicht aus der Offenbarung des Heiligen Geistes an die Seele und aus dem Leben Christi in ihr folgen, werden alle Vorrechte und Segnungen, die geringeren Ursprungs sind, ganz sicher versagen. Diesen Gedanken verfolgte der Herr später weiter, als eine Frau, nachdem sie Ihn gehört hatte, zu Ihm sagte: „Glückselig der Leib, der dich getragen, und die Brüste, die du gesogen hast!“ Sofort antwortete Er: „Ja, vielmehr glückselig, die das Wort Gottes hören und bewahren!“ (Lk 11,27.28). Das ist ganz offensichtlich dieselbe große sittliche Lehre: Kein natürliches Band zu Seiner Person kann verglichen werden mit dem Hören und Bewahren des Wortes Gottes. Diesem Gedanken ging der Herr noch weiter nach.

Fragten sie nach einem Zeichen? Damit bewiesen sie ihren Zustand und erniedrigten sich sittlich unter die Niniviten, die aufgrund der Predigt Jonas Buße getan hatten. Zog nicht der Bericht von der Weisheit Salomos eine Königin des Südens vom äußersten Ende der Erde herbei? Jona ist hier nicht ein Symbol von Tod und Auferstehung; es geht um sein Predigen. Was für ein Zeichen hatte die Königin von Scheba? Was für ein Zeichen hatten die Menschen Ninives? Jonas Predigt! Aber predigte Christus nicht auch? Jene Königin kam von weit her, um die Weisheit Salomos zu hören. Was war jedoch die Weisheit des Weisesten im Vergleich zur Weisheit Christi? War Er nicht die Weisheit und die Kraft Gottes (1Kor 1,24)? Nachdem sie alles gesehen und gehört hatten, fragten sie nach einem Zeichen! Solche Schuld hatten die Alten nicht auf sich geladen. Im Gegenteil, diese Heiden vom oder am Ende der Welt tadelten trotz ihrer massiven moralischen Finsternis den Unglauben Israels und bewiesen, dass Israels Verderben im Gericht durchaus gerecht sein wird.

Ein einfältiges Auge

Außerdem wandte sich unser Herr an das Gewissen. Das Licht, welches in Seiner Person gekommen war, leuchtete nicht im Verborgenen, sondern befand sich an seinem rechten Platz. Gott hatte dafür gesorgt. Aber auch Sehfähigkeit war erforderlich. Das Auge muss im richtigen Zustand sein. Ist es einfältig oder ist es böse? Falls es böse ist – wie hoffnungslos ist dann die Finsternis angesichts jenes Lichts! Wenn das Licht in Einfalt aufgenommen wird, genießen wir dasselbe. Obendrein scheint es umher und lässt keine Ecke finster. Die Pharisäer, die sich darüber wunderten, dass der Herr Seine Hände nicht vor dem Essen wusch, hörten von Ihm einen vernichtenden Tadel über ihre Sorge für äußere Reinheit. Er stellte ihre Gleichgültigkeit gegenüber innerer Verderbtheit, ihren Eifer für die Einzelheiten ihres Brauchtums, das Vergessen der großen sittlichen Verpflichtungen, ihren Stolz und ihre Heuchelei bloß. Als einer der Gesetzesgelehrten sich beschwerte, dass der Herr auch sie mit Seinen Worten tadelte, sprach Er ebenfalls über sie Wehruf auf Wehruf aus. Wenn man sich unbefugt und ohne Glauben mit dem Gesetz und den heiligen Dingen Gottes beschäftigt, führt dieser Weg direkt ins Verderben. Ein solches Verhalten ist ein unbedingter Anlass für das Gericht Gottes. Ein gleiches Verderben, wie es damals über Israel schwebte, erwartet auch Babylon (Off 18).

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Aus Lectures Introductory to the Study of the Gospels, Heijkoop, Winschoten, NL, 1970
(im Deutschen herausgegeben und übersetzt von J. Das)

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