Bibelstudium (5)
Hauptgrundsätze: Zusammenhang eines Schriftworts

Willem Johannes Ouweneel

© EPV, online seit: 03.03.2006, aktualisiert: 17.11.2022

Hauptgrundsätze

Den Ausgangspunkt, der im vorigen Kapitel beschrieben worden ist, müssen wir beim Studium jeder Schriftstelle immer gut im Auge behalten. Dazu kommen jedoch zwei Grundsätze, die gleichfalls von großer Bedeutung sind, um ein bestimmtes Schriftwort begreifen und auslegen zu können. Sie sind an sich sehr einfach und auf der Hand liegend, doch weil so häufig gegen sie verstoßen wird, müssen wir gründlich auf sie eingehen. Diese Grundsätze bestehen darin, dass man sich bei jedem Schriftwort zwei Fragen stellen muss:

  1. Was ist der Zusammenhang, in dem es vorkommt?
  2. Was ist die Reichweite dieses Schriftwortes?

Wir wollen diese Fragen nun näher unter die Lupe nehmen.

A Der Zusammenhang eines Schriftworts

1. Die Entstehung des Schriftabschnitts

Vor allem anderen müssen wir uns bei jedem Vers, jedem Abschnitt, jedem Kapitel und jedem Buch der Bibel die Frage stellen:

  • In welcher Zeit und unter welchen Umständen wurde dieser Teil der Schrift geschrieben?
  • An welchem Ort und auf welche Weise kam er zustande?
  • Was war der Anlass, ihn zu schreiben?
  • Und vor allem: Mit welchem Ziel wurde er geschrieben – was beabsichtigte der Schreiber damit?

Ein Beispiel: Wenn wir nicht bedenken, dass der Hebräerbrief an jüdische Christen in ihren speziellen Umständen geschrieben ist, dann werden wir uns mit der Auslegung hoffnungslos festfahren. So ist es auch mit dem Brief an Jakobus, der an die zwölf Stämme in der Zerstreuung gerichtet ist. So werden wir auch die Unterschiede in der Beschreibung bestimmter gleicher Begebenheiten in den Evangelien nicht begreifen, wenn wir sie nicht auf dem Hintergrund des speziellen Charakters sehen, den jedes Evangelium hat. Auch beim Lesen der prophetischen Bücher ist das Kennen der Entstehungszeit (vor oder nach der Gefangenschaft?), des Ortes (Palästina oder Babel?) usw. von wesentlicher Bedeutung für ein richtiges Verständnis.

2. Die Argumentation im Schriftabschnitt

Ganz allgemein, vor allem aber bei Schriftabschnitten, die eine Beweisführung enthalten, ist ein genaues Achtgeben auf den Verlauf der Argumentation äußerst wichtig.

  • Ein einfaches Beispiel dafür ist, dass viele, die einen Abschnitt nicht gut verstehen, das zeigen, indem sie den Akzent an unrichtiger Stelle anbringen. In 1. Korinther 3,9 („Gottes Ackerfeld, Gottes Bau seid ihr“) liegt der Nachdruck nicht auf „ihr“, sondern auf „Gottes“. In Jakobus 4,5 („Begehrt der Geist … mit Neid?“) liegt der Nachdruck nicht auf „Neid“, sondern auf „Geist“; solche Stellen werden meistens verkehrt gelesen, weil man der Beweisführung nicht gut folgt. Darin muss man sich stets üben.
  • Ein Beispiel: Schrieb Paulus Römer 3,10-18, um darzulegen, dass die Juden Sünder waren oder dass die Griechen das waren? Römer 3,19 gibt (richtig ausgelegt) die richtige Antwort.
  • Oder ein gänzlich anderes Beispiel: Wenn das dritte Buch Mose das Buch der Opfer ist, warum finden wir dann verschiedene Feueropfer in 4. Mose 15 und das Opfer der roten jungen Kuh in 4. Mose 19? Das wird immer durch den Zusammenhang deutlich, oder noch stärker ausgedrückt: Der besondere Zusammenhang, in dem ein Abschnitt vorkommt, gibt ihm gerade seinen besonderen Charakter. Dann entdecken wir auch, dass es gerade von besonderer Bedeutung ist, dass die Opfer von 4. Mose 15 und 19 in 4. Mose und nicht in 3. Mose vorkommen, geradeso wie das Passah kennzeichnend ist für das zweite Buch Mose und der Korb der Erstlinge nur in das fünfte Buch Mose gehören kann.

3. Die Teile entsprechend dem Charakter des Ganzen erklären

In Verbindung hiermit muss man auch die Regel im Auge behalten, die besagt, dass man die Teile entsprechend dem Charakter des Ganzen erklären muss. Siehe zum Beispiel das schon genannte Beispiel von Parallelstellen in den Evangelien.

Ein anderes schlagendes Beispiel ist das Buch des Predigers, auf das man eine ganze Reihe Irrlehren aufgebaut hat wie den Seelenschlaf (vgl. Pred 9,5) und die Leugnung der Unsterblichkeit der Seele (vgl. Pred 3,19-22). Solche Stellen muss man jedoch entsprechend dem Charakter des gesamten Buches erklären. Der Prediger stellt sich hier absichtlich auf den Standpunkt des „Philosophen“, um dem Sinn und dem Zweck der Dinge, die unter der Sonne sind, nachzugehen (vgl. Pred 1,12-18), und kommt so natürlich zu keiner Lösung (Pred 7,27-29). Die findet er erst, wenn er Gott einbezieht (Pred 11,9–12,14). Dann weiß er sehr wohl von einem bewussten Leben nach dem Tod (Pred 12,5.7.14).

Verschiedene Beispiele haben wir auch in dem schwierigen Buch der Offenbarung. Wir können die Kapitel 2 und 3 (die sieben Briefe) nur im Licht des gesamten Buches verstehen, also ausgehend von dem prophetischen Charakter dieses Buches (Off 1,3) und der Einteilung des gesamten Buches (Off 1,19); und wir können die Regierung der tausend Jahre (Off 20,4-7) nur gut in dem vollständigen Zusammenhang von Offenbarung 19,1–21,8 verstehen (beachte das wiederholte, eine Aufeinanderfolge andeutende „und ich sah … und ich hörte“).

4. Keine Widersprüche

Der Zusammenhang, in dem ein Schriftwort steht, zeigt auch, dass sowohl bestimmte Widersprüche als auch bestimmte Übereinstimmungen häufig nur scheinbar sind. Manchmal stehen zwei entgegengesetzte Aussagen so dicht beieinander, dass der Zweck ohne Weiteres ins Auge springt. Sprüche 26,4 sagt: „Antworte dem Toren nicht nach seiner Narrheit“, und sofort darauf folgt in Vers 5: „Antworte dem Toren nach seiner Narrheit.“ Beide Aussagen sind vollkommen wahr, wenn man nur in dem Zusammenhang das sehen will, was damit gemeint ist. Man kann auch das Umgekehrte antreffen: identische Ausdrücke, die etwas völlig Unterschiedliches bedeuten. So kommt in Römer 7,21–8,2 neunmal das Wort „Gesetz“ vor, doch das sicherlich in fünf verschiedenen Bedeutungen. Manchmal sind Widersprüche und Übereinstimmungen sehr schwierig zu unterscheiden. In 1. Mose 6,5-7; 8,21 werden zwei einander entgegengesetzte Handlungen mit dem gleichen Argument begründet; zuerst sagt Gott, dass Er die Erde vertilgen wird, weil die Gedanken des menschlichen Herzens nur böse sind, und danach sagt Gott, dass Er die Erde gerade nicht vertilgen will, aus genau demselben Grund. Auch hier muss der Zusammenhang die Lösung geben. Das Erste wird vor der Sintflut gesagt, das Zweite danach; zuerst kam das Gericht über den Menschen wegen seiner Bosheit, danach wählte Gott eine andere Grundlage für seine Beziehungen zu dem Menschen; das Gericht hatte das Herz des Menschen nicht verändert, aber Gott wollte die Erde nun aufgrund des lieblichen Geruchs des Brandopfers ansehen.

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Originaltitel: „Gesundes Bibelstudium“ 
aus Hilfe und Nahrung, Ernst-Paulus-Verlag, 1977, S. 338–341.
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