Das Johannesevangelium (15)
Kapitel 15

Hamilton Smith

© SoundWords, online seit: 02.03.2006, aktualisiert: 08.06.2020

Leitverse: Johannes 15

Einleitung

Die Absicht und das Ziel der Rede in Johannes 13 ist es, die Gläubigen in die richtige Beziehung zu Christus und zueinander zu bringen, damit sie Gemeinschaft oder „Teil“ mit Christus erleben, und zwar an dem neuen Platz, den Er als Mensch in dem Haus des Vaters eingenommen hat. In der danach folgenden Rede (Joh 14) dürfen wir Gläubige betrachten, die diese Gemeinschaft mit den göttlichen Personen genießen – mit Christus im Haus des Vaters, mit dem Vater, geoffenbart im Sohn, und mit dem Heiligen Geist, vom Vater gesandt.

Diese beiden Reden werden von der nun folgenden durch die Worte getrennt: „Stehet auf, lasset uns von hinnen gehen“ (Joh 14,31). Mit diesen Worten geht der Herr mit seinen Jüngern aus dem Obergemach in die Welt hinaus. Die nun folgenden Reden sind in ihrem Charakter der Umgebung angepasst, in der sie gesprochen werden; denn nun werden die Jünger in der Welt betrachtet, von der Christus verworfen wurde. In dieser Welt sollen sie Frucht für den Vater bringen und für Christus Zeugnis abzulegen. Es ist mit Recht gesagt worden: „Im Vorangegangenen liegt die Betonung auf Trost, im Hinblick auf den Weggang; im Letzteren ist es Unterweisung für den Zustand, der nun folgen wird wird. Dort ebenso wie hier unterweist und tröstet der Redende.“

Die Einteilung dieser Rede ist deutlich zu erkennen:

  1. In Johannes  15,1 bis 8 lautet das Thema: Fruchtbringen für den Vater.
  2. In Johannes 15,9 bis 17 finden wir die christliche Gesellschaft vorgestellt – der Kreis der Liebe –, in der allein Frucht für den Vater gefunden werden kann.
  3. In Johannes 15,18 bis 25 sehen wir die Welt ohne Christus an uns vorbeigehen – der Kreis des Hasses –, von der die christliche Gesellschaft umgeben ist.
  4. In Johannes 15,26 und 27 wird uns der Tröster – der Heilige Geist – vorgestellt, der vom Herrn in der Herrlichkeit zeugt und die Jünger befähigt, auf der Erde Zeugnis für Christus abzulegen.

Fruchttragen

Vers 1

Joh 15,1: Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weingärtner.

Der Herr führt den Gegenstand des Fruchttragens mit den Worten ein: „Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Weingärtner.“ Diese Worte werden einen fremden Klang in den Ohren der Elf gehabt haben, die durch die Psalmen und die Propheten gewohnt waren, an Israel als den Weinstock zu denken. Der Psalm 80 redet hier von diesem Volk als dem aus Ägypten gezogenen Weinstock. Jesaja erwähnt in seinem Gesang von dem Geliebten Gottes Weinberg und zeigt uns mit diesem Bild die Liebe und Sorgfalt, die Jahwe auf sein Volk verwandte (Jes 5,1-7). Jeremia redet von Israel als von „Edelreben“, aber das Volk hat keine Frucht für Gott gebracht (Jer 2,21). Jesaja klagt, dass es nur unreife Trauben eintrug, und Jeremia, dass sich die Edelreben in „entartete Ranken“ eines fremden Weinstocks verwandelt hatten. In gleicher Weise spricht Hosea von einem „wuchernden Weinstock“, der nur Frucht für sich selbst bringt, aber nicht für Gott (Hos 10,1).

Gott hat Israel viele Jahre in Langmut und Geduld auf mancherlei Weise erprobt und Frucht an ihm gesucht. Doch Er fand nur unreife und wilde Trauben. Die letzte und größte Probe war die Gegenwart des geliebten Sohnes. Seine wohlerwogene Verwerfung war der endgültige Beweis, dass Israel eine „entartete Ranke“, „ein nicht tragender Weinstock“ war. So kam der Augenblick, den Jüngern zu eröffnen, dass Israel beiseitegesetzt war. Wenn sie für Gott Frucht tragen wollten, könnte dies nicht länger in Verbindung mit Israel, der entarteten Ranke, sondern mit Christus, dem wahren Weinstock, sein. Christus und seine Jünger werden den Platz Jerusalems und seiner Kinder einnehmen.

Doch während die Unterredung des Herrn uns mit dem bekannt macht, was den Platz Israels auf Erden einnimmt, wird uns damit wohl kaum gesagt, dass dies das Christentum in seiner himmlischen Berufung vorstellt. Es handelt sich hier nicht um Beziehungen mit Christus im Himmel als Glieder seines Leibes durch den Heiligen Geist – eine lebendige Verwandtschaft, die nicht gebrochen werden kann –, sondern um Beziehungen mit Christus auf Erden durch das Bekenntnis der Jüngerschaft. Dieses Bekenntnis mag echt oder nur ein äußeres Bekenntnis sein; daher spricht der Herr von zwei Arten von Reben: von solchen, die Leben haben und die dies durch Fruchtbringen zeigen, und von solchen, die kein Leben haben und deshalb hinausgeworfen und verbrannt werden.

Wie passend, dass von allen Gewächsen gerade der Weinstock als ein Bild gebraucht wird, um zu zeigen, dass Frucht das große Thema der Unterredung und der Beweis wahrer Jüngerschaft ist. Andere Bäume mögen auch, abgesehen von ihrer Frucht, nützlich sein. Bei dem Weinstock ist dies nicht der Fall. Als Hesekiel vom Weinstock spricht, fragt er: „Wird Holz davon gewonnen, um es zu einer Arbeit zu verwenden? Oder nimmt man davon einen Pflock, um irgendein Gerät daran zu hängen?“ (Hes 15,3). Wenn der Weinstock keine Frucht hervorbringt, ist er nutzlos.

Was ist nun die geistliche Bedeutung der Frucht? Dürfen wir nicht sagen, dass Frucht bedeutet, dass Christus im Gläubigen zum Ausdruck kommt? Wir lesen in Galater 5,22.23: „Die Frucht des Geistes ist: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit.“ Was ist dies anders als eine schöne Beschreibung Christi, als Er in Niedrigkeit durch diese Welt wandelte? Daher, wenn solche Frucht in den Gläubigen gesehen wird, so ist dies die Darstellung Christi in seinem Volk. Persönlich hat Er die Erde verlassen, doch es ist die Absicht Gottes, dass Christus seinem Charakter nach in denen gesehen werden soll, die sein sind. Christus ist der Person nach in das Haus des Vaters zurückgekehrt, aber seinem Charakter nach wird Er in seinem Volk auf Erden fortgesetzt.

Frucht ist nicht genau die Ausübung einer Gabe, eines Dienstes oder eines Werkes. Wir werden ermahnt, „würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen, in jedem guten Werk fruchtbringend“ (Kol 1,10). Diese Stelle, die uns zeigt, wie eng Fruchttragen mit guten Werken verbunden ist, zeigt gleichzeitig, dass auch ein klarer Unterschied zwischen diesen Dingen besteht. Die guten Werke werden in einer solchen christusähnlichen Art getan, dass in ihnen, die den Menschen Nutzen bringen, für Gott annehmbare Frucht gefunden wird. Der natürliche Mensch kann sehr viele gute Werke tun, doch in diesen allen wird keine Frucht für Gott gefunden. Warnt uns doch der Apostel in 1. Korinther 13, dass wir in Dienst und guten Werken vorangehen können und doch der Liebe bedürfen, des vornehmsten Ausdrucks der Frucht.

Wenn Dienst und Werk Frucht sein würden, dann wäre diese in weitem Maß auf jene begrenzt, die eine Gabe haben und die Fähigkeit besitzen, diese auszuüben. Doch wenn Frucht die Darstellung des Charakters Christi ist, so wird es in der Tat eine Möglichkeit und ein Vorrecht für jeden Gläubigen, vom ältesten bis zum jüngsten, Frucht zu bringen.

Würde der, der Christus liebt und die Vollkommenheit dessen bewundert, an dem alles lieblich ist, nicht wünschen, seine Gnade in irgendeinem Maß darzustellen und auf diese Weise Frucht zu bringen? Wenn dies das Verlangen des Herzens ist, so sind uns durch den Herrn drei Wege angegeben, die uns zur Erfüllung desselben führen:

  1. Der erste Weg ist die gnädige Handlungsweise des Vaters,
  2. der zweite die praktische Reinigung durch die Macht des Wortes Christi,
  3. und der dritte die Verantwortlichkeit des Gläubigen, in Christus zu bleiben.

Vers 2

Joh 15,2: Jede Rebe an mir, die nicht Frucht bringt, die nimmt er weg; und jede, die Frucht bringt, die reinigt er, auf dass sie mehr Frucht bringe.

  1. Die Handlungsweise des Vaters wird uns durch das Bild des Weingärtners vorgestellt. Es besteht die traurige Möglichkeit, dass einige Reben, obwohl sie in lebendiger Verbindung mit dem Weinstock stehen, keine Frucht bringen. Solche nimmt der Vater weg. Es ist ein großer Unterschied zwischen diesen und den verdorrten Reben in Vers 6, die hinausgeworfen und verbrannt werden. Hier ist es der Vater, der sie wegnimmt, dort sind es Menschen, die sie hinauswerfen. War es nicht so mit einigen korinthischen Heiligen, deren Wandel Schande auf den Namen Christi brachte und die der Vater deshalb nicht hierlassen konnte? Er rief sie heim. Wir lesen: „Ein gut Teil sind entschlafen.“ Dann haben wir ein Handeln der Gnade des Vaters mit solchen, die Frucht bringen, damit diese vermehrt werde. Solche reinigt Er. Zucht und Strafe sollen dazu dienen, alles das zu entfernen, was hinderlich ist, die Kennzeichen Christi zum Ausdruck zu bringen. Sein Tun mag zuweilen sehr schmerzen, denn „alle Züchtigung scheint für die Gegenwart nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein, hernach aber gibt sie die friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die durch sie geübt sind“ (Heb 12,11). Wenn wir vor dem Vater hinsichtlich seines Tuns mit uns geübt sind, werden wir weder verdrießlich und verbittert noch lehnen wir uns dagegen auf, sondern wir werden innerlich berührt und reifen heran, so dass als Ergebnis der Charakter Christi an uns gesehen werden kann und wir Frucht bringen.

Vers 3

Joh 15,3: Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.

  1. Zweitens ist es das Tun eines gnädigen Herrn mit uns zu dem Zweck, dass wir Frucht bringen. Er sagt: „Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.“ Dies weist hin auf die praktische Absonderung von allem, was im Gegensatz zu dem steht, was Christus durch sein Wort hervorgebracht hat. Zu jener Stunde waren die Jünger rein. Waren nicht ihre Füße eben in den Händen des Herrn gewesen? Das Wasser, das durch seine Hände angewendet worden war, hatte sein reinigendes Werk genügend getan. Wenn wir etwas von der praktischen Reinigung des Wortes kennenlernen möchten, dann müssen wir still zu seinen Füßen sitzen, wie es einst Maria tat, um sein Wort zu hören. Wir alle wissen, was es heißt, mit unseren Bekenntnissen, unseren Schwierigkeiten und Übungen zu Ihm zu gehen, und wie gut es ist, dass Er unsere zögernden und schwankenden Worte hört. Doch selten mag es vorkommen, dass wir mit Ihm allein sind, um seine Gesellschaft zu genießen und sein Wort zu hören. Was kann aber besser Reinigung bewirken und Frucht hervorbringen, als zu den Füßen Jesu zur Ruhe gekommen zu sein und sein Wort in diesem Zustand aufzunehmen? Maria, die dieses gute Teil erwählt hatte, brachte so köstliche Frucht für Christus, dass Er sagte: „Wo irgend dieses Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, wird auch von dem geredet werden, was diese getan hat, zu ihrem Gedächtnis“ (Mt 26,13).

Verse 4.5

Joh 15,4.5: Bleibet in mir, und ich in euch. Gleichwie die Rebe nicht von sich selbst Frucht bringen kann, sie bleibe denn am Weinstock, also auch ihr nicht, ihr bleibet denn in mir. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser bringt viel Frucht, denn außer mir könnt ihr nichts tun.

  1. Das dritte Mittel zur fruchtbaren Gestaltung des Lebens der Jünger liegt bei ihnen selbst. Es wird mit den zweimal wiederholten Worten beschrieben: „Bleibet in mir.“ In Christus bleiben, beständig in Abhängigkeit von Ihm wandeln, ist sowohl unser Vorrecht als auch unsere Verantwortlichkeit. Es hat einer gesagt, dass in Christus bleiben eine praktische, gewohnheitsgemäße Nähe des Herzens bei Ihm ist. Wenn wir gelernt haben, dass Frucht das Hervorbringen des Wesens Christi ist – zum Ausdruck gebracht durch Liebe, Freude, Selbstbeherrschung –, dann werden wir verstehen, dass ein solches Ideal nicht durch eigene Anstrengung erreicht werden kann. Die Verwirklichung der sittlichen Vorzüglichkeit der Frucht auf der einen Seite und unsere außerordentliche Schwachheit auf der anderen wird uns von der Wahrheit der Worte des Herrn überzeugen: „Außer mir könnt ihr nichts tun.“ Seine Frucht mag unserem Gaumen süß sein, doch nur wenn wir unter seinem Schatten bleiben, können wir an seiner Frucht teilhaben. Ohne das Licht und die Wärme der Sonne kann der Weinstock keine Frucht tragen, und wenn wir nicht im Licht und in der Liebe der Gegenwart Christi bleiben, werden auch wir fruchtleer sein. Wenn wir in Christus bleiben, dann ist Er in uns, und wenn Christus in uns ist, dann werden wir den lieblichen Charakter Christi aufweisen.

Daraus geht wohl klar hervor, dass Frucht nicht dadurch hervorgebracht wird, dass wir sie als Ziel vor uns hinstellen oder uns mit ihr beschäftigen. Nein, sie ist das Ergebnis dessen, dass wir Christus vor Augen haben, dass wir mit Ihm beschäftigt sind. Christus geht der Frucht voraus.

Vers 6

Joh 15,6: Wenn jemand nicht in mir bleibt, so wird er hinausgeworfen wie die Rebe und verdorrt; und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen.

In Vers 6 werden wir mit der ernsten Sache der toten Rebe bekannt gemacht, dem bloßen Bekenner, der nur den Namen Christi annimmt, aber keine lebendige Verbindung mit Ihm hat. Ein solcher kann keine Frucht hervorbringen. Der im Bild gebrauchte Weingärtner gibt sich nicht persönlich mit der toten Rebe ab, dies tun andere. Auch der Vater beschäftigt sich nicht mit dem frucht- und leblosen Bekenner, sondern unter der Regierung Gottes führen seine Beauftragten sein Gericht an ihm aus. In diesem Fall wird die Rebe nicht weggenommen, sondern hinausgeworfen, sie verdorrt und man wirft sie ins Feuer und sie verbrennt. Ist nicht Judas ein ernstes und Furcht einflößendes Beispiel einer verdorrten Rebe? Aber die, mit denen der Herr redete, waren lebendig mit Ihm verbunden, denn sonst hätte Er nicht sagen können: „Ihr seid rein.“ Aus diesem Grund lauten auch seine Worte nicht: „Wenn ihr nicht in mir bleibet“, sondern: „Wenn jemand nicht in mir bleibet“. Die Sprechweise ist geändert, um den Gedanken auszuschließen, dass ein wahrer Jünger hinausgeworfen und verbrannt werden könnte.

Verse 7.8

Joh 15,7.8: Wenn ihr in mir bleibet und meine Worte in euch bleiben, so werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch geschehen. Hierin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringet, und ihr werdet meine Jünger werden.

Nachdem uns die Wege der Gnade entfaltet worden sind, durch die das Leben der Gläubigen fruchtbar gemacht wird, fährt der Herr fort, die Ergebnisse vorzustellen, die das Fruchttragen hervorbringt:

  1. Wenn ein Jünger mit tätigem und beständigem Herzen in Abhängigkeit von Christus wandelt und so fortwährend durch dessen eigene Worte in Gedanken und Zuneigung gebildet wird, so befähigt ihn dies, gemäß der Gesinnung des Herrn zu beten und zu bitten, und diese Gebete werden erhört.

  2. Ein zweites großes Ereignis steht in Beziehung zu dem Vater. Wenn wir Frucht tragen, dann wird der Vater verherrlicht. Christus war stets der vollkommene Ausdruck des Vaters, und in dem Maß, wie wir die Kennzeichen Christi aufweisen, stellen auch wir die Wahrheit in Bezug auf den Vater dar; und darin wird Er verherrlicht.

  3. Endlich werden wir, soweit wir Frucht tragen, selbst Christi Zeugen. Indem wir seinen Charakter darstellen, wird vor aller Welt offenbar, dass wir seine Jünger sind.

Die christliche Gesellschaft

In den letzten Unterredungen des Herrn bereitet eine zunehmende Entfaltung der Wahrheit die Jünger auf die Beiseitesetzung des irdischen jüdischen Systems zu, mit dem sie verbunden waren, sowie auf die Einführung der neuen christlichen Gesellschaft, die in ihrem Ursprung und Ziel himmlisch ist, obwohl die Jünger noch eine Weile in der Welt gelassen wurden, um selbst Christus, den Menschen in Herrlichkeit, darzustellen.

Indem wir auf die Aussprüche des Herrn achten, ist es gut, uns zwei große Tatsachen vor Augen zu halten, die der ganzen Belehrung der Abschiedsworte des Herrn zugrunde lieben. Erstens, dass der Herr im Begriff stand, diese Welt zu verlassen, um seinen neuen Platz als Mensch im Himmel einzunehmen, und zweitens, dass eine göttliche Person – der Heilige Geist – vom Himmel auf die Erde herabkam. Infolge dieser zwei großen Tatsachen würde auf dieser Erde eine mit Christus in Herrlichkeit sowie untereinander durch den Heiligen Geist vereinigte Gesellschaft von Gläubigen gefunden. An diese neue Gesellschaft, die durch die Jünger vertreten wird, wendet sich der Herr in diesen letzten Worten.

Nachdem Er ihnen das Verlagen seines Herzens enthüllt hat, dass sie Frucht tragen möchten, stellt Er ihnen nun die neue christliche Gesellschaft vor, denn nur in dieser kann solche gefunden werden. Ist es nicht klar, dass der volle Ausdruck der Frucht eine Gesellschaft voraussetzt? Denn viele der Gnaden Christi können schwerlich durch einen alleinstehenden Jünger zum Ausdruck gebracht werden. Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit und andere Züge Christi, können praktisch nur in Gesellschaft mit anderen zur Darstellung kommen. In den ersten Versen von Johannes 13 wird uns gesagt, dass während der Abwesenheit Christi solche auf Erden sein werden, die Er „die Seinen“ nennt und die Er bis ans Ende liebt. Das Letztere besagt, dass sie trotz allen Fehlens bis ans Ende die Seinen sein werden. Nach außen hin mögen sie zusammengebrochen und zerstreut sein, doch in seinen Augen sind sie noch da. „Der Herr kennt, die sein sind.“ Glücklich sind jene Gläubigen, die ihre Freude in der Gesellschaft der Seinen haben. Wenn Christus persönlich hier wäre, würden wir alle gern in seiner Gesellschaft sein, doch da Er hinweggegangen ist, so sind wir sicherlich gern mit denen zusammen, die etwas von seinem Charakter zum Ausdruck bringen. Wenn wir inmitten all der Verwirrung der Christenheit noch einige finden, die ohne Anmaßung in sittlicher Hinsicht etwas von Christus darstellen, so werden diese ohne Zweifel sehr anziehend für ein Herz sein, das Christus liebt; während die großen religiösen Systeme, in denen so viel von dem Menschen und so wenig von Christus ist, aufhören, irgendwelche Anziehungskraft auf uns auszuüben.

Wie wichtig ist es deshalb, dass wir mit Ernst auf eine Stelle achten, die uns die großen sittlichen Kennzeichen der neuen christlichen Gesellschaft entfaltet, die die Versammlung Christi während seiner Abwesenheit bildet. Wenn wir von christlicher Gesellschaft reden, müssen wir uns davor hüten, diese einerseits auf eine bestimmte Anzahl von Gläubigen zu begrenzen, andererseits sie aber auch nicht auf jene auszudehnen, die nicht Christi sind.

Verse 9.10

Joh 15,9.10: Gleichwie der Vater mich geliebt hat, habe auch ich euch geliebt; bleibet in meiner Liebe. Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, gleichwie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe.

  1. Das erste große Kennzeichen der christlichen Gesellschaft ist die Liebe Christi. Die christliche Gesellschaft wird von Christus geliebt. Sie mag von der Welt nicht gekannt sein oder, wenn dies doch der Fall, verachtet und gehasst werden, aber von Christus wird sie geliebt. Und von einer solchen Tiefe ist seine Liebe, dass sie nur an der Liebe des Vaters zu Christus gemessen werden kann. Der Vater hat auf Christus als einen Menschen herabgeblickt und Ihn mit all der Vollkommenheit der göttlichen Liebe geliebt, und jetzt blickt Christus aus der Herrlichkeit auf die Seinen, und durch die geöffneten Himmel strömt seine Liebe auf sie herab. Zu solchen sagt der Herr: „Bleibet in meiner Liebe.“

    Ihre Freude an ihrer Segnung sowie ihre Kraft im Zeugnis hängt davon ab, dass sie bewusst in der Liebe Christi bleiben. Jene anderen, ernsten Worte des Herrn: „Du hast deine erste Liebe verlassen“, die an einem späteren Tag an den Engel der Versammlung zu Ephesus gerichtet wurden, zeigen den ersten Schritt auf dem Weg an, der zum Verfall und zur Zerstreuung der christlichen Gesellschaft auf Erden führt. Der nächste Schritt abwärts war der, dass sie aufhörten, ein gemeinsames Zeugnis für Christus zu sein, der Leuchter wurde von seiner Stelle weggerückt (Off 2,4.5). Wenn Christen in der Freude göttlicher Liebe wandeln, dann kann nichts ihr gemeinsames Zeugnis hindern, wenn sie aber ihre erste Liebe zu Christus verlieren, weil sie seine Liebe nicht mehr genießen, dann wird ihr gemeinsames Zeugnis vor der Welt bald ein Ende haben. Wie oft hat sich die Geschichte der Kirche als ein Ganzes in den örtlichen Gemeinschaften der Heiligen wiederholt. Wenn jedoch einige den Worten des Herrn entsprechen und in seiner Liebe bleiben, so mögen sie auf die Leitung des Herrn achten, denn Er zeigt den Weg. Wir können nur dann in seiner Liebe bleiben, wenn wir den Pfad des Gehorsams wandeln. „Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben.“ Das Kind, das in Ungehorsam gegen seine Eltern seinem eigenen Willen nachgeht, schätzt oder erfreut sich nur in geringem Maß der Liebe derselben. Nur wenn wir im Gehorsam gegen die uns bekannten Gedanken des Herrn wandeln, können wir uns im Genuss seiner Liebe erhalten.

    Wie ein Mensch nur dann im Sonnenschein bleibt, wenn er den Ort nicht verlässt, wo dieser hinfällt, so können auch wir den Weg des Gehorsams nicht aufgeben. Auf diesem ruht die Liebe Christi. Sie scheint auf dem ganzen Pfad seiner Gebote. Das Halten derselben schafft nicht die Liebe, genau wie das Wandeln im Sonnenschein nicht diesen hervorbringt. Und aus diesem Grund werden wir nicht ermahnt, die Liebe zu suchen, zu verdienen oder zu erlangen, sondern in ihr zu bleiben. Der Herr war das vollkommene Beispiel von einem Menschen, der auf dem Pfad des Gehorsams wandelte und deshalb sagen konnte: „Gleichwie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe.“

Vers 11

Joh 15,11: Dies habe ich zu euch geredet, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude völlig werde.

  1. Das zweite große Kennzeichen der christlichen Gesellschaft ist ihre Freude. Aber es ist die Freude Christi. Der Herr sagt: „Dies habe ich zu euch geredet, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude völlig werde.“ Dies ist nicht bloß eine natürlich Freude noch weniger die Freude der Welt; nein, es ist die Freude Christi – eine Freude, die hervorfließt aus dem ununterbrochenen Genuss der Liebe des Vaters. Es gibt gewiss irdische Freuden, die von Gott gutgeheißen werden und die an ihrem Platz und zu ihrer Zeit richtig angewendet werden dürfen. Aber solche Freuden werden uns nicht befriedigen, sie erblassen und vergehen. Der Wein irdischer Freuden hat ein schnelles Ende. Wir mögen in der Tat „auf dem Wege aus dem Bache trinken“, der doch vertrocknet (Ps 110,7; 1Kön 17,7). Es gibt jedoch eine Quelle der Freude in dem Gläubigen, die ins ewige Leben quillt, die nie versiegt. In Verbindung hiermit redet der Herr von seiner Freude als von einer, die in uns „bleibt“. Dies ist wirklich eine Freude, die alle vergänglichen Freuden überdauert. Die Freude, die ihre Quelle in der Liebe des Vaters hat, wird Bestand haben wie die Liebe, aus der sie hervorkommt.

    Doch diese Freude bleibt nicht nur, sie wird auch, wie der Herr zu seinen Jüngern sagt, „in euch“ sein. Da sie in uns ist, so gleicht sie nicht der Freude dieser Welt, die von äußeren Umständen abhängig ist. In Psalm 4,7 lesen wir: „Du hast Freude in mein Herz gegeben, mehr als zur Zeit, da ihres Kornes und Mostes viel war.“ Irdische Freuden hängen von dem Gedeihen äußerer Umstände ab, aber die Freude des Herrn ist in dem Herzen. Seinen äußeren Umständen nach war der Herr ein verworfener und vereinsamter Mensch, „ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut“, doch auf dem Pfad, den Er im Gehorsam gegenüber dem Willen des Vaters wandelte, blieb Er in beständiger Verwirklichung der Liebe des Vaters, und in dieser Liebe fand Er die dauernde Quelle all seiner Freude. Auch wir werden, soweit wir gehorsam sind, in dem Sonnenschein seiner Liebe bleiben und eine Fülle von Freude finden, die keinen Raum lässt für Betrübnis über das Fehlgehen der Dinge hier auf Erden.

Verse 12.13

Joh 15,12.13: Dies ist mein Gebot, dass ihr einander liebet, gleichwie ich euch geliebt habe. Größere Liebe hat niemand, als diese, dass jemand sein Leben lässt für seine Freunde.

  1. Drittens wird die neue Gesellschaft durch Liebe gekennzeichnet; sie wird nicht nur geliebt, sondern sie liebt selbst. Denn das Gebot des Herrn für sie ist: „… dass ihr einander liebet, gleichwie ich euch geliebt habe.“ Diese Liebe ist nicht nach menschlichem Muster, die oftmals Eigenliebe ist, sondern eine Liebe, die keinen geringeren Maßstab als des Herrn Liebe zu uns hat. In ihr ist nichts für das Ich. der Herr sagt von ihr: „Größere Liebe hat niemand als diese, dass jemand sein Leben lässt für seine Freunde.“ Hier wird der Tod nicht in seinem versöhnenden Charakter betrachtet, sondern als der erhabene Ausdruck der Liebe. Irdische Liebe wird oft durch etwas Liebenswürdiges hervorgerufen; göttliche Liebe dagegen erhebt sich über all unsere Schwachheiten und Fehler und liebt uns trotz manchem, was durchaus nicht liebenswürdig ist. Sie erhebt sich jedoch über alles Unliebenswürdige und dient ihrem Gegenstand dadurch, dass sie das größtmögliche Opfer bringt: die Hingabe des Lebens für den Freund. Kann es einen größeren Beweis, einen höheren Standpunkt geben?

Verse 14.15

Joh 15,14.15: Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was irgend ich euch gebiete. Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut; aber ich habe euch Freunde genannt, weil ich alles, was ich von meinem Vater gehört, euch kundgetan habe.

  1. Viertens ist die christliche Gesellschaft eine solche, der Vertrauen geschenkt wird. Sie ist bereichert durch die Freundschaft Christi und durch Einweihung in die Kenntnis der Ratschlüsse des Vaters. Der Herr behandelt die Seinen nicht länger mehr als Knechte, denen Anweisungen gegeben werden, sondern als Freunde, denen Geheimnisse anvertraut werden. Er sagt, dass Er alles, was Er von seinem Vater gehört hat, ihnen kundtun werde. Waren denn die Jünger nach 2. Petrus 1,1, Judas 1 und Römer 1,1 nicht Knechte Jesu Christi? Gewiss, doch sie waren mehr als das: Sie waren Freunde, und wenn auch das Vorrecht, Knecht zu sein, groß ist, das Vorrecht, Freund zu sein, ist größer. Der Knecht als solcher „weiß nicht, was sein Herr tut“. Er kennt nur die ihm auferlegte Arbeit, und ihm sind nur die zu ihrer Verrichtung notwendigen Anweisungen gegeben. Der Knecht aber, der als Freund behandelt wird, weiß mehr. Ihm ist der geheime Vorsatz seines Meisters bekannt, für den das Werk unternommen wird. Und noch mehr: Mit einem Freund sprechen wir über unser Vorhaben, da wir wissen, dass dieser daran sein tiefes Interesse hat, obwohl es ihn nicht direkt angeht. So verkehrte Gott mit Abraham, dem Mann, der Freund Gottes genannt wird. Es steht geschrieben: „Sollte ich vor Abraham verbergen, was ich tun will?“ Ferner sehen wir, dass Gehorsam gegenüber den Geboten des Herrn den Platz des Freundes sichert, wie er früher die Freude der Liebe festhielt. Wir werden wenig von den Ratschlüssen des Vaters verstehen, es sei denn, dass wir den Geboten des Herrn gehorchen. In einem solchen Fall behandelt uns der Herr als Freunde, indem Er uns alles mitteilt, was Er vom Vater gehört hat.

Vers 16

Joh 15,16: Ihr habt nicht mich auserwählt, sondern ich habe euch auserwählt und euch gesetzt, auf dass ihr hingehet und Frucht bringet, und eure Frucht bleibe, auf dass, was irgend ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, er euch gebe.

  1. Fünftens ist die christliche Gesellschaft eine auserwählte Gesellschaft. Der Herr sagt von ihr: „Ihr habt nicht mich auserwählt, sondern ich habe euch auserwählt.“ Die Wahl ist von Ihm ausgegangen, nicht von uns. Wie gut, dass dem so ist. Hätten wir in einem Augenblick der Gefühlsaufwallung den Herrn als unseren Meister erwählt, um hinzugehen und Frucht zu bringen, so würden wir wohl unter dem Druck der Umstände uns schon längst wieder umgewandt haben. Die Freiwilligen, die zeitweise den Pfad des Herrn kreuzten, schöpften aus ihrem Entschluss nur wenig Ermutigung und gingen nur ein kurzes Stück mit Ihm, der nicht hatte, wo Er sein Haupt hinlegte, und der von den Menschen verworfen war. Doch von denen, die Er berufen hatte, konnte Er sagen: „Ihr aber seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen“ (Lk 6,13; 9,1; 22,28). Hier handelt es sich gewiss nicht um die über alles erhabene Wahl zum ewigen Leben, sondern um die Liebe, die uns erwählte und dazu bestimmte, Frucht zu bringen, die bleiben sollte. Wie gesegnet ist dies in den Aposteln erfüllt worden, denn die Gnaden Christi, die in ihrem Leben zum Ausdruck kamen, haben sie für alle Zeiten zu Beispielen für die Herde gemacht.

  2. Endlich ist die christliche Gesellschaft eine betende und von Gott abhängige Gesellschaft, die in dem Namen Christi Zugang zum Vater hat. In der Freude der Liebe Christi und als Freunde seines Vertrauens würdig befunden, werden sie so in seiner Gesinnung unterwiesen sein, dass Er ihnen geben kann, was immer sie im Namen Christi vom Vater erbitten.

So ist der christliche Kreis nach den Gedanken des Herrn. Es ist ein Kreis, in dem alles, was Christi ist, gekannt und genossen werden kann, denn wie lieblich klingt das kleine Wort „mein“ von den Lippen des Herrn. Im Hinblick auf die Seinen sagt Er: „Meine Liebe, meine Freude, meine Gebote, meine Freunde, mein Vater und mein Name.“ Ferner wird hier die ganze Geschichte der Liebe in der Liebe des Vaters zum Sohn, der Liebe des Sohnes zu seinem Volk, der Liebe seines Volkes untereinander gefunden. Jeder Schritt ist beides: die Quelle und das Maß für den nächsten.

Wie schön ist das Gemälde der christlichen Gesellschaft, wie es vom Herrn selbst entworfen ist! Leider aber suchen wir vergebens nach einem allgemeinen praktischen Ausdruck der Wünsche des Herrn unter seinem Volk. Doch auch so, getrennt und zerstreut wie wir sind, lasst uns unseren Wandel nicht nach einem niederen Maßstab einrichten, sondern ein jeder suche persönlich, den Gedanken des Herrn zu entsprechen.

Vers 17

Joh 15,17: Dies gebiete ich euch, dass ihr einander liebet.

„Dies“, wovon der Herr eben gesprochen hat, wurde mit der Liebe Christi zu den Seinen eingeführt; der Zweck ist, die Jünger in Liebe zu vereinigen. Wie passend sind deshalb die Worte des Herrn: „Dies gebiete ich euch, dass ihr einander liebet.“

Die Welt

Verse 18.19

Joh 15,18.19: Wenn die Welt euch hasst, so wisset, dass sie mich vor euch gehasst hat. Wenn ihr von der Welt wäret, würde die Welt das Ihrige lieben; weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt auserwählt habe, darum hasst euch die Welt.

In einer sehr kostbaren Weise hat uns der Herr die neue christliche Gesellschaft vorgestellt, nicht in ihrer Bildung oder Verwaltung, denn dazu war die Zeit noch nicht gekommen, sondern in ihren sittlichen Kennzeichen und ihren geistlichen Vorrechten. Sie wird als eine Genossenschaft betrachtet, die von der Liebe Christi beherrscht wird, die in seiner Liebe bleibt und die durch Liebe untereinander zusammengehalten wird. In den Worten, die folgen (Joh 15,18.19), verlässt der Herr in Gedanken den christlichen Kreis der Liebe und spricht von dem weltlichen Kreis des Hasses, indem Er auf diese Weise seinen Jüngern warnend den wahren Charakter der Welt zeigt, von der sie umgeben sind und auf deren Verfolgung Er sie vorbereitet.

Wenn wir mit Christus die Liebe, Freude und heilige Vertrautheit innerhalb des Kreises teilen, so ist es auch nötig, zubereitet zu werden, mit Christus teilzuhaben an dem Hass und der Verwerfung seitens der Welt. Wir finden hier keine Andeutung, dass die Jünger versuchen sollten, das Beste aus diesen zwei Welten zu machen, wie man zu sagen pflegt. Christus oder die Welt muss es heißen, nicht etwa Christus und die Welt. Eine Gesellschaft, die auf irgendeine Art die Gnaden Christi darstellt, wird von der Welt als eins mit Ihm anerkannt, und der Hass, den sie Christus gegenüber zum Ausdruck brachte, wird auch seinem Volk entgegengebracht werden. Der Ihm entgegengebrachte Hass und die Ihm widerfahrene Verfolgung wird auch ihr Teil sein.

Die Welt ist ein weitreichendes System, das jede Rasse und Klasse und jede falsche Religion umfasst, und sie alle haben eins gemeinsam: den Hasse gegen Gott. Die Welt, die die Jünger umgab, war die Welt des verdorbenen Judentums. Heute ist die Welt, mit der die Gläubigen hauptsächlich in Berührung kommen, die Welt des verdorbenen Christentums. Ihre äußere Form mag sich von Jahrhundert zu Jahrhundert ändern, im Innern ist sie stets durch Abneigung gegen Gott und Hass gegen Christus gekennzeichnet. Weshalb sollten diese einfachen Menschen von der Welt gehasst werden? Waren sie nicht hauptsächlich eine Gesellschaft von Armen, die einander liebten, die auf ehrbare Weise lebten und den Gewalten unterworfen waren, ohne sich mit ihrer Politik abzugeben? Gingen sie nicht aus, eine gute Botschaft zu verkünden und gute Werke zu tun? Warum sollten solche gehasst werden?

Der Herr gibt dafür zwei Gründe an. Erstens waren sei eine Gesellschaft von Menschen, die Christus aus der Welt erwählt hatte, und zweitens bekannten sie den Namen Christi vor der Welt (Joh 15,21). Der erste Grund würde in besonderer Weise den Hass der religiösen Welt hervorrufen und der zweite den Hass der Welt im Allgemeinen. Zu allen Zeiten hat nichts den Hass des religiösen Menschen so erregt als die über alles erhabene Gnade, die die religiösen Anstrengungen der Menschen übersteigt und die Ausgestoßenen und Verdorbenen aufnimmt und segnet. Der einfache Hinweis auf die Gnade, die in früheren Tagen eine heidnische Witwe segnete und einen heidnischen Aussätzigen heilte, erregte Zorn und Hass der religiösen Führer von Nazareth gegen Christus. Die über alles erhabene Gnade, die den jüngeren Sohn wieder aufnahm, erzürnte den älteren.

Verse 20.21

Joh 15,20.21: Gedenket des Wortes, das ich euch gesagt habe: Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen; wenn sie mein Wort gehalten haben, werden sie auch das eure halten. Aber dies alles werden sie euch tun um meines Namens willen, weil sie den nicht kennen, der mich gesandt hat.

Ferner werden die Jünger unterwiesen, dass dieser Hass in Verfolgung übergeht. „Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen.“ Dieser tätige Ausdruck des Hasses ist mehr mit dem Bekenntnis des Namens Christi verbunden, denn der Herr sagt: „Dies alles werden sie euch tun um meines Namens willen.“ Die Verfolgung Christi oder seiner Jünger beweist, dass sie den nicht kennen, der Christus gesandt hat – den Vater.

Verse 22-25

Joh 15,22-25: Wenn ich nicht gekommen wäre und zu ihnen geredet hätte, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie keinen Vorwand für ihre Sünde. Wer mich hasst, hasst auch meinen Vater. Wenn ich nicht die Werke unter ihnen getan hätte, die kein anderer getan hat, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie gesehen und gehasst sowohl mich als auch meinen Vater. Aber auf dass das Wort erfüllt würde, das in ihrem Gesetz geschrieben steht: „Sie haben mich ohne Ursache gehasst“.

Es gibt jedoch keine Entschuldigung für solche Unwissenheit. Des Herrn Worte und Werke nehmen der Welt eine solche, sowohl für ihren Hass als auch für ihre Unwissenheit. Wenn Christus nicht gekommen wäre und solche Worte in der Welt gesprochen hätte, die kein Mensch je gesprochen hat, und wenn Er nicht unter ihnen Werke getan hätte, die kein anderer tun konnte, so könnte man ihnen nicht die Sünde absichtlicher Feindschaft gegen Christus oder den Vater zum Vorwurf machen. Sie würden wohl gefallene Geschöpfe sein, doch schwerlich wäre es an den Tag getreten, dass sie wissentlich Gott hassten. Jetzt aber gab es keinen Vorwand für ihre Sünde. Es gab kein Verbergen der Schuld der Welt; die Schuld war ans Licht gekommen. Christus hat das Herz des Vaters durch seine Worte und seine Werke völlig enthüllt. Aber dadurch kam nur der Hass des Menschen gegen Gott zum Vorschein. Die Welt als solche wurde ohne Hoffnung gelassen, denn nach ihrem eigenen Gesetz hasste sie Christus ohne Ursache. Deshalb ist der Hass der Welt nicht länger Unwissenheit, er ist Sünde. Es ist ein Hass ohne Ursache. Ach, wir Christen mögen der Welt bisweilen Grund zum Hassen geben, doch in Christus war keine. Es gibt jedoch eine Ursache dazu, sie liegt aber nicht in dem, der gehasst wird, sondern in dem Herzen dessen, der hasst.

Die Kraft zum Zeugnis

Verse 26.27

Joh 15,26.27: Wenn aber der Sachwalter gekommen ist, den ich euch von dem Vater senden werde, der Geist der Wahrheit, der von dem Vater ausgeht, so wird er von mir zeugen. Aber auch ihr zeuget, weil ihr von Anfang an bei mir seid.

Wenn der Kreis der Liebe von einem Kreis des Hasses umgeben ist, von einer verfolgenden Welt, die die Jünger Christi mit blinder Wust hasst, wie ist es dann möglich, irgendein Zeugnis für Christus auf der Erde, von der Er hinweggegangen ist, aufrechtzuerhalten? Der christliche Kreist ist klein, und die, aus denen er besteht, sind schwach. Der Herr selbst vergleicht sie mit einer kleinen Herde inmitten von Wölfen. In wessen Kraft werden nun die Jünger in einer Christus hassenden Welt stehen und Zeugnis für Ihn ablegen? Sie können und werden dies tun in der Kraft des Heiligen Geistes, einer göttlichen Person, die vom Vater kommen wird.

Wie gut kannte der Herrn den schrecklichen Charakter der Welt und ihren unbarmherzigen Hass, denn war nicht der Sturm ihrer Feindschaft in seiner vollen Wut über Ihn hereingebrochen? Aber Er kannte auch die Schwachheit jener, die Ihn liebten und die Ihm nachgefolgt waren. Stand nicht Petrus im Begriff, Ihn zu verleugnen, und würden die anderen Ihn nicht verlassen? Wie gut wusste Er, dass sie, sich selbst überlassen, nie imstande sein würden, irgendein Zeugnis für ihn aufrechtzuerhalten, wenn Er in die Herrlichkeit gegangen war? Da Er die Verdorbenheit der Welt und die Schwachheit der Jünger kannte, ermutigte Er sie durch die Ankündigung, dass der Sachwalter, der Geist der Wahrheit, den Er ihnen von dem Vater senden würde, von Ihm zeugen würde. Wie schwach auch immer die Jünger und wie mächtig die Welt sein würde, „er wird von mir zeugen“; wie sehr auch die Jünger versagen und die Welt sie verfolgen würde, „er wird von mir zeugen“. Er wird auf Erden von der Herrlichkeit des Sohnes im Himmel Zeugnis ablegen. Die Welt wird Christus an den niedrigsten Ort, ans Kreuz, bringen, der Himmel aber wird Ihn am höchsten Platz der Herrlichkeit krönen, und der Heilige Geist wird kommen, um von seiner Herrlichkeit zu zeugen. Der Sohn war von dem Vater gekommen und hatte diesen bekannt gemacht, der Heilige Geist würde von dem Vater kommen und Zeugnis von dem Sohn geben.

Im Blick auf das Kommen des Geistes fügt der Her noch hinzu: „Aber auch ihr zeugt …“ Als Grund dafür gibt Er an: „… weil ihr von Anfang an bei mir seid.“ Gewiss sind wir im buchstäblichen Sinn nicht mit Jesus gewesen, wie dies die Jünger waren, die Ihn von Anfang seines Dienstes an begleitet hatten. Doch dessen ungeachtet bleibt es in sittlicher Hinsicht wahr, dass wir auch mit Ihm vertraut sein müssen, wenn wir Christi Zeugen vor den Menschen sein wollen. Als der Heilige Geist gekommen war, gaben Petrus und Johannes ein so eindringliches Zeugnis von Christus vor der sie verfolgenden Welt, dass ihre Verfolger erkannten, „dass sie mit Jesus gewesen waren“ (Apg 4,13).

So bringt der Herr zwei große Tatsachen vor uns: die eine, dass der Heilige Geist von Christus in Herrlichkeit zeugt, und die andere, dass die Jünger Zeugnis vor den Menschen geben. Kommen nicht diese beiden Tatsachen in der Geschichte des Stephanus klar ans Licht? Umringt von einer religiösen Welt, die Christus verworfen hatte, in ihrer Wurt mit den Zähnen knirschte und den Stephanus steinigte, stand dieser in der Kraft des Heiligen Geistes, schaute gen Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus. Dann gab er Zeugnis vor der Welt: „Siehe“, sagte er, „ich sehe die Himmel geöffnet und den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes stehen.“ Der Heilige Geist bezeugte dem Geiste des Stephanus, dass Christus in Herrlichkeit war, und Stephanus bezeugte dies vor der Welt.

Dieser Zeuge war der erste einer langen Reihe von Märtyrern, doch trotz allem, was die Welt getan hat und noch tun wird, dürfen wir mit Vertrauen auf den Herrn sagen, dass, wie es ein Zeugnis für Christus gegeben hat, es auch ein solches geben wird, solange die christliche Gesellschaft auf Erden ist, und zwar aus dem Grund, weil der Heilige Geist auf Erden gegenwärtig ist und in seiner großen und unwiderstehlichen Macht in und beim Volk Gottes bleibt.

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