Christen und Politik
Himmelsbürger auf der Erde

Henk Pieter Medema

© SoundWords, online seit: 01.01.2009, aktualisiert: 13.11.2023

Die Aufgabe des Christen in dieser Welt

Abraham Kuyper[1] erzählt irgendwo, wie er einmal – es muss um 1869 gewesen sein – in Utrecht als Prediger den Gottesdienst leitete. Kurz danach wurde eine Kirchenratsversammlung abgehalten, deren Vorsitzender Nicolaas Beets[2] war. Es entstand ein Disput mit einem calvinistischen Kirchenratsmitglied über die Frage, welche Aufgaben die Kirche in politischer Hinsicht hat. Die Diskussion schaukelte sich derart hoch, dass der Präsident „den Hammer in wilder Wut über den Tisch warf und den Saal verließ“[3].

Der Vorfall illustriert, wie heftig die Diskussion werden kann, wenn es darum geht, welche Aufgaben wir als Christen auf der Erde haben. Heutzutage ist das nicht anders. Der einzige Unterschied ist, dass es in den Niederlanden im Moment jedenfalls für die weitaus meisten Christen keine Frage mehr ist, ob sie sich an sozialen oder politischen Aktionen beteiligen sollen. Das war im Jahr 1869 noch nicht der Fall. Dennoch gibt es auch heute Christen, die meinen – und das ist der Standpunkt, der unten auch verteidigt werden soll –, dass ein Christ sich grundsätzlich nicht an solchen Aktionen beteiligen solle. „Pietismus“ und „täuferische Weltmeidung“ sind die Worte, die einem schnell an den Kopf geworfen werden, wenn man diesen Gedanken hervorbringt. Damit wird allerdings jedes Gespräch und jede Besinnung auf dieses Problem derart betoniert, dass man keinen Millimeter mehr vom Fleck kommt. Daher scheint es nötig, dieses Thema aus dem Blinkwinkel, den die Schrift uns bietet, gut zu überdenken. […]

Die Not dieser Welt

Ein Christ befindet sich inmitten einer Welt, die in Not ist. Er kann nicht gleichgültig bleiben, wenn er das Elend seiner Mitmenschen sieht. Wenn er im Geist seines Meisters handeln will, wird er innerlich über Menschen bewegt sein, die wie Schafe ohne Hirten sind (Mt 9,36). Die allergrößte Not der Menschenwelt ist geistlicher und moralischer Natur. Sicher, Krieg, Hunger, Erdbeben, geistige Behinderung, Armut, sozialer Missstand und dergleichen sind auch schrecklich, dennoch befindet sich die allererste Not des Menschen auf geistlichem Gebiet: Er ist ein Sünder, weit von Gott entfernt, ohne Gott und ohne Hoffnung in dieser Welt, ohne Ziel in seinem Leben und eine Sklave Satans, unbewusst auf dem Weg in die Hölle, zum ewigen Gericht Gottes.

Was sollen wir in dieser Situation tun? Das Wort predigen! Anhaltend, zu gelegener und ungelegener Zeit! Sündige Menschen auf Jesus Christus, auf den Heiland der Welt hinweisen. Wir brauchen uns genauso wenig wie Paulus für das Evangelium zu schämen. Es ist Gottes Kraft, zum Heil jedem Glaubenden (Röm 1,16). Jesus Christus und Ihn als gekreuzigt – das ist die Botschaft, die wir für eine verlorene Menschenwelt haben.

Es ist von großer Wichtigkeit, dies zunächst einmal ganz deutlich festzustellen. Wenn wir fest davon überzeugt sind, dass wir uns nicht an politischen und sozialen Aktionen beteiligen sollen, dann nicht, weil wir die Not dieser Welt nicht sehen, sondern weil wir der Meinung sind, dass die Not nicht an erster Stelle auf der horizontalen Ebene zu suchen ist, sondern auf der vertikalen.

Stell dir vor, dass heute in New York eine gewaltige Epidemie ausbrechen würde, an der jede Stunde Tausende sterben würden. Du bist im Besitz der einzigen Medizin, die hinreichend wirkt. Wäre es dann nicht falsch, wenn du dich mit der Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit beschäftigen würdest oder mit sozialen Missständen oder mit der ungleichen Einkommensverteilung oder mit der Korruption der Stadtverwaltung? (Natürlich abgesehen von der Möglichkeit, dass die Plage genau durch diese Faktoren entstanden ist oder die Rettung durch sie behindert wird.) Falsch ist eigentlich noch zu schwach ausgedrückt: Es wäre grausam, dich mit diesen Problemen zu beschäftigen, die übrigens zu nichts werden angesichts der Tatsache, dass stündlich Tausende an einer ansteckenden Krankheit sterben.

Genauso befindet sich der Christ in dieser Welt. Er sieht entsetzlich viel Not um sich her, gleichzeitig weiß er jedoch, dass ein Problem weit darüber thront: das Problem der Sünde, das Problem des gestörten Verhältnisses zwischen dem Menschen und Gott. Deswegen streitet er nicht – wie der Arzt in Albert Camus’ La Peste (Die Pest) – gegen die materielle, körperliche und soziale Not; er legt sich auch nicht – wie der Priester in demselben Buch von Camus – angesichts der Situation nieder, weil das Leiden gottgewollt wäre. Nein, er weist auf den gekreuzigten Christus hin, auf den auf das Kreuz erhöhten Sohn des Menschen, von dem die eherne Schlange in der Wüste eine herrliche Illustration ist: Jeder, der die Schlange ansah, blieb am Leben, und jeder, der an den gekreuzigten Christus glaubt, hat ewiges Leben. „Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium“ – das ist die Botschaft, die der Christ für diese Welt hat.

Soziale Hilfe

Das bedeutet nicht, dass wir als Christen an unserem Nächsten gefühllos vorbeilaufen müssen, wenn dieser in materieller oder sozialer Not verkehrt. Leider muss man feststellen, dass praktische Nächstenliebe nur allzu oft vergessen wird. Der Apostel Paulus ruft uns auch zu, „das Gute zu wirken gegenüber allen, am meisten aber gegenüber den Hausgenossen des Glaubens“ (Gal 6,10). Er selbst war das gute Vorbild: „Nur dass wir der Armen gedenken sollten, was ich mich auch zu tun befleißigt habe“ (Gal 2,10).[4] Wir dürfen das nicht vernachlässigen. Wir können nicht zu jemand, der an Kleidung und täglicher Nahrung Mangel hat, sagen: „Sorg mal dafür, dass du an eine warme Jacke und ein Butterbrot kommst“ (vgl. Jak 2,16). Tatsächlich ist das Gebot, unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben, nicht Christentum schlechthin, sondern Judentum.

Andererseits dürfen wir nicht, weil die Lehre des Christus viel weiter geht als dieses Gebot, diese praktische Nächstenliebe vernachlässigen. Dorkas (Apg 9,36) und Kornelius (Apg 10,1.2) sind für uns leuchtende Vorbilder aus der ersten Christenheit. In unserer Zeit relativer Wohlfahrt müssen wir uns alle die Ermahnung aus 1. Timotheus 6,17-19 sagen lassen: „Den Reichen in dem gegenwärtigen Zeitlauf gebiete, nicht hochmütig zu sein noch auf die Ungewissheit des Reichtums Hoffnung zu setzen, sondern auf Gott, der uns alles reichlich darreicht zum Genuss; Gutes zu tun, reich zu sein an guten Werken, freigebig zu sein, mitteilsam, indem sie sich selbst eine gute Grundlage für die Zukunft sammeln, damit sie das wirkliche Leben ergreifen.“

Es ist übrigens doch bemerkenswert, dass das Neue Testament immer zuallererst die Aufmerksamkeit auf unsere Verantwortung für unsere Mitmenschen richtet. Als Agabus prophezeit hatte, dass eine Hungersnot über die ganze Erde kommen würde, beschlossen die Jünger, „dass jeder von den Jüngern, je nachdem einer von ihnen begütert war, den Brüdern, die in Judäa wohnten, etwas senden sollte“ (Apg 11,29; vgl. Gal 6,10; Jak 2,15).

Bis hierhin haben wir über unsere persönliche Aufgabe in der Welt gesprochen. Um der verlorenen Menschenwelt das Evangelium zu bringen, brauchen wir nicht alle Missionare zu werden; wir können bei unserem Nachbarn und dem Bauern um die Ecke anfangen. Um christliche Dienstbeflissenheit zu zeigen, brauchen wir eigentlich nicht weiter zu gehen als zu den älteren Menschen, die uns gegenüber wohnen, und dem behinderten jungen Mann in der Straße nebenan.

Jedoch ist die Frage, die mit aller Macht aufkommt, diese: Muss es dabei bleiben? Oder müssen wir mehr tun? Aktionsgruppen bilden? Politische Parteien aufrichten? Ein christlich-politisches Programm aufsetzen? Einrichtungen für soziale Hilfe errichten? Kurzum: Wir haben bis jetzt darüber gesprochen, was wir auf der persönlichen Ebene tun können und müssen. Aber müssen wir nicht auch auf institutionaler Ebene an die Arbeit? Noch schärfer formuliert: Soll ein Christ Macht gebrauchen, um seine gewünschten sozialen Zielsetzungen zu erreichen? Ist es gut, eine christliche „Lobby“ zu bilden? Damit kommen wir zur Gretchenfrage: Inwieweit soll sich der Christ in den politischen und sozialen Machtkampf begeben?

Das Neue Testament über politische und soziale Aktionen

Wer Seite für Seite, Kapitel für Kapitel, Vers für Vers nachsucht, ob das Neue Testament uns etwas über die politische und soziale Aufgabe eines Christen mitteilt, macht viel Arbeit umsonst. Das ist tatsächlich sehr merkwürdig.

Die Schreiber des Neuen Testaments schrieben in einer Zeitepoche, als die Art und Weise, wie die Gesellschaft geordnet werden musste, nicht nur eine Frage der praktischen Politik war, sondern auch ernsthaft zur Diskussion stand. Man kann sich fragen, ob es wirklich möglich sein kann, dass Paulus hierüber niemals diskutierte. Epictetus, dessen Schriften nicht nur in einer Form erscheinen, die einigermaßen der von Paulus gleicht, sondern auch viel von den sozialen und moralischen Fragen beinhalten, die Paulus in seinen Briefen besprach, ist sich dieses Problems sicher bewusst. Dennoch sind wir gezwungen, festzuhalten, dass das Neue Testament keine Betrachtung über die Ordnung der Gesellschaft als einen auf sich allein gestellten Fall enthält.[5]

Die neutestamentlichen Schreiber […] befassen sich offensichtlich mit anderen Dingen.[6]

Das Neue Testament scheint nur ein geringes Interesse für die Probleme der Gesellschaft an den Tag zu legen. Das Allervornehmste, mit dem sich die neutestamentlichen Schreiber beschäftigen, ist das Evangelium.[7]

In der Tat, der Herr Jesus und die Apostel hatten scheinbar sozusagen etwas anderes im Kopf. Waren sie so mit dem Evangelium beschäftigt, dass sie für politische und soziale Aktivitäten gar keine Zeit mehr hatten? Das auch, jedoch ist das nicht das Einzige. Linder und Pierard, die selbst starke Fürsprecher für christliche Aktivitäten auf horizontaler Ebene sind, geben – wahrscheinlich ohne zu begreifen, was ihre Anmerkung beinhaltet – eine der Ursachen sehr gut wieder:

Wir stellen fest, dass, weil die ersten Christen die Wiederkunft des Herrn jeden Augenblick erwarteten, dies auf effektive Weise dafür sorgte, dass sie nicht viel Interesse für die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme ihrer Zeit hatten.[8]

Das ist genau das Problem! Hat es sich in der Geschichte der Christenheit nicht so zugetragen? Die brennende Erwartung des Kommens des Herrn, wie sie bei den ersten Christen vorhanden war, ging verloren. Der „Knecht“ sagt in seinem Herzen: „Mein Herr bleibt noch aus“, und er fängt an, „seine Mitknechte zu schlagen, und isst und trinkt mit den Betrunkenen“ (Mt 24,48.49) – das heißt, die Christen vergaßen das Kommen des Herrn und fingen auf eigene Initiative hin an, Autorität auszuüben, und wischten die Grenzlinie zur Welt aus. Sind nicht viele Dinge, die für die frühe Kirche noch klar waren, schon sehr bald verschwunden? Was haben die Christen von ihrer himmlischen Stellung tatsächlich noch übrig behalten, von der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn, von der Autorität Christi, von der Stellung als Fremdlinge auf dieser Erde?

Absichtliches Schweigen

Die Haltung Christi und der Apostel den sozialen und politischen Fragen ihrer Zeit gegenüber ergab sich gleichwohl nicht nur dadurch, dass sie wichtigere Dinge zu tun hatten. Sie enthielten sich jeder dieser Aktivitäten sehr bewusst. Das wird bei den Gelegenheiten mehr als deutlich, bei denen an sich aller Grund bestand, in Aktion zu treten oder zumindest etwas zu sagen. Als die Zöllner zu Johannes dem Täufer mit der Frage kamen, was sie tun sollten, ging er nicht auf die falsche politische Haltung ein, die sie einnahmen. Er wies sie auf die Pflicht hin, nicht mehr zu fordern, als sie gemäß ihrer erteilten Richtlinien erheben durften. Den Soldaten, die ihn fragten, was sie tun sollten, machte er keine Ausführungen darüber, ob Krieg zu führen gerechtfertigt ist oder nicht. Er drängte sie nur, niemand falsch zu beschuldigen und mit dem Sold zufrieden zu sein [siehe Lk 3,12-14].

Genauso wie sein Vorläufer es tat, handelte der Herr Jesus selbst auch. „Zu derselben Zeit waren aber einige zugegen, die ihm von den Galiläern berichteten, deren Blut Pilatus mit ihren Schlachtopfern vermischt hatte“ (siehe Lk 13,1-5). Das war ein grausames Auftreten des Stadthalters, das unter keinen Umständen zu rechtfertigen war. Wenn der Herr Jesus je eine politische Anmerkung hätte tätigen müssen, dann war das hier! Aber Er tat es nicht. Stattdessen richtete Er eindringlich das Wort an seine Zuhörer: „Meint ihr, dass diese Galiläer mehr als alle Galiläer Sünder waren, weil sie Derartiges erlitten haben? Nein, sage ich euch, sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle ebenso umkommen. Oder jene achtzehn, auf die der Turm in Siloam fiel und sie tötete: Meint ihr, dass sie mehr als alle Menschen, die in Jerusalem wohnen, schuldig waren? Nein, sage ich euch, sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle ebenso umkommen.“

Kurzum: Er machte von diesem Ereignis Gebrauch, um die Menschen mit noch mehr Nachdruck auf die Notwendigkeit ihrer Bekehrung hinzuweisen. Als die Juden Ihn in einem anderen Moment zu einer politischen Aussage verleiten wollten, tappte Er nicht in die Falle, die für Ihn aufgestellt wurde, sondern antwortete mit unübertroffener Weisheit: „Gebt daher dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Lk 20,25). Und, um ein anderes Beispiel zu nennen: Hatte Paulus, als er den geflohenen Sklaven Onesimus zu seinem Meister zurückschickte, nicht gleichzeitig eine gute Gelegenheit, um die Missstände der Sklaverei an den Pranger zu stellen? Der Apostel tat das gleichwohl nicht; kein Wort in diese Richtung ist im Brief an Philemon zu finden.

Gut [sagen Linder & Pierard[9]], Jesus und seine Jünger gehörten nicht einer politischen Partei an, strebten keinen Platz in der Regierung an, hielten keine politischen Reden und propagierten keine Aktionsprogramme. Aber genauso wenig war einer von ihnen Jurist oder Arzt, war einer von ihnen Gewerkschaftsmitglied, Soldat oder Geschäftsinhaber, und dennoch üben die Christen von heute diese Tätigkeiten aus.

Es bedarf kaum einer Beweisführung, wie schlapp dieses Argument ist. Leider ist es für die Argumentation dieses allgemeinen Standpunkts sehr anschaulich. Ich lasse mal außen vor, dass Zenas Jurist war und Lukas Arzt (Tit 3,13; Kol 4,14). Die Frage ist: Warum schweigen Christus und die Jünger über diese Themen auch dann, wenn sie – menschlich gesprochen – fast nicht umhin kommen, etwas dazu zu sagen? Sie schweigen trotzdem. Warum? Weil sie sich sehr bewusst nicht mit Politik beschäftigen wollten. Wer ein Nachfolger Christi sein will, sollte hierüber einmal gut nachdenken.

Die zwei Reiche

Die Fragestellung, die uns jetzt beschäftigt, können wir auch anders formulieren. Es gibt ein Königreich Gottes. Allerdings gibt es auch ein Reich dieser Welt, dessen Fürst Satan ist. Was ist nun das Verhältnis zwischen diesen beiden Reichen?

Im Mittelalter, vor allem in der Scholastik des Thomas von Aquin, meinte man, dass die Kirche die Leitung über beide Reiche hätte. Deshalb hätte sich die Kirche mit politischen Geschäften zu befassen. Deswegen haben sich Luther und Calvin auch dagegen aufgelehnt.[10] In der Vision von Calvin kommt Politik jedoch auf andere Weise wieder zum Vorschein: Die Kirche muss alles in ihrer Macht Stehende tun, um an dem Sieg des Königreiches Gottes mitzuwirken. Und das beinhaltet bzw. erfordert zuallererst politischen Streit. Das ist die Vision, die später durch Groen van Prinsterer herauskristallisiert wird:

Christus ist der Anfang und das Ende der Jahrbücher der Menschheit. Die Heilige Schrift enthält den Plan Gottes […]. Dieser Gottesplan ist in der Bibel entschieden und klar wiedergegeben. Der Sieg des Reiches von Christus über das des Menschenmörders von Anfang, Erlösung derjenigen, die dem Heiland durch aufrichtigen Glauben einverleibt sind.[11]

Diesen letzten Worten können wir von Herzen zustimmen. In dieser Vision geht die Aufgabe des Christen jedoch weiter: mithelfen, mitstreiten, um den Sieg des Reiches Gottes über das der Welt Gestalt zu verleihen, „teilnehmen an der erlösenden Wirksamkeit von Christus für diese Welt“[12], „in einer progressiven Wirksamkeit [das Reich] wo möglich in progressiven Strukturen ausarbeiten“[13]. Ein ähnlicher Ton erklang auch auf dem Internationalen Kongress für Weltevangelisation 1974 in Lausanne. Die Redner – die übrigens alle aus rechtgläubigen Häusern stammten – betonten die Notwendigkeit von sozialer und politischer Aktion, weil die Kirche den Sieg von Christus in der Welt fortsetzen müsste.[14]

Leider wird bei diesem allem vergessen, wie die Bibel das Königreich Gottes in dieser Zeit sieht, nämlich als ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, weshalb Christus von seinen Dienern jetzt nicht erwartet, dass sie für Ihn kämpfen (Joh 18,36). „Ihr wollt herrschen?“, fragt Paulus die Korinther nicht ohne Ironie. „Ich wollte, dass es schon so weit wäre! Später werdet ihr herrschen, ihr und wir, wenn das Friedensreich anbricht. Wäre es nur schon so weit, dass ihr herrschtet, denn dann würden wir, die Apostel auch herrschen“ (siehe 1Kor 4,8). Nein, kämpfen und herrschen sind Dinge, über die wir als Christen nicht ansatzweise ins Grübeln kommen sollten.

Berkhof, Kuitert, Bonhoeffer, Cox

Bei H. Berkhof sind wir einen großen Schritt weiter. Vor allem kommt der Sieg des Königreichs nach seinen Gedanken durch Versachlichung und Säkularisierung: die Entthronung der heidnischen Mächte, der Tabus und naturalistischen Lebensmuster. Berkhof findet es nicht an erster Stelle wichtig, dass die christlichen Lebensnormen in der Gesellschaft eingeführt werden, erst recht nicht, dass der Mensch durch Glauben Christus einverleibt wird, worauf Groen noch Wert gelegt hat.[15]

Wenn wir noch einen Schritt weitergehen, landen wir bei Kuitert: Die Normen der Schrift spielen bei der Progression des Königreiches fast keine Rolle mehr. Die Soziologie und soziale Psychologie liefern uns die Normen für die Einsetzung von gesellschaftlichen Veränderungen. Das Königreich Gottes wird durch die Verschiebungen in der Welt sichtbar.[16]

Vielleicht geht Kuitert noch nicht so weit wie Bonhoeffer[17], nach dem es nur ein Reich gibt: die versöhnte, jedoch gottlose Welt. Wir müssen, so sagt Bonhoeffer, das separierte Reich Gottes einfach vergessen. Wir müssen für den anderen da sein; das erst ist wirkliches Christentum.

Für einen anderen neuzeitlichen Theologen, Harvey Cox, ist Theologie in seinem tiefsten Wesen Politik. Allerlei Ausdrücke aus der Glaubenslehre werden politisch übersetzt: Reue ist der Aufruf, die früheren Organisationsmethoden von Erziehung aufzugeben und neue Formeln zu entwerfen; Bekehrung ist die Bejahung der Verantwortung als Volljähriger usw.[18] Cox’ Theologie ist eine Theologie der Revolution.

Der Leser fragt sich vielleicht erstaunt, warum in aller Kürze die Sichtweisen dieser Theologen betrachtet werden. Ich bin mir auch durchaus bewusst, dass deren Theologie deutlich komplizierter ausfällt und nicht in wenigen Worten wiederzugeben ist. Mir geht es darum, durch das Nebeneinanderlegen der „Bildchen“ dieser verschiedenen Theologien zu zeigen, wie stark man abweichen kann, wenn man die schriftgemäße Sicht auf das Königreich loslässt. Die orthodox-reformatorischen Theologen können sich zwar mit aller Kraft gegen die Theologie der Revolution stellen, das nimmt jedoch nicht weg, dass diese Theologie nicht einfach vom Himmel gefallen ist. Sie ist eine Verlängerung der Linien, die bei Luther und Calvin anfangen, wenngleich mit Hinzufügung anderer Elemente.

Das Salz der Erde – das Licht der Welt

Ja aber, werden mir vielleicht mehrere entgegnen, ist es denn nicht biblisch, zu sagen, dass wir als Christen gemeinsam das Salz der Erde und das Licht der Welt sein sollen?

Das scheint ein starkes Argument zu sein. Niemand wird jedenfalls behaupten wollen, dass die Verse Matthäus 5,13-16 ihre Kraft für uns verloren haben. Aber genauso – wie übrigens immer – ist es auch hier von Wichtigkeit, uns zu fragen, was nun genau mit diesen Ausdrücken gemeint ist. Zunächst ist es wichtig, zu erwägen, dass über das Salz der Erde gesprochen wird und nicht über das Salz der Welt; über das Licht der Welt und nicht über das Licht der Erde. Die Jünger (und wir nach ihnen) sind gemäß der Worte des Herrn das Salz der Erde. Salz verhindert Fäulnis; die Erde ist der Schauplatz von Gottes Schöpfung, im Gegensatz zum Ausdruck „Welt“, womit sehr häufig das gottlose Weltsystem gemeint ist. Nochmals: Salz wehrt Verfall ab. Es verändert nicht so sehr viel an der Sache, sondern hält den Verfall auf. Genauso hat die Christenheit in der Vergangenheit funktioniert. Die Ordnungen der Schöpfung (z.B. die Ehrfurcht vor dem Leben, Treue in der Ehe, Gehorsam der Kinder den Eltern gegenüber) sind dank der Anwesenheit des Christentums auf dieser Erde bewahrt geblieben. Es sieht – in Klammern – danach aus, dass gerade in unserer Zeit das Salz kraftlos geworden ist. Auch in den Kreisen des Christentums werden die Schöpfungseinrichtungen beiseitegeschoben.

Des Weiteren sind wir das Licht der Welt. Solange der Herr Jesus in der Welt war, war Er das Licht der Welt (Joh 8,12; 9,5; 12,46). Jetzt, wo Er nicht mehr da ist, scheinen wir als Himmelslichter in dieser Welt, und durch das Licht, das von unserem Zeugnis abstrahlt, stellen wir (wenn wir es richtig machen) die Bosheit des verdorbenen Menschengeschlechts um uns her an den Pranger (Phil 2,15). Licht ändert an den Dingen nichts. Es zeigt nur, wie die Dinge in Wirklichkeit sind. „Dies aber ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Denn jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht bloßgestellt werden; wer aber die Wahrheit tut, kommt zu dem Licht, damit seine Werke offenbar werden, dass sie in Gott gewirkt sind“ (Joh 3,19-21).

Matthäus 5 zeigt uns also im Bild von „Salz“ und „Licht“ am allerwenigsten, dass wir uns auf politische Beschäftigungen der Welt einlassen sollen. Im Gegenteil: Licht schließt Finsternis aus. Und wenn wir als Licht funktionieren wollen, können wir keinen einzigen Kompromiss mit der Welt eingehen. Wir können demnach auch keinen Gebrauch von den Methoden dieser Welt machen. Und Salz ist nur brauchbar, wenn es pur und unvermischt ist. Je mehr es mit anderen Dingen vermischt wird, desto mehr wird es seine Kraft verlieren. Was uns also in diesen beiden Bildern gelehrt wird, ist, dass wir abgesondert, heilig sein müssen. Nur so können wir als kräftiges Zeugnis für Gott in dieser Welt funktionieren, wie Er es vorgesehen hat.

Der Obrigkeit untertan sein: Römer 13

Wie ist es denn nun richtig? Wir haben in dem Vorhergehenden vielleicht etwas negative Ausführungen gemacht: keine Einmischung in die Politik, keine sozialen Aktionen. Doch was sagt die Bibel denn Positives über das Verhältnis des Christen zum Staat? Nun, die Bibel hat, was unsere Beziehung zur Obrigkeit betrifft, eigentlich nur einen Auftrag für uns: untertan sein. Wir müssen dazu Römer 13 aufschlagen, um das sehen zu können. Zuerst muss allerdings noch darauf hingewiesen werden, dass die Obrigkeit nicht von Beginn der Schöpfung an existiert hat.[19] Gott hat die Regierung nach der Sintflut eingesetzt. Die Macht des Schwertes, die Autorität, Gewalt über den Mitmenschen und eventuell auch die Todesstrafe auszuüben, geht auf die Gebote zurück, die Gott Noah gab: „Wer Menschenblut vergießt, durch den Menschen soll sein Blut vergossen werden; denn im Bild Gottes hat er den Menschen gemacht“ (1Mo 9,6).

Nun gibt es die Obrigkeit aber. Wie müssen wir uns dann als Christen der Obrigkeit gegenüber verhalten? Untertan sein, sagt Römer 13: „Jede Seele sei den obrigkeitlichen Gewalten untertan; denn es gibt keine Obrigkeit, außer von Gott, diejenigen aber, die bestehen, sind von Gott eingesetzt. Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, widersteht der Anordnung Gottes; die aber widerstehen, werden ein Urteil über sich bringen. Denn die Regenten sind nicht ein Schrecken für das gute Werk, sondern für das böse. Willst du dich aber vor der Obrigkeit nicht fürchten? So übe das Gute aus, und du wirst Lob von ihr haben; denn sie ist Gottes Dienerin, dir zum Guten. Wenn du aber Böses verübst, so fürchte dich, denn sie trägt das Schwert nicht umsonst; denn sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe für den, der das Böse tut. Darum ist es notwendig, untertan zu sein, nicht allein der Strafe wegen, sondern auch des Gewissens wegen. Denn deswegen entrichtet ihr auch Steuern; denn es sind Gottes Beamte, die eben hierzu unablässig tätig sind. Gebt allen, was ihnen gebührt: die Steuer, dem die Steuer, den Zoll, dem der Zoll, die Furcht, dem die Furcht, die Ehre, dem die Ehre gebührt“ (Röm 13,1-7).

Das lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Diese Vorschriften gelten für „jede Seele“ und unter jeder Obrigkeit, „denn es gibt keine Obrigkeit, außer von Gott, diejenigen aber, die bestehen, sind von Gott eingesetzt“ (vgl. Spr 8,15; Joh 19,11). Galt das auch für die deutsche Gewalt in den Niederlanden während des Zweiten Weltkriegs? Ja sicher, auch diese Obrigkeit war „eine Einsetzung Gottes“, genau wie die Autorität der römischen Besetzer in Palästina (vgl. Joh 19,11!). Gilt das auch für die Sowjetunion?[20] Sicher, denn es gibt keine Obrigkeit, außer von Gott. Auf das bestehende oder nicht bestehende Recht von Widerstand gegen die Obrigkeit hoffe ich später zurückzukommen. Es ist nicht verwunderlich, dass viele Kommentatoren mit diesem Kapitel ihre Mühe haben. Vor allem bilden die Verse Römer 13,3 und 4 ein Problem: Paulus sagt dort ganz allgemein, dass die Obrigkeitspersonen nicht für ein gutes, sondern ein böses Werk zu fürchten sind. Galt das auch für Hitler-Deutschland? Und gilt das jetzt für die Länder hinter dem Eisernen Vorhang[21]? Kaye[22] sagt dazu:

Die Schwierigkeit ist, dass das als allgemeine Behauptung nicht standhalten kann, weil es offensichtlich unwahr und daher bedingungslos ist. Paulus sagt nicht: „Die Obrigkeitspersonen müssen …“, oder: „Wenn die Obrigkeitspersonen“, sondern als bedingungslose Tatsache stellt er fest: „Die Obrigkeitspersonen sind …“ Hiervon ausgehend und von den historischen Umständen der Zeit, als dies geschrieben wurde, ist es schwierig, dem Gedanken zu widerstehen, dass Paulus hier über die speziellen Gewaltenträger seiner Zeit sprach.

Diese Argumentation zeigt keine große Ehrfurcht vor der Schrift. Wenn jemand die These aufstellt, dass ein Bibeltext „offensichtlich unwahr“ ist, und dann die Schlussfolgerungen zieht, ist das sicher kein gehorsames Hören auf das Wort. Es scheint die Absicht dieser Texte zu sein, die Grundsätze unserer Beziehung zur Obrigkeit zu skizzieren. Die Obrigkeit ist die Dienerin Gottes (Röm 13,4). Dass sie nicht immer exakt gehorsam Gott gegenüber handelt, ist etwas, womit wir als Christen nicht direkt etwas zu tun haben. Ob die Obrigkeit immer so auftritt, dass sie das Gute belohnt und das Böse bestraft, ist nicht an uns zu beurteilen. Darüber muss die Obrigkeit Gott Rechenschaft ablegen. Wir müssen der Obrigkeit schlicht und einfach untertan sein.

Selbstverständlich kann es sein, dass der Gehorsam Gott gegenüber und der Gehorsam der Obrigkeit gegenüber nicht zusammenzubringen sind. In diesem Fall muss Ersteres den Vorrang haben. Doch in allen anderen Fällen haben wir die Obrigkeit zu akzeptieren, wie sie ist: gut oder böse, freundlich uns gegenüber oder unfreundlich, tolerant oder tyrannisch.

Pflichten des Menschen

Oben wurde unser Verhältnis zur Obrigkeit ausgemalt. Dieses Gemälde sieht ganz anders aus als das Bild, das uns heutzutage meistens vor Augen gestellt wird. Nicht die Rechte des Menschen, sondern die Pflichten des Menschen werden in der Bibel betont. Und gerade als Christen sind wir „Kinder des Gehorsams“ geworden (1Pet 1,14). Wir sollten zeigen, was Gehorsam ist! In unserer Zeit wird viel von den Rechten des Menschen gesprochen. Ich will hier gleichwohl die Behauptung verteidigen, dass es aus biblischer Sicht zumindest sehr zweifelhaft ist, ob wir das so sagen können. Wenn wir dieses Problem mit der Frage des Verhältnisses Bürger/Obrigkeit verknüpfen, hoffe ich zeigen zu können, dass wir vom biblischen Standpunkt aus nicht über Rechte, sondern über Pflichten sprechen müssen. Ich will diesen Punkt zuspitzen mit der Frage, ob wir ein Recht zum Widerstand haben. Denn bei dieser Fragestellung wird das Problem der Menschenrechte akut. Die Frage ist nicht nur, ob wir uns selbst abstrakte Rechte zuerkennen, sondern ob wir die Rechte verwirklichen können und ob wir uns diese Rechte zu eigen machen können, wenn sie uns durch die Obrigkeit abgesprochen werden. „Wenn der Staat einen dämonischen Charakter erhält, dann ist passiver und aktiver Widerstand erlaubt und rechtmäßig“, schreibt Weinkauff.[23]

Das Recht auf Widerstand, das er damit umschreibt, wird durch fast niemand abgestritten. Verdross[24] nennt nur Pufendorf, Hobbes und Kant als Gegner. Theologen wie Calvin, Althusius und Jüngere wie Wulf, Brunner, Dibelius (die Reihe könnte fortgesetzt werden) haben das Recht auf Widerstand verteidigt.[25] Und doch … ist es biblisch, dass wir das Recht haben, uns der Obrigkeit zu widersetzen, sobald diese das Recht abspricht?

Das Recht, ungehorsam zu sein

Gewöhnlich werden zwei Stellen aus dem Neuen Testament zitiert, um das Recht auf Widerstand zu stützen. Die eine finden wir in Lukas 20,25: „Gebt daher dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ Die Schlussfolgerung ist dann: „Wenn ich davon überzeugt bin, das dasjenige, was die Obrigkeit von mir verlangt, im Widerspruch zum Willen Gottes steht, habe ich das Recht, ungehorsam zu sein.“ Die andere Stelle ist Apostelgeschichte 5,29: „Petrus und die Apostel aber antworteten und sprachen: Man muss Gott mehr gehorchen als Menschen“ (vgl. Apg 4,19). Daraus wird dann geschlussfolgert, dass ich das Recht habe, ungehorsam zu sein, wenn ich davon überzeugt bin, dass dies nach dem Willen Gottes ist.

Wer aufmerksam liest, sieht, dass die Schlussfolgerungen sich nicht auf diese Stellen stützen können. Unbemerkt wird hier ein kleiner Gedankensprung gemacht, wodurch die Vorgehensweise um genau 180 Grad umgedreht wird. Was sagt Apostelgeschichte 5,29 nun genau?

  • Man muss gehorsam sein. Das ist die normale Haltung des Menschen als Geschöpf. Weder unser Verstand (Descartes) noch unser Gewissen (Kant) sind autonom.
  • Man muss Gott gegenüber gehorsam sein. Denn Gott ist der Allerhöchste; Er hat als Schöpfer Recht auf Gehorsam seiner Geschöpfe.
  • Man muss Menschen gegenüber gehorsam sein, das heißt „jeder menschlichen Einrichtung“ (1Pet 2,13), die über uns gestellt ist und die Gewalt über uns hat. Die Bibel kennt nur eine Rechtsnorm in so einem Verhältnis: Gehorsam.
  • Man muss Gott mehr gehorchen als Menschen. Wenn eine Konfliktsituation entsteht, in der Gehorsam Gott gegenüber nicht mit dem Gehorsam Menschen gegenüber zusammengehen kann, muss der Gehorsam Gott gegenüber vorgehen.

Ist es nicht eigenartig, dass dieser Text, der über Gehorsam schlechthin spricht, gebraucht wird, um das Recht auf Ungehorsam zu stützen? Dasselbe gilt für Lukas 20,25. Auch dort wird uns nicht das Recht zugestanden, dem Kaiser etwas weniger zu geben, sondern es wird die Pflicht angesprochen, dem Kaiser das Seine zu geben und Gott das Seine zu geben. Wer hier ein Recht zum Ungehorsam hineinliest, stellt die Sache auf den Kopf.

Man wird mir entgegenhalten: Aber es kommt doch auf dasselbe raus? Ganz bestimmt nicht! Die Herangehensweise ist eine ganz andere und das Ergebnis ist auch ganz anders. Es ist ein gehöriger Unterschied, ob ich das Recht habe, mich der Obrigkeit zu widersetzen – denn dann mache ich selbst aus, wann der Augenblick dazu gekommen ist –, oder ob ich die Pflicht habe, zu gehorchen, sei es Menschen, sei es Gott – denn dann habe ich selbst nichts mehr zu sagen. Um das Recht auf Widerstand zu verteidigen, wird auf die Tatsache hingewiesen, dass es im Alten Testament so scheint, dass Gott manchmal Obrigkeiten richtet, indem Er sie durch andere ersetzt, und manchmal sogar Menschen aufträgt, als Instrument aufzutreten (z.B. Jehu). Allerdings findet erstens in solchen Fällen eine regelrechte Gottesoffenbarung statt, und zweitens kann man die Vorschriften des Alten Testaments, als es eine direkte Gottesregierung gab (Theokratie), nicht ohne weiteres in unsere Zeit übertragen.

Ist die Obrigkeit immer Obrigkeit?

Ein anderes Argument für das Recht auf Widerstand ist, dass der Charakter der Obrigkeit sich dahingehend ändert, so dass er einen dämonischen Charakter erhält. Hört die Obrigkeit auf, Obrigkeit zu sein, wenn sie sich nicht mehr an die Menschenrechte hält? Hört die Wirkung von Römer 13 dann auf? Das scheint doch die Schlussfolgerung von vielen[26] zu sein – aber woher holen sie das? Nicht aus Römer 13, denn dort ist nicht im Entferntesten ein Hinweis in diese Richtung zu finden. Die Argumentation, die man häufig hört[27], ist ungefähr diese: Als Paulus Römer 13 schrieb, waren die großen Verfolgungen noch nicht ausgebrochen und der Staat war noch nicht „dämonisiert“. Durch Johannes in Offenbarung 13 wird die Obrigkeit als Tier vorgestellt. Diese zwei verschiedenen Visionen über die Obrigkeit müssen wir – so sagt man dann – einkalkulieren, um zu einem Gesamtbild zu gelangen. Abgesehen davon, dass dies doch eine sehr vage Argumentation ist, zeigt sie wenig Ehrfurcht vor der Schrift. Können wir Römer 13 einfach mit Berufung auf Offenbarung 13 zur Seite schieben? Übrigens, wo sagt Offenbarung 13, dass wir das Recht haben, uns gegen die Obrigkeit zu widersetzen? Wir müssen gut verstehen, um was es in Offenbarung 13 geht. Dort sehen wir zwei „Tiere“, wovon das erste Tier auf ein Weltreich der Zukunft deutet (das wiederhergestellte Römische Reich) und das zweite Tier auf den Antichristen, den falschen Propheten, den Pseudo-Messias, den religiösen Verführer der Zukunft. Es geht um eine Beschreibung der Endzeit. Der Antichrist wird an „den Kleinen und den Großen und den Reichen und den Armen und den Freien und den Knechten“ ein Malzeichen auf ihre rechte Hand oder auf die Stirn geben. Wer dieses Malzeichen verweigert, wird nicht mehr am wirtschaftlichen Leben teilhaben dürfen (Off 13,16.17). Können die Jünger Christi das Malzeichen akzeptieren? Natürlich nicht. Damit würden sie ihren Herrn verleugnen. Die Treue der Gläubigen in der Endzeit dem Herrn gegenüber wird sich dann ganz speziell darin zeigen, dass sie die Annahme dieses Malzeichens verweigern (s. Off 20,4). Hier muss Gehorsam Gott gegenüber die Priorität vor dem Gehorsam den Menschen gegenüber haben.

Schließlich: Es muss doch für jeden, der sich vor der Schrift beugt, klar sein, dass Paulus und Johannes nicht durch die Umstände ihrer Zeit, sondern durch den Geist inspiriert wurden. Damit verfällt auch das Argument, dass der Staat in unseren Tagen komplizierter ist und viel mehr Funktionen hat als der in der Zeit von Paulus.[28]

Ich bin mir durchaus bewusst, dass in der biblischen Vision, die ich gerade geschildert habe, die Probleme nicht einfacher werden. Man denke nur an den Widerstand im letzten Krieg. Ich enthalte mich lieber, was das Urteilen über konkrete Situationen betrifft. Diese sind im Einzelnen so verschieden, und die Umstände spielen dabei eine so unterschiedliche Rolle, dass wir darin wirklich vorsichtig sein müssen. Doch prinzipiell verhält es sich nach meiner festen Überzeugung auf der Grundlage der Schrift so, wie ich das hier dargelegt habe.

Noch einmal Menschenrechte

Von dem Recht auf Widerstand wieder zurück zu den Menschenrechten. Es ist nützlich, einmal eine Anzahl sogenannter Human Rights zu nennen und festzustellen, wie die Bibel über diese Dinge als eine Pflicht spricht. Ausgangspunkt ist eine Einteilung, die Professor RA P. van Dijk vornimmt.[29] Er unterscheidet einerseits Kernrechte und andererseits Partizipationsrechte. Kernrechte betreffen „fundamentale Bedürfnisse“, wovon die meisten in Artikel 4 des Vertrages der Vereinten Nationen aufgenommen sind. Partizipationsrechte sind die Rechte, die nötig sind, um die Kernrechte realisieren zu können. Die Liste beansprucht keine Vollständigkeit. Der Einfachheit halber folge ich der Aufzählung von van Dijk.

1. Kernrechte

  • Recht auf Leben
    biblisch: Pflicht, Ehrfurcht vor dem Leben zu haben (2Mo 21,12-36)

  • Recht auf adäquate Nahrung, Unterkunft, Kleidung, medizinische Versorgung
    biblisch: Pflicht, den Hungernden zu nähren, Nackte zu bekleiden und Obdachlose zu beherbergen (Jes 58,7; Jak 2,15.16)

  • Recht auf Integrität der Person
    biblisch: Pflicht, den „Nächsten zu lieben, wie dich selbst“

  • Recht auf Schutz vor Sklavendienst, Folterung etc.
    biblisch: (Beachte: sogar in der damaligen Zeit!) Pflicht, einen geflüchteten Sklaven nicht hart zu behandeln (5Mo 23,16.17; vgl. den Brief an Philemon)
    biblisch: Pflicht, nicht unnötig schwere Strafen zu erteilen (5Mo 25,1-3)

2. Partizipationsrechte

  • Recht auf Erkennung als Person durch das Gesetz
    biblisch: Pflicht, den Mitmenschen ohne Ansehen der Person zu behandeln (Jak 2,1-9)

  • Recht auf Teilnahme an der Beschlussfassung
    In einem Artikel in Bijbel en wetenschap nennt RA De Blois dieses Recht politischer Partizipation auch.[30] Was er schreibt, ist allerdings sehr anfechtbar. Ich zitiere: „Angesichts der Staatsstruktur der repräsentativen Demokratie in der heutigen Zeitenwende im Westen ist für die Erfüllung der Obrigkeitsaufgaben die Partizipation der Bürger unentbehrlich“ (vgl. a.a.O. Anmerkung 70). War das Recht an politischer Partizipation in den Jahren 1940 bis 1945 in Westeuropa denn nicht anwesend? Und hört es momentan am Eisernen Vorhang auf? Sollten wir denn Karl Marx nicht Recht geben? „Ein Pfarrer kann zwar erzählen, dass Gott in Frankreich das eine will und in England das andere. Wenn ich allerdings von ihm verlangen würde, eine Erklärung für die Zwittrigkeit zu geben, könnte er mir antworten, dass es Gottes Wille ist, in Frankreich den einen Willen zu haben und in England den anderen.“[31]Dies ist keine gesunde prinzipiell biblische Argumentation, sondern purer Opportunismus. Hierauf komme ich übrigens später noch zurück.

  • Recht auf Partizipation im Arbeitsprozess
    biblisch: Pflicht, zu arbeiten (1Mo 3,17-19)

  • Recht auf soziale Sicherheit
    biblisch: Pflicht, für verarmte Mitmenschen zu sorgen (5Mo 15,7-11)

  • Religionsfreiheit
    biblisch: Pflicht, Gott zu dienen (5Mo 10,20). Andererseits zwingt Gott in dieser Ihm feindlich gesinnten Welt niemand: „Wer hören will, der höre, und wer es lässt, der lasse es; denn ein widerspenstiges Haus sind sie“ (Hes 3,27)

  • Vereins- und Versammlungsfreiheit
    biblisch: Christen müssen Andersdenkenden Versammlungen zugestehen (Apg 19); sie müssen natürlich im Rahmen des Erlaubten abgehalten werden (Apg 19,39). Die Christen haben selbst nicht das Recht, sondern die Verantwortung, zusammenzukommen (Heb 10,25).

3. Meinungsfreiheit

Zu diesem letzten Punkt noch eine Anmerkung, weil viele meinen, dass gerade die Meinungsfreiheit das große Gut ist, das die Reformation uns gegeben hat. Das ist jedoch ein hartnäckiges Missverständnis. In der Reformation ging es nicht um das Recht der Menschen, sagen und tun zu können, was sie wollten, sondern um das Recht Gottes, direkt zu den Menschen zu reden, und um die Pflicht der Menschen, Ihm dann zu gehorchen. Die legendären (historischen oder auch nicht historischen) Worte Luthers, ausgesprochen auf dem Reichstag zu Worms, waren nicht: „Hier stehe ich, ich will nicht anders“, sondern: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“

Und damit wird dann zugleich der Unterschied zwischen beiden Sichtweisen klar. Die Bibel spricht nicht über Rechte, sondern über Pflichten. Die Bibel spricht mich auf der moralischen Ebene an; sie weist mich auf meine Verantwortung hin. Wenn ich über Rechte spreche, ist mein Finger zu einem anderen hin ausgestreckt: Du musst meine Integrität respektieren, du musst meine Freiheit respektieren usw. Ich selbst bin dann das autonome Subjekt von Rechten und der andere hat die Pflichten mir gegenüber. Auf diese Weise wird der Mensch, das Ich, in den Mittelpunkt des Universums gerückt! Vier Jahrhunderte humanistische Philosophie im Westen (seit Descartes) haben uns einer gewissen Gehirnwäsche unterzogen. Das ist jedoch absolut unbiblisch. Deswegen ist es eine Lebensnotwendigkeit, an dem festzuhalten, was die Schrift sagt: der Obrigkeit untertan sein. Das ist das Einzige, was wir als Christen der Obrigkeit gegenüber zu tun haben.

Wir leben doch in einer anderen Zeit?

Alles gut und schön, mag jemand sagen, aber wir leben nicht in der gleichen Zeit wie Paulus. Damals war sicher für den Durchschnittsbürger keine Rede von Demokratie. Nun, wo wir allerdings eine Demokratie kennen, dürfen wir doch sicher von dieser Errungenschaft Gebrauch machen?[32]

Auf den ersten Blick scheint das ein annehmbares Argument zu sein. Nach nochmaliger Überlegung sollte es allerdings jedem deutlich geworden sein, dass man damit die Autorität der Bibel ziemlich relativiert. Wird die Autorität des Wortes Gottes durch die Zeit begrenzt? Ist diese Autorität darüber hinaus auch geographisch eingeschränkt? Denn das Letzte ist durchaus die Konsequenz: Gläubige in der Sowjetunion sollten sich dann einfach an Römer 13 halten (soweit es geht), und wir in den demokratischen Niederlanden [bzw. im demokratischen Deutschland] dürfen längs der verfügbaren demokratischen Wege frei an der Macht teilnehmen.[33] Ist das nicht eine etwas krumme Argumentation? Außerdem – und das ist noch viel wichtiger – ist es tatsächlich noch die Frage, welche Situation die idealste ist. Wir leben in einem demokratisch regierten Land und wir sind dankbar dafür. Wir kennen nichts Besseres. Aber ist Demokratie wirklich so ideal? Ist Demokratie von Gottes Standpunkt aus betrachtet eigentlich die gerechteste Staatsform?

Viele Christen werden erstaunt sein, dass es einen Bibelabschnitt gibt, der diese Frage verneint. Dieser Abschnitt steht in einem wohlbekannten Kapitel: im zweiten Kapitel des Buches Daniel. Dort lesen wir, was Nebukadnezar in seinem Traum sah: ein gewaltig großes Bild, sein Kopf war von Gold, seine Brust und die Arme aus Silber, Bauch und Lenden aus Kupfer, die Beine aus Eisen und die Füße aus Eisen und Ton.

Das Bild von Nebukadnezar

Was symbolisiert dieses Bild? Zuallererst sehen wir darin die aufeinanderfolgenden Weltreiche: Das goldene Haupt ist Nebukadnezar. Ein Vergleich mit Daniel 7, wo die vier Tiere ebenfalls vier Weltreiche symbolisieren (in diesem Kapitel sind die vier Weltreiche leichter zu erkennen), lehrt uns, was die anderen Teile des Bildes bedeuten: Mit der Brust und den Armen ist das Medo-Persische Reich gemeint, mit dem Bauch und den Lenden das Griechisch-Mazedonische Reich, mit den Beinen aus Eisen und den Füßen aus Eisen und Ton das Römische Reich.[34] Vergleiche auch Daniel 8, besonders Verse 21f.

Aber warum ist eine Abnahme in dem Gehalt des verwendeten Materials festzustellen? Warum diese Reihenfolge: Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Eisen mit Ton? Die Antwort darauf finden wir, wenn wir uns darüber im Klaren sind, worum es in Daniel 2 geht. Es geht hier eben um die Macht, die den Menschen von Gott anvertraut wird. Der Machthaber tritt hier als Stellvertreter Gottes auf. Inwiefern spiegeln die irdischen Machthaber nun die Macht wider, die Gott selbst hatte? Bei Nebukadnezar war das Bild praktisch vollständig: „Du, o König, du König der Könige, dem der Gott des Himmels das Königtum, die Macht und die Gewalt und die Ehre gegeben hat; und überall, wo Menschenkinder, Tiere des Feldes und Vögel des Himmels wohnen, hat er sie in deine Hand gegeben und dich zum Herrscher über sie alle gesetzt – du bist das Haupt aus Gold“ (Dan 2,37.38). Achten wir darauf: Hier geht es nicht um die persönliche Vortrefflichkeit Nebukadnezars, sondern um die Frage, inwiefern seine Machtposition die absolute Herrschaft Gottes widerspiegelte. Und dann gilt: Gott hat Nebukadnezar „das Königtum und die Größe und die Ehre und die Herrlichkeit verliehen; und wegen der Größe, die er ihm verliehen hatte, bebten und fürchteten sich alle Völker, Völkerschaften und Sprachen vor ihm. Wen er wollte, tötete er, und wen er wollte, ließ er leben; und wen er wollte, erhob er, und wen er wollte, erniedrigte er“ (Dan 5,18.19). Die Fürsten des Medo-Persischen Reiches trugen in dieser Hinsicht viel weniger deutlich das Bild Gottes. Für sie galt eine starke Einschränkung: Wenn sie einmal ein Gesetz erlassen und ihre Unterschrift daruntergesetzt hatten, dann waren sie daran gebunden. Dies wird in Daniel 6 und im Buch Esther deutlich.

Alexander der Große, der Fürst des Griechisch-Mazedonischen Reiches, war noch weniger ein Alleinherrscher. Seine Generäle hatten oft das Sagen, und nach seinem Tod verteilten sie dann sein Reich untereinander. Im Römischen Reich, dem folgenden Teil von Nebukadnezars Bild, war der Kaiser am allerwenigsten allmächtig. Er musste eine weitgehende Einmischung des Senats erlauben, und in vielen Fällen waren es die Generäle, die den Dienst ausmachten. Kurzum: Wir sehen in dem Bild Nebukadnezars, dass Gottes Anerkennung einer bestimmten Staatsform überhaupt nicht mit unserer parallel verläuft. Je weniger die Obrigkeit die Macht Gottes widerspiegelt, desto weiter ist sie von Gottes Idealbild entfernt. Vielleicht ist das nicht leicht zu verdauen für Menschen wie uns, die wir gewohnt sind, die Demokratie über den grünen Klee zu loben – aber es ist die Frage, ob wir wirklich so gut daran tun.

Warum eigentlich Demokratie?

Der Name von Niccolo Macchiavelli, der 1523 sein berühmtes Buch Il Prinicipe (Der Fürst) schrieb, lebt als Redewendung in dem Adjektiv „macchiavellistisch“ weiter. Das ist kein schmeichelndes Wort; damit wird ein absolut unmoralischer Gebrauch der Macht angedeutet. Macchiavelli schien Anlass dazu zu geben, denn er meinte tatsächlich, dass der Machthaber keiner einzigen Form von Moral unterworfen zu sein brauchte, sondern dass er selbst bestimmen sollte, was gut und böse war. Die Moral ist dem Staat unterworfen. Für eine Auffassung, die von unserer Denkweise so weit entfernt ist, scheint wenig zu sprechen. Doch ist dieses Modell an sich ganz und gar nicht so verwerflich, wie es einem heutzutage glauben gemacht wird. Vielleicht stehen Ihnen die Haare zu Berge, wenn Sie dieses lesen, aber das kommt zum großen Teil daher, weil Sie und ich von einer Kultur durchtränkt sind, für die Demokratie alles ist. Das Modell von Macchiavelli ist gut; das Problem ist nur: Wo findet man einen Machthaber, der gut ist?

Macchiavelli selbst hat sich darüber nie den Kopf zerbrochen, aber doch ist diese Frage der einzige Grund, warum sein Modell nicht zu verwirklichen ist. Aus dem Licht der Schrift wissen wir – wenn unsere Erfahrung das noch nicht deutlich genug sagt –, dass es keine absolut guten Menschen gibt, sondern dass jeder Mensch von Natur aus durch und durch sündig ist.

Als Evita Perón, die Frau des verstorbenen berühmten argentinischen Diktators, sich einmal öffentlich über die negative Darstellung ihres Mannes in der ausländischen Presse beklagte und bemerkte, dass er doch so ein netter Mann sei, trieb die ganze Welt ihren Spott. Eben eine Frau, die von Politik keine Ahnung hat! Aber Godfried Bomans wies in einem ironisierenden, aber ernst gemeinten Artikel nach, dass gerade dies eben das einzige bedeutende Kennzeichen eines Diktators ist. Wenn jemand alle Macht besitzt, ist es gerade von größter Bedeutung, ob er ein netter Mann oder ein Schuft ist.[35] Wenn wir heutzutage von einem anderen Modell ausgehen, nämlich von der Demokratie, von der kollektiven Macht (oder von der Diktatur der 51 Prozent), dann wird das manchmal ein Beweis einer viel zu optimistischen Sichtweise über den Menschen sein. Die Argumentation, die dahintersteht: Nicht alle Menschen sind schlechte Menschen, das sind nur Einzelne, und deswegen darf man kein diktatorisches System einführen, denn dann riskiert man, dass so ein schlechter Mensch die Macht erhält. Aber wenn man weiß, dass alle das Sagen haben, dann werden zwar hier und dort einige unmoralischen Menschen darunter sein, aber das ist nur eine Minderheit und die kommt doch nicht zum Zug. Aber Gott sagt: Alle haben gesündigt …

Gottes Idealbild

Gottes Idealbild ist: die absolute Monarchie, die Alleinherrschaft, jedoch durch einen vollkommenen Menschen. Jahrhunderte sind verstrichen, ohne dass dieses Idealbild verwirklicht wurde. Selbst Fürsten, die Gott in eine Position der absoluten Macht gestellt hatte (wie z.B. Salomo und Nebukadnezar), versagten. Durch ihr Auftreten wurde deutlich erkennbar, dass das große Problem nicht am System lag, sondern am Menschen. Und doch wird Gottes Idealbild verwirklicht werden! „Ein Herrscher unter den Menschen, gerecht, ein Herrscher in Gottesfurcht; und er wird sein wie das Licht des Morgens, wenn die Sonne aufgeht, ein Morgen ohne Wolken: Von ihrem Glanz nach dem Regen sprosst das Grün aus der Erde“ (2Sam 23,3.4). Der Gott des Himmels wird „ein Königreich aufrichten, das in Ewigkeit nicht zerstört werden wird“ (Dan 2,44). Der Herrscher über dieses Reich heißt Jesus Christus. Alle Herrscher versagten; Er wird jedoch herrschen in der Vollkommenheit, die Ihm eigen ist. Die wunderbare Beschreibung, die Psalm 72 über das Friedensreich gibt, wird dann erfüllt werden. Von Ihm kann gesagt werden: „Dein Thron, o Gott, ist immer und ewig; ein Zepter der Aufrichtigkeit ist das Zepter deines Reiches. Gerechtigkeit hast du geliebt und Gottlosigkeit gehasst; darum hat Gott, dein Gott, dich gesalbt mit Freudenöl, mehr als deine Genossen“ (Ps 45,7.8).

Auch Demokratie ist Tyrannei

Vielleicht sagt jemand wiederum: Ja, das ist alles scharfsinnig argumentiert, aber was mache ich damit? Wir haben nun mal eine demokratische Staatsform; die mag man heruntermachen, aber ist es nicht besser, in den gegebenen Umständen das Beste daraus zu machen? Wenn es bei uns nun einmal demokratische Einrichtungen gibt, ist es dann nicht besser, sie für Gott zu gebrauchen, anstatt diesen Bereich der Welt preiszugeben und zu überlassen? Können wir nicht, müssen wir nicht auf den vorhandenen Wegen so viel Einfluss wie möglich ausüben, um unsere christlichen Ziele in der Gesellschaft zu verwirklichen? Muss die Kirche (so wie es die Synode der Niederländischen Reformierten Kirche 1995 formulierte) sich nicht für die Aufrechterhaltung des Rechtsstaates und der Gesundung der demokratischen Gesellschaft in die Mitverantwortung stellen?[36]

Man braucht nicht in allem mit Larry Christenson einig zu sein, um zu erkennen, dass er im Bezug darauf eine klärende Abhandlung geschrieben hat.[37] Das folgende Beispiel ist dieser Abhandlung entnommen; es macht deutlich, was genau geschieht, wenn Christen in dieser Welt ihren Einfluss geltend machen.

Stellen Sie sich einmal ein kleines Dorf mit sieben Bürgern vor. Zwei von ihnen sind arm, ohne dass sie daran schuld wären. Drei andere Bürger wollen ihnen helfen, aber ihre Mittel reichen nicht aus. Die zwei anderen Bürger, die steinreich sind, zeigen kaum Mitgefühl. Die Frage ist nun, ob die fünf Übrigen jetzt das Recht haben, zu diesen beiden selbstsüchtigen Millionären zu gehen und zu sagen: „Wir haben beschlossen, dass ihr einen Teil eurer Güter mit diesen beiden armen Bürgern teilen müsst. Ihr habt nichts zu wählen; wir bilden die Mehrheit.“ Ist das keine Tyrannei? Ist das kein Diebstahl? Das zehnte Gebot sagt nicht: „Du darfst die Güter eines anderen begehren, falls er selbstsüchtig ist und du seine Güter für einen würdevollen Zweck gebrauchen willst.“ Es steht dort einfach nur: „Du sollst nicht begehren.“ Und doch ist es genau das, was überall auf der Welt in größerem Maßstab geschieht, wenn Christen sich in die Politik stürzen, um ihre Endziele zu verwirklichen. Es ist natürlich traurig, dass so viele Menschen in der Welt mit einem unbekümmerten Schulterzucken sagen: „Bin ich meines Bruders Hüter?“, aber es ist ebenso falsch, wenn wir als Christen sie zwingen wollen, ihres Bruders Hüter zu sein. So handeln wir nicht im Geist Christi und im Geist der Apostel. Paulus schrieb an Philemon: „Ohne dein Einverständnis wollte ich nichts tun, damit deine Wohltat nicht wie gezwungen, sondern freiwillig sei“ (Phlm 14).[38]

Was wollen wir eigentlich?

Es gibt noch ein anderes Problem, und das ist der Inhalt des Ziels, dem wir als Christen nachstreben müssen. Wofür sollen wir uns einsetzen? Für eine geringere oder für eine höhere Steuer? Für oder gegen die Anhebung des Kindergeldes? Für diplomatische Beziehungen mit China oder gerade dagegen? Nicht immer ist das ebenso schwierig: Wenn ein Christ für oder gegen Abtreibung wählen muss, dann wird das nicht so viel Unklarheit aufwerfen. Aber in 90 Prozent der Fälle ist solche eine Entscheidung ganz schwierig zu fällen, einfach weil die Schrift uns dazu wenig Anweisungen gibt. Prof. Dr. A.A.J. Smolders hat unlängst in einer Übersicht über die katholische Wirtschaftspolitik darauf hingewiesen, dass die katholischen Ökonomen im 19. Jahrzehnt durchaus erfolgreich darin waren, eine Art Wirtschaftstheorie aufzubauen, aber dass es ihnen nicht gelang, sie in die praktische Wirtschaftspolitik umzusetzen.[39] Das ist ein Problem, mit dem jeder Christ zu tun bekommt, der sich auf die Pfade der Politik begibt. Wir sahen das übrigens schon früher: Das Neue Testament gibt uns nicht sehr viele Hinweise. Wie spricht die Schrift über die Gesellschaft? Auf dem Symposium „Bijbel en Rechtswetenschap“ [Bibel und Rechtswissenschaften], das im Hauptgebäude der VU [der Freien Universität in Amsterdam] durch das Streitgespräch „Althusius“ veranstaltet wurde, machte der Jurist Prof. I. Kisch am 10. März 1978 einige Vorschläge:

  1. Der Pentateuch (die fünf Bücher Mose) geben größtenteils Vorschriften für eine Gesellschaft, die noch nicht besteht und die es erst im Gelobten Land geben wird.
  2. Das Neue Testament gibt Vorschriften für eine Gesellschaft, die es bald nicht mehr geben wird; es fällt tatsächlich auf, dass gerade dort, wo über „Rechtsverhältnisse“ gesprochen wird, oft im gleichen Atemzug die Christen auf den vorübergehenden und kurzen Aufenthalt auf der Erde hingewiesen werden (lies 1Kor 7,29-31; Röm 13,11-14; 1Pet 4,7 im Zusammenhang).

Ich füge noch hinzu, dass die Anweisungen, die wir im Neuen Testament finden, sich nicht allgemein auf alle erstrecken, sondern sich an Christen richten, die ihre Haltung in der Gesellschaft festlegen.[40]

Zusammenfassend können wir Folgendes feststellen:

  1. Die Normen der Schrift greifen zum Teil voraus auf einen Zustand, der noch nicht ist, der aber im Friedensreich völlig verwirklicht wird (wir leben nun in einer gebrochenen Welt).
  2. Die Normen der Schrift setzen zugleich eine sehr begrenzte, vorübergehende Situation voraus: Wir sind nur „Vorübergehende“, „Fremdlinge“ auf dieser Erde und warten auf das Kommen des Sohnes Gottes (vgl. z.B. Phil 3,20).
  3. Die Schrift richtet sich nur an Christen; es ist also sehr bedenklich (wie wir schon sahen), wenn Christen andere zwingen wollen, sich an diese Richtlinien zu halten.

Kompromiss

Doch selbst wenn wir wissen, was wir wollen, sind wir noch nicht dort. Die politischen Verhältnisse sind nahezu nirgends in der Welt so, dass die Christen eine Mehrheit bilden. Als Folge dessen müssen sie mit anderen zusammenarbeiten, um doch wenigstens einen Teil ihres Zieles zu verwirklichen. Und das führt dazu, dass in den Wein etwas Wasser geschüttet werden muss. Wenn es um den Bau eines Hafens oder um die Anhebung der Beamtengehälter geht, ist das nicht so schlimm, aber wenn es um moralische Dinge geht? In den Niederlanden wissen wir, wie ein Abtreibungskompromiss aussehen kann …

Komm, sagen Linder und Pierard, das darfst du doch nicht so eng sehen. Das gehört eben zum Risiko! Wir wollen doch nicht krampfhaft an dem festhalten, was wir für gut halten! Ein Christ ist doch frei? Wir sind doch keine Sklaven mehr? Sind wir dann nicht auch frei, um zu sündigen, wenn es notwendig ist?[41] „Frei, um zu sündigen.“ Es ist unvorstellbar, dass Christen so etwas behaupten können. Wir sind eben frei von der Sünde! Frei, um Gott zu dienen, um unser Leben in die Sklaverei der Gerechtigkeit zu stellen (siehe Röm 6,15-23). Man sieht, wo wir ankommen: Wer sich an der praktischen Politik beteiligen will, muss sich die Freiheit zum Sündigen vorbehalten, sonst braucht er gar nicht erst anzufangen … Womit ich übrigens nichts von der Tatsache wegnehmen will, dass einige christliche Parteien sich stets zu ihren Prinzipien gestellt haben. Aber wenn man dies tut (so wie z.B. die SGP[42]), bezahlt man den Preis dafür, dass ein echter Einfluss auf die Regierung nicht möglich ist. Man funktioniert dann als eine Art politisches Gewissen.

Noch einmal: Wir leben doch in einer anderen Zeit?

Wir sprachen bereits über das Argument, dass wir nun in einer anderen Zeit leben und deshalb die Anweisungen des Neuen Testamentes nicht mehr anzuwenden sind. Dieses Argument schien nicht haltbar zu sein. Aber von einem anderen Gesichtspunkt ist es ganz bestimmt von großem Belang, um die Zeit, in der wir leben, zu unterscheiden. Denn wir leben in der Tat in einer ganz besonderen Zeit! Allerdings …, es ist genau die Zeit, die im Neuen Testament beschrieben wird. Es ist das christliche Zeitalter, die Haushaltung der Gemeinde Gottes, die besondere Zwischenzeit, wenn Gott ein himmlisches Volk um sich versammelt. Wenn Bronnert[43] sich dann auch auf den Propheten Amos beruft, der gegen soziales und politisches Unrecht prophezeite, dann muss unsere Antwort sein: Wir leben nun in einer anderen Zeit! Es ist bedauerlich, dass das in der Christenheit so wenig unterschieden wird. Das hängt mit dem Gedanken der Kontinuität des Heils zusammen.[44] In den Kapiteln 2 bis 5 [in diesem Buch] wird in der Tat dieses Thema schon behandelt. Wir wollen es dennoch eben kurz zusammenfassen, um damit die Besonderheit dieses Themas auf den Punkt zu bringen:

  1. Gerade in dieser Zeit hat Gott das Geheimnis der Gemeinde offenbart (Eph 3,1-12). Damit verbunden ist unsere himmlische Stellung; wir sind (im Gegensatz zu den Gläubigen des Alten Testamentes) vor Grundlegung der Welt auserwählt und mit Christus in die himmlischen Örter versetzt (Eph 1,4; 2,5.6). Siehe weiter Kapitel 2.

  2. Gerade in dieser Zeit werden uns der Vater und der Sohn offenbart. Im Alten Testament wusste niemand davon (Joh 1,17.18). Im Gegensatz zu den Gläubigen des Alten Testamentes kennen wir Gott als Vater – und nicht nur so, wie Israel Ihn als den Ursprung kannte (vgl. Jes 11,2; Mal 1,6), sondern wir bilden zusammen die Familie Gottes. Wir dürfen Gemeinschaft haben mit dem Vater und dem Sohn (1Joh 1,1-4). Licht, Leben und Liebe bilden in der Familie Gottes einen krassen Gegensatz zu Finsternis, Tod und Hass, die in der Welt zu finden sind. Siehe weiter Kapitel 3.

  3. Gerade in dieser Zeit ist das Königreich Gottes auf diese Erde gekommen; allerdings noch nicht so, dass jeder dem König gehorcht; aber wir dürfen nun einen Teil davon ausmachen: als Menschen, die gelernt haben, Gott gehorsam zu sein, und die Jesus als Herrn anerkennen. Gerade in dieser Zeit ist das Königreich in dieser verborgenen, geistlichen Form anwesend. Siehe weiter Kapitel 4.

  4. Gerade in dieser Zeit sind Gläubige darum ganz besonders Pilger und Fremdlinge auf der Erde (1Pet 2,11). Weil unser Herr verworfen ist, teilen wir seine Stellung der Verwerfung; weil Er auf dieser Erde nicht anerkannt worden ist, fühlen wir uns hier ebenso wenig zu Hause. Siehe weiter Kapitel 5.

Dies alles ist in der Tat auch eine Antwort auf die oft gehörte Kritik: Was wird aus der Welt, wenn die Christen ihre Hände von der Welt abziehen? Was wird aus unserem Land? Die Antwort: Wir überlassen die Frage mit einem ruhigen Herzen Gott. Wir handeln – oder auch eben nicht – in Gehorsam seinem Wort gegenüber. Die Folgen gehen auf Gottes Konto. Ließ Abraham sich durch solche Überlegungen leiten, als er seinen Sohn opferte? Aber nein! Gehorsam tat er das, was Gott ihm auftrug, und er wusste, dass Gott die Folgen in gute Bahnen lenken würde. Übrigens: Stellte die völlig unpolitische Haltung der ersten Christen jemals eine Gefahr für den römischen Staat dar? Sicher, das Römische Reich brach zusammen – aber erst viereinhalb Jahrhunderte nachdem das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde. Nicht der apolitische Charakter des Christentums war die Ursache für den Fall des Römischen Reiches. Wenn man schon eine Ursache dafür suchen muss, dann lag es viel eher an der Vermengung von Christentum und Staat unter Konstantin.

Im Licht der Bibel kann ein Christ nicht anders, als sich jeder politischen Aktivität zu enthalten – von der Stimmabgabe bei Wahlen bis hin zu der Durchführung politischer Aktionen.

Praktisches Untertansein

Unser Verhältnis zur Obrigkeit ist im Licht des Neuen Testamentes also in einem Wort zusammenzufassen: Untertansein. Das ist übrigens eine ganz praktische Angelegenheit. Ich möchte gern einige Beispiele nennen, um das deutlich zu machen. Natürlich nur eine Auswahl, aber sie zeigt, von welch großer praktischer Bedeutung dieses Untertansein ist.

Ganz deutlich ist das Beispiel, wenn wir unsere Steuererklärung ausfüllen. Meistens sitzt kein anderer daneben, und der Beamte fragt nicht immer nach. Wie verhalten wir uns dann als Christen? Nicht umsonst nennt Paulus gerade die Steuer (Röm 13,6.7), als es um das Untertansein der Obrigkeit gegenüber geht. Natürlich ist es gestattet, von allen rechtmäßigen Abzugsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, aber es gibt durchaus Fälle, die uns auch als Christen in Versuchung bringen können, ungesetzliche Wege einzuschlagen. Bei Sparpapieren kann niemand kontrollieren, ob du sie hast oder nicht – dennoch muss ein Christ auch dann gewissenhaft über deren Zins für die Einkommenssteuer Rechenschaft abgeben und deren Besitz für die Vermögenssteuer veranschlagen. Ganz gewiss kann kein Christ Schwarzgeld jemals „weiß“ nennen. Ein anderes Beispiel: Die Lohn- und Preispolitik des Staates ist nicht immer verbunden mit wirtschaftlichen Kontrollen. Oft hat ein christlicher Arbeitgeber dann auch die Möglichkeit, diese Bestimmungen zu umgehen; ganz gewiss, wenn er dafür andere (Pseudo-)Argumente anführen kann. Als Christ, der der Obrigkeit untertan sein will, wird er das jedoch nicht tun können und wollen. Natürlich stehen ihm manchmal Rechtswege offen, und manchmal ist es notwendig und möglich, davon Gebrauch zu machen, wenn die Umstände dies fordern. Doch stets bleibt das Untertansein geboten. Wir dürfen es nicht dem Geist dieser Zeit gleichtun: Es kann ja beinahe keine Staatsentscheidung getroffen werden, ohne dass von vornherein Protest dagegen angekündigt wird. Christen steht es nicht zu, sich solchen Dingen anzuschließen.

Christen und Militärdienst

Es gibt noch ein Thema, das in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit verdient, und das ist die Wehrpflicht. Es ist ein Problem, und das umso mehr, weil – jedenfalls in den Niederlanden – die Möglichkeit besteht, die Wehrpflicht zu verweigern; dazu kann man einen offiziellen Weg beschreiten, um den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern, ohne dass dies zu Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit führen würde. Jeder Christ sollte intensiv darüber nachdenken, ob er diesen Weg beschreiten soll. Leider haben die meisten Wehrpflichtigen in dem Moment, wo sie eine Entscheidung treffen müssen, noch nie über dieses Problem nachgedacht – sie sind dann gewöhnlich auch noch sehr jung (18 oder 19 Jahre alt). Es ist nun nicht meine Absicht, alle Aspekte der christlichen Sicht zum Wehrdienst zu beleuchten; das soll eine separat erhältliche Broschüre tun.[45] Ich will dennoch stichwortartig einige Gründe nennen, warum wir als Christen dreimal nachdenken sollten, bevor wir uns zum Militärdienst einziehen lassen sollten:

  1. Erstens ist es für einen Christen bedenklich, seinen Feind zu töten. Hat Christus nicht das Gegenteil gelehrt: dass wir unsere Feinde lieben sollen (Mt 5,44)? „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses“ (Röm 13,10). Kann jemand ernsthaft darauf beharren, dass es Liebe ist, wenn er eine Stadt voll unschuldiger Menschen – Männer, Frauen und Kinder – durch ein Bombardement außer Gefecht setzt? Das sind trotzdem Situationen, die man selbstverständlich miterleben wird, wenn Krieg ausbricht; es ist die normale Folge des Militärdienstes. Es ist deutlich, dass ein Angriffskrieg auch für einen Christen unerlaubt ist. Aber, sagen einige, ein Verteidigungskrieg dann? Wenn nun die Kommunisten kommen? Die Frage ist jedoch, was wir dann verteidigen wollen. Unser eigenes Vaterland? Aber sind die Niederlande [ist Deutschland] denn unser Vaterland? Wir sind Bürger eines Reiches im Himmel (Phil 3,20). Das ist unser Vaterland. Was haben wir hier auf der Erde zu verteidigen? Greifen wir noch einmal zurück auf die Buchkapitel 2 bis 5. Wir sind Himmlische; warum also sollten wir uns in einen irdischen Streit hineinziehen lassen (siehe Kap. 2)? Wir sind Teil der Familie Gottes; welche Rolle sollten also Bande der Nationalität spielen können (siehe Kap. 3)? Wir sind versetzt in das Königreich Gottes und Christi; warum also sollten wir für andere Königreiche kämpfen (siehe Kap. 4)? Wir sind Fremdlinge und Pilger auf der Erde; warum also sollten wir hier auf der Erde für den Besitz eines Stücks Land kämpfen (siehe Kap. 5)?

  2. Jawohl, sagen viele, aber stell dir einmal vor, dass du mit deiner Frau spazieren gehst, und ein Bösewicht kommt auf sie zu und will ihr Böses tun – solltest du dann nicht den Eindringling überwältigen? In der Diskussion über dieses Thema werden immer wieder solche Bemerkungen gemacht. Aber obwohl viele auf diese Fragen keine Antwort wissen, liegt ein logischer Fehler darin. Man nimmt ein Modell (Mann und Frau gehen spazieren; Angreifer), und die Antwort auf die Frage, wie man dann handeln sollte, wird unmittelbar darauf angewendet, ob die Entscheidung für oder gegen den Militärdienst annehmbar ist. Die Frage ist jedoch, ob das Modell überhaupt stimmt:
    • Ich liebe meine Frau; aber ob ich das Land, in dem ich zufällig wohne, lieben muss, ist, biblisch gesehen, noch die Frage.
    • In diesem Modell wird der Gegensatz zwischen Gut und Böse unmittelbar deutlich; in der internationalen Politik liegen die Dinge meistens nicht so einfach.
    • In diesem Modell wird eine unmittelbare Handlung ohne Nachdenken erwartet; möglicherweise tue ich etwas, was mir später leid tut. Die Entscheidung, ob ich oder ob ich nicht in den Wehrdienst gehe, brauche ich jedoch nicht im Bruchteil einer Sekunde zu fällen.

Es ist nicht mein Ziel, Christen, die in den Wehrdienst gegangen sind, zu verurteilen; aber vielleicht bringt das oben Gesagte doch einige dazu, einmal intensiv zu überlegen, ob es so selbstverständlich ist, dass Christen den Waffenrock tragen.

Pseudopolitische Macht

Wir sind in etwa am Ende dieses Kapitels angekommen. Nun gibt es noch eine große Gefahr. Viele werden vielleicht meinen – und das gilt vor allem für diejenigen, die schon von vornherein damit einverstanden waren –, dass die Angelegenheit ganz einfach ist. Solch ein undifferenziertes Bild ist durchaus nicht berechtigt, und darum will ich dahingehend auch ernstlich davor warnen. Wir leben in einer unglaublich komplizierten Gesellschaft. Im 19. Jahrhundert war es klar, was eine politische Tätigkeit war und was nicht; nun ist das viel schwieriger zu erkennen. Anders gesagt ist es vor allem durch leitende Funktionäre sehr schwierig, den heißen Brei der Politik völlig zu meiden. Hohe Beamte haben in zunehmendem Maß sowohl ein politisch-beratende als auch eine politisch-bildende Funktion; in große Betrieben kommen die Gewerkschaften hinein, ob man es will oder nicht; es muss ebenfalls einen Betriebsrat geben, und auch damit droht die Politik, in die Betriebe hineinzugelangen. Immer mehr müssen besonders Betriebe in ihren Abschreibungen politische Empfindlichkeiten berücksichtigen – die Forderung nach einer Nicht-Jude-Erklärung durch arabische Länder ist nur ein Beispiel davon. Im Schulwesen kommt man auch nicht darum herum, die alltäglichen Dinge zu besprechen.

Kurzum: Wer meint, dass ein Christ Politik absolut meiden kann, zeigt damit erschreckende Naivität. Außerdem ist es die Frage, ob jedes Reden über Politik vermieden werden muss. Oft haben politische Probleme (z.B. Abtreibung!) moralische und geistliche Aspekte, und dann kann es sehr gut sein, darüber zu sprechen oder zu schreiben.

Bin ich nun dabei, meine früheren Ausführungen zu schmälern? Durchaus nicht. Uns muss allerdings klarwerden, dass das Reden und Nachdenken über politische Themen oft nicht zu vermeiden ist. Das ist meiner Meinung nach auch nicht so schlimm. Es wird erst bedenklich, wenn Christen (1) so viel über Politik reden und denken, dass sie ihre geistliche Stellung und ihren geistlichen Auftrag vergessen, oder wenn sie (2) nicht nur reden wollen, sondern Macht haben wollen mit dem Ziel, die Interessen Christi auf der Erde zu fördern. Politische und soziale Probleme haben manchmal auch einen moralischen und geistlichen Berührungspunkt; dann ist es nützlich, darüber nachzudenken und eventuell darüber zu reden. Doch wir wollen uns nicht dazu verleiten lassen, auf dieser Erde eine Position einzunehmen, die in nichts dem Platz ähnelt, den Gottes Wort uns zeigt.


Aus Hemelsburgers op Aarde: De levenspraktijk van christenen in deze wereld, Vaasen (Medema) 1980, S. 96–139

Übersetzung: Stephan Winterhoff u.a.

Anmerkungen

[1] Anm. d. Red.: Abraham Kuyper (1837–1920) war ein niederländischer reformierter Theologe.

[2] Anm. d. Red.: Nicolas Beets (1814–1903) war ein niederländischer reformierter Theologe und Kirchenhistoriker.

[3] Abraham Kuyper, Anti-Revolutionaire Staatskunde, 1916, S. 597/8.

[4] Oft wird hier 2. Petrus 1,7 zitiert – allerdings liest man völlig zu Unrecht am Ende: „die Liebe zu allen“. Das steht dort nicht, sondern es steht dort „die Liebe“. Wie kann „Liebe“ größer sein als Bruderliebe? Es ist übrigens ganz bestimmt eine Steigerung vorhanden: Es steht dort agape, was auf die göttliche Liebe hindeutet.

[5] Bruce N. Kaye, „The New Testament an Social Order“ in Law, Morality and the Bible, B.N. Kaye & G.J. Wenham (Hrg.), Leicester 1978, S. 98ff. (Kursiv-Hervorhebung im Text durch mich, HPM).

[6] A.a.O., S. 113.

[7] Larry Christenson, A Charismatic Approach to Social Action, Minneapolis 1974, S. 48.

[8] Robert D. Linder & Richard V. Pierard, „Politics“ in A Case für Christian Action, Downers Grove, 1973, S. 50. Siehe auch: L. de Blois in Kerk en vrede in oudheid en middeleeuwen, L. de Blois & A.H. Bredero (Hrg.), Kampen 1980, S. 24ff.

[9] A.a.O., S. 43.

[10] Siehe vor allen Dingen H. van Riessen, Mondigheid en de machten, Amsterdam 1971, S. 135ff.

[11] G. Groen van Prinsterer, Proeve over de middelen waardoor de waarheid word gekend en gestaafd, Amsterdam 1858, S. 51–52.

[12] Hans Bürki, The Christian Life in the World, Lausanne 1969, S. 7.

[13] H. Verwey, De komende Messias, Kampen 1971, S. 59.

[14] Klaus Bockmühl, Evangelikale Sozialethik; Artikel 5 der Lausanner Verpflichtung, Gießen/Basel 1975, S. 11ff.

[15] H. Berkhof, Christus, de zin der geschiedenis, Nijkerk 19624, S. 85–91.

[16] H.M. Kuitert, Sociale ethiek en geloof in Jezus Christus, Kampen 31969, S. 33–34.

[17] Vgl. in diesem Zusammenhang Van Riessen a.a.O. S. 146ff. über Bonhoeffer.

[18] Harvey Cox, The Secular City, Übers. in NL: De stad van de mens, Utrecht 1966. Siehe über ihn J.H. en W.H. Velema, Nieuwe wegen, oude sporen, Apeldoorn [...].

[19] Bürki, a.a.O., S. 31; Emil Brunners Versuch, die soziale Ethik auf die Schöpfungsordnung zu gründen, ist nicht geglückt (s. E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, 1932).

[20] Anm. d. Red.: Der Artikel wurde 1980 geschrieben, als die Sowjetunion noch existierte.

[21] Anm. d. Red.: Zur Zeit der Abfassung des Artikels war die ideologische Grenze zwischen West- und Osteuropa noch vorhanden.

[22] A.a.O., S. 105.

[23] H. Weinkauff, „Das Naturrecht in evangelischer Sicht“ in Naturrecht oder Rechtspositivismus, Darmstadt 1966, S. 216.

[24] A. Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 1963, S. 117, 133, 150.

[25] Siehe bei R. Marcic, Rechtsphilosophie, Freiburg 1969, S. 276f.

[26] So zum Beispiel Sir Norman Anderson, „Public Law and legislation“ in Law, morality and the Bible, Leicester 1978, S. 234.

[27] Siehe zum Beispiel Paul Ricoeur, Politiek en geloof, Utrecht 1968, S. 77f.; urspr.: „Les aventures de l’Etat et la tâche des chrétiens“ in Christianisme social, 66/1958/ S. 20ff.; vgl. auch die Argumentation von Bruce N. Kaye, a.a.O., S. 105.

[28] So in De politieke verantwoordelijkheid der kerk, overwegingen van de generale synode des N.H.Kerk, ’s Gravenhage 1964, S. 17.

[29] P. van Dijk, Rechten van de mens en ontwikkelingssamenwerking; einige rechtsbeginselen. NJCM-bulletin 5 (1980) 1, S. 12–13.

[30] M. de Blois, „De rechten van de mens“ in Bijbel & wetenschap, 28, S. 13ff.

[31] Zitat von G.E. van Maanem. Nach einer marxistischen Rechtsauffassung in: Een beeld van recht, Utrecht 1980, S. 166.

[32] So zum Beispiel David Bronnert, „Social Ethics“ in Law, Morality and the Bible, S. 219.

[33] Anm. d. Red.: Der Artikel wurde im Jahr 1980 geschrieben, als von demokratischen Strukturen in Russland bzw. in der damaligen Sowjetunion noch nichts zu sehen war.

[34] Ich überspringe jetzt, dass mit den Beinen aus Eisen das Römische Reich an seinem Beginn angedeutet wird, während die Füße aus Eisen und Ton auf das wiederhergestellte Römische Reich in der Endzeit hinweisen.

[35] Siehe: „Eva in de politiek“ in Capriolen, Amsterdam 1963, S. 54ff.

[36] Siehe: Christen-zijn in de Nederlandse samenleving, herderlijk schrijven van de generale synode der N.H.Kerk [Christsein im niederländischen Zusammenleben, Hirtenbrief der Generalsynode der Niederländischen Reformierten Kirche], ’s Gravenhage 1955, S. 20.

[37] Siehe Christenson, a.a.O., S. 86ff.

[38] Dies gilt für jeden politischen Einfluss. Darum schlägt auch Francis Schaeffer meines Erachtens einen falschen Weg ein, wenn er vorschlägt, dass Christen versuchen sollten, wieder Einfluss in der Welt zu gewinnen, auch wenn es keine 51, sondern nur 10 Prozent sind. F. Schaeffer, Kirche am Ende des 20. Jahrhunderts, Wuppertal 1972.

[39] Siehe: A.A.J. Smolders, Economie, economische politiek en geloof, auf dem Kongress „De identiteit van katholieke wetenschapsmensen“, 27. Oktober 1979; zu gegebener Zeit zu veröffentlichen in den Annalen van het Thijmgenootschap; Vorveröffentlichung: Intermediair 1979/49, S. 1ff.

[40] Letzteres wird unter anderem in den Kreisen der GPV [Anm. d. Red.: Gereformeerd Politiek Verbond (Reformiertes politisches Bündnis); politische Partei in den Niederlanden, die 1948 von reformierten Christen gegründet wurde]; man sieht in Römer 13 und anderen Stellen Normen, die sich auch an die Obrigkeit als solche richten. Siehe Kerk en politike partij, Hrsg. Groen van Prinstererstichting, Groningen 1979, S. 11–12.

[41] Linder & Pierard, a.a.O., S. 106.

[42] Anm. d. Red.: SGP: Staatkundig Gereformerde Partij (Politische Reformierte Partei); konservative, calvinistische Partei, die 1918 gegründet wurde.

[43] A.a.O., S. 217.

[44] Siehe hierzu: J.G. Fijnvandraat, A. Maljaars, W.J. Ouweneel, De kerk onder der loep, een confrontatie tussen de calvinistische en de chiliastische visie, Apeldoorn 1978.

[45] Siehe A.E. Wilder-Smith, Grijpt een christen naar de wapens?, Apeldoorn 1980.


Hinweis der Redaktion:

Die SoundWords-Redaktion ist für die Veröffentlichung des obenstehenden Artikels verantwortlich. Sie ist dadurch nicht notwendigerweise mit allen geäußerten Gedanken des Autors einverstanden (ausgenommen natürlich Artikel der Redaktion) noch möchte sie auf alle Gedanken und Praktiken verweisen, die der Autor an anderer Stelle vertritt. „Prüft aber alles, das Gute haltet fest“ (1Thes 5,21). – Siehe auch „In eigener Sache ...

Bibeltexte im Artikel anzeigen