Bibelstudium (1)
Vorwort und Erfordernisse

Willem Johannes Ouweneel

© EPV, online seit: 17.01.2006, aktualisiert: 17.11.2022

Vorwort

Diese Artikelreihe handelt vom Bibelstudium, aber es muss sogleich dazu gesagt werden, was diese nicht ist. Sie nennt keine bestimmten Methoden zum Lesen und Studieren der Bibel und geht auch nicht ein auf Punkte wie „Stille Zeit“, Systeme zum Bibellesen und -studieren, „analytische“ und „synthetische“ Methoden und dergleichen Themen, die an sich wichtig sind; und zwar tut sie das vor allem deshalb nicht, weil ich ein ganz anderes Ziel vor Augen hatte, und das war: dass wir als Christen, die ihre Bibel nicht nur lesen, sondern auch schon etwas länger studieren, neu darüber nachdenken, nach welchen Grundsätzen wir die Bibel eigentlich erklären – welche Bedingungen, welche Beschränkungen es gibt, was das Ziel ist und was der Ausgangspunkt, welche Regeln beachtet werden müssen und welche Formen der Bibelauslegung es gibt, und vor allem, was das Hauptthema ist: Christus.

Eigentlich müsste diese Reihe also heißen: „Kurze Einführung in die Hermeneutik“ [Lehre von der Auslegung], aber häufig wirken solche (oft überflüssigen) theologischen Fachausdrücke gerade auf manche, die in der Bibel forschen, eher abschreckend. Sie ist also auch nicht (nur) für den Theologiestudenten, sondern für jeden, der tiefer in Gottes Wort eindringen möchte.

Mit dieser Artikelreihe möchte ich in gewisser Hinsicht „Rechenschaft ablegen“. In Gesprächen mit kirchlichen Gläubigen stellte sich wiederholt heraus, wie verschieden wir über allerlei wichtige Themen dachten; immer wieder trat die Frage auf: „Wie lesen Sie?“ (vgl. Lk 10,26). Wie kommt es, dass beide Seiten Gottes Wort lieben, sich dem Wort unterwerfen und doch so viele verschiedene Dinge darin „lesen“? Worin unterscheiden sich die Brillen, mit denen wir die Schrift betrachten? Kürzlich kam diese Frage auf mich zu, als ich mit einer Anzahl gläubiger Theologen beisammen war, und das wurde einer der Anlässe, die zum Ausarbeiten dieser Broschüre geführt haben.

Noch eine Warnung: Diese Reihe darf nicht heimlich als eine kleine „Exegese“ oder sogar als „Dogmatik“ aufgefasst werden, in dem Sinn, dass man es be- (oder ver-)urteilt nach den Beispielen für Bibelauslegung, die darin gegeben werden. Die Beispiele werden hier nämlich nicht oder kaum begründet (denn dazu sind diese Artikel nicht vorgesehen). Auch dann, wenn man nicht immer mit den angeführten Beispielen einiggehen sollte, muss man bedenken, dass es nicht um die Beispiele geht, sondern um die Regeln der Bibelauslegung, die diesen Beispielen zugrunde liegen.

Ich glaube, dass es viel ungesunde Bibelauslegung gibt, die auf den Mangel an Ehrerbietung vor dem Wort Gottes und bzw. oder auf den Mangel an Selbstgericht zurückzuführen ist. Von Herzen hoffe ich, dass das nicht von dieser kleinen Arbeit gesagt zu werden braucht, und deshalb bitte ich, dass der Herr das Gute, das darin steht, segnen und für solche gebrauchen möge, für die es von Nutzen sein kann. Ich bin mir dessen bewusst, dass es keine ganz einfachen Artikel werden konnten. Auch darf man keine erbauliche Lektüre zur Entspannung erwarten. Was das betrifft, tröste ich mich mit den Worten eines der größten Bibelausleger aller Zeiten, John N. Darby, der zu Beginn eines Überblicks über den Römerbrief schrieb:

Ich fürchte, dass die folgende kurze Entfaltung der Struktur des Römerbriefes sehr trocken sein wird; und im Blick auf die Erbauung würde ich gerne das eine oder andere zwecks Anwendung auf Herz und Gewissen hinzufügen. Das ist aber im Augenblick nicht möglich; doch denke ich, dass das, was ich mit einigen beiläufigen Bemerkungen zur Struktur des Briefes sagen kann, vielleicht denen Material an die Hand geben kann, die durch Gnade das Wort zu ihrer eigenen Auferbauung studieren, mit der allezeit notwendigen und doch auch allezeit verfügbaren Hilfe des Geistes Gottes.[1]

De Bilt, im Sommer 1975, Emmalaan 1, Niederlande

Erfordernisse

Die Bibel ist völlig anders als jedes andere Buch in der Welt. Deshalb muss ein Mensch völlig andere Voraussetzungen erfüllen, um mit Gewinn die Bibel studieren zu können, als sie zum Studium anderer Bücher erforderlich sind. Bei einem gewöhnlichen Buch muss man einiges über seinen Hintergrund wissen und über genügend Verstand verfügen, um dem Gang der Ausführungen folgen zu können. Ich sage nicht, dass diese Eigenschaften zum Lesen der Bibel nicht nützlich sind, aber das Eigenartige ist, dass sie hier durchaus nicht an erster Stelle stehen. Das kommt durch die Einmaligkeit der Bibel, und dieses Einmalige ist, dass sie das inspirierte Wort Gottes ist, worin Gott Selbst Seine Gedanken und Sein Handeln entfaltet. Wer nicht davon ausgeht, nimmt die Bibel nicht ernst, denn die Bibel selbst erhebt an zahllosen Stellen Anspruch darauf, das unfehlbare, inspirierte Wort Gottes zu sein. Wer die Bibel nicht ernst nimmt, beraubt sich selbst der Möglichkeit, die Bibel wirklich zu verstehen. Wer sie ernst nimmt und sie bejaht als das, was sie selbst sagt zu sein, wird ihr ehrerbietig als dem Wort Gottes gegenübertreten und schon bald unter den Eindruck ihrer Vollkommenheit gelangen. Diese Vollkommenheit ist so überwältigend, dass der Leser bald entdeckt, dass sogar die Bedingungen, die Normen, die Grundsätze und die Ausgangspunkte zu einem sinnvollen Bibelstudium der Bibel selbst entnommen werden müssen. Alle Fingerzeige, die wir deshalb zu einem gesunden Bibelstudium geben, können und müssen erst durch ein Studium der Bibel selbst entdeckt werden (siehe Artikel Bibelstudium (4) – Ausgangspunkt). Dadurch gleicht Bibelstudium einer Spirale: Es ist ein immer wiederholtes Studium immer desselben Buches, aber immer auf einer höheren Ebene, indem die Einsichten, die wir während der vorigen „Runden“ erworben haben, in den folgenden „Runden“ vertieft werden.

Um nun das Bibelstudium gesund anzufangen, müssen wir wissen, dass die Bibel vornehmlich zweierlei zum Gegenstand hat: nämlich einmal „Gott“ und zum anderen den „Menschen“, und mit dem Letzteren wollen wir uns zunächst beschäftigen, denn die Bibel lehrt uns auch, was und wie der Mensch sein muss, der die Bibel sinnvoll studieren will. In diesem Punkt gibt sie uns kein sehr optimistisches Bild von dem Menschen. Es begann sehr gut. Der Mensch war im Bild und im Gleichnis Gottes erschaffen (1Mo 1,26.27); die außergewöhnlichen geistigen Fähigkeiten, die Adam besaß, stellte er vor dem Sündenfall mehrmals unter Beweis. Er ergründete die Art jedes Tieres, das Gott zu ihm brachte, und gab ihm einen passenden Namen (1Mo 2,19.20). Und als er aus dem tiefen Schlaf erwachte, in den Gott ihn hatte fallen lassen, durchschaute er sogleich den Ursprung und den Charakter der Frau, die ihm gegenüberstand (1Mo 2,23). Aber wie sehr wurden diese Fähigkeiten durch den Sündenfall verdunkelt! Der in Sünde gefallene Mensch ist verfinstert am Verstand, entfremdet dem Leben Gottes wegen der Unwissenheit, die in ihm ist wegen der Verstockung seines Herzens (Eph 4,18). Worauf sein Fleisch noch bedacht ist, ist Feindschaft gegen Gott, denn es unterwirft sich nicht dem Gesetz Gottes, denn es kann es auch nicht (Röm 8,7). Bei den Ungläubigen ist sowohl der Verstand als auch das Gewissen befleckt (Tit 1,15). Der „natürliche Mensch“ nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit; und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird (1Kor 2,14).

1. Erfordernis: Wiedergeburt

Das heißt nicht, dass es dem natürlichen Menschen gänzlich an natürlicher Einsicht mangelt – im Gegenteil, zahllose führende Theologen heutzutage sind Ungläubige. Ja, auch Satan fehlt es nicht an Einsicht in die Schrift (Mt 4,6). Entscheidend ist nur, dass dieser natürliche Verstand völlig unzureichend ist, um die Bibel zu verstehen. Den schlagendsten Beweis dafür haben wir bei Nikodemus, einem der größten Theologen seiner Zeit; Christus nennt ihn den Lehrer Israels (Joh 3,10). Und doch begriff dieser Mann nicht, was Wiedergeburt war; er stellte darüber naive Fragen (Joh 3,4.9) – obwohl es hier um eine Lehre ging, die er schon längst aus dem Alten Testament hätte kennen müssen (vgl. Hes 36,25-27)! Der springende Punkt war, dass Nikodemus erst selbst einmal Teil an der Wiedergeburt bekommen musste, bevor er wirklich verstehen konnte, was sie in sich schloss. Wenn sogar der größte Theologe wiedergeboren werden muss, um die Schrift verstehen zu können, dann muss das für jeden Menschen gelten. Die jüdischen Schriftgelehrten waren sehend blind und trotz ihrer Gelehrsamkeit unwissend (Joh 9,39-41; Lk 23,34; Apg 3,17; 1Kor 2,8).

2. Erfordernis: Licht des Heiligen Geistes

Reicht der natürliche Verstand nicht aus, so ist auch die Wiedergeburt nicht genug, um die Schrift verstehen zu können. Die Jünger des Herrn waren wiedergeboren, und doch begriffen sie nicht, was der Herr sie lehrte. Aus ihren Fragen (z.B. Joh 13,36.37; 14,5.8.22; 16,17) wurde das deutlich, und auch Christus trug dem Rechnung. Er sagte zu Petrus: „Was ich tue, weißt du jetzt nicht, du wirst es aber hernach verstehen“ (Joh 13,7), und zu den Elf: „Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber [und nun kommt das Entscheidende] jener, der Geist der Wahrheit, gekommen ist, wird er euch in die ganze Wahrheit leiten“ (Joh 16,12.13). Neben der Wiedergeburt haben wir also das Licht des Heiligen Geistes nötig. Und wirklich: Am Pfingsttag wurden unwissende und glaubensträge Jünger (vgl. Apg 1,6.11) zu kraftvollen, tief in den Geist der Schrift eingeführten Zeugen (vgl. Apg 4,13). Sie empfingen den Geist, der aus Gott ist, so dass sie nun die Dinge kannten, die ihnen von Gott geschenkt waren, wie 1. Korinther 2,12 es ausdrückt.

3. Erfordernis: Geistlichkeit

Doch auch der Besitz des Heiligen Geistes ist nicht genug, um die Schrift zu verstehen. Ich meine damit Folgendes: Jeder Gläubige vom Pfingsttag an hat den Heiligen Geist in sich wohnend. Wenn er aber fleischlich ist und nicht geistlich, das heißt, wenn er sich durch das Fleisch und nicht durch den Geist leiten lässt, dann ist er erst genauso weit wie ein neugeborenes Kind (1Kor 3,1-3). Es genügt nicht, den Heiligen Geist zu besitzen, man muss auch geistlich sein; „der geistliche [Mensch] aber beurteilt alles“ (1Kor 2,15). Daher wird gerade zu Gläubigen gesagt: „Deshalb leget ab alle Unsauberkeit und alles Überfließen von Schlechtigkeit, und empfanget mit Sanftmut das eingepflanzte Wort, das eure Seelen zu erretten vermag“ (Jak 1,21). Das Wort ist bei der Wiedergeburt schon eingepflanzt worden (Jak 1,18), aber es muss jetzt auch in einer sanftmütigen Gesinnung angenommen werden, dann erleuchtet Gott den Verstand und öffnet das Herz. Uns ist ein Verständnis gegeben, auf dass wir den Wahrhaftigen kennen (1Joh 5,20). So öffnete Christus das Verständnis der Jünger und ließ die Herzen der Emmausjünger brennend werden (Lk 24,45.32). So öffnete Gott das Herz der Lydia, so dass sie achtgab auf das Wort (Apg 16,14). Gott gebe uns einen Geist der Weisheit und Offenbarung in der Erkenntnis Seiner Selbst, erleuchtete Augen unserer Herzen, damit wir wissen … (Eph 1,17.18). Vergleiche im AT auch Sprüche 2,3-6; 3,5. Und wie wunderschön: In dieser Geisteshaltung wird die Wahrheit im Grundsatz für den einfachsten Gläubigen deutlich; sie ist vor „Weisen und Verständigen“ verborgen, aber „Unmündigen“ ist sie offenbart (Mt 11,25).

4. Erfordernis: Hilfe anderer

Wir müssen allerdings wirklich sagen: „im Grundsatz“, denn die Schrift lehrt sehr deutlich, dass kein einziger Gläubiger, wie geistlich gesinnt er auch sein mag, die Wahrheit der Schrift ganz unabhängig von anderen Gläubigen, also ganz durch eigenes Erforschen, völlig verstehen lernen kann. Die Schrift macht deutlich, dass jeder Gläubige Unterweisung nötig hat von solchen, die ihm im Studium der Schrift vorangegangen sind. Sicher wird jeder Gläubige angespornt, persönlich in der Bibel zu forschen, doch hier gilt: „Stütze dich nicht auf deinen Verstand“ (Spr 3,5b). Jeder Gläubige sollte dankbar nach der Hilfe begnadeter Ausleger greifen. „Die Eröffnung [= Erklärung] deines Wortes erleuchtet, gibt Einsicht den Einfältigen“ (Ps 119,130). Es ist ein völlig normaler Grundsatz in der Schrift, dass Gläubige durch andere Gläubige in der Schrift unterwiesen werden. In der Versammlung ist es sogar die ausdrückliche Regel, dass Christus Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer gegeben hat „zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes Christ!“ (Eph 4,11.12; vgl. auch 1Kor 12,8). Es gibt in der Versammlung also besondere Personen, die der Versammlung als Gaben gegeben sind, um sie zu unterweisen und aufzuerbauen. Den Dienst der Apostel und Propheten haben wir in den neutestamentlichen Schriften (vgl. Eph 2,20; 3,5), die Evangelisten fügen der Versammlung Personen hinzu, die Hirten hüten die Herde, und die Lehrer lehren das Wort. Das ist die normale Ordnung, und es ist höchst ungewöhnlich, wenn Personen ohne irgendeinen Dienst von Menschen oder Schriften zum Glauben und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Natürlich könnte Gott das direkt bewirken; aber bei Ihm ist es die Regel, dass Er dafür gemäß Seiner Gnade Seine Kinder gebrauchen will. Es unterliegt also unserer Verantwortung, von dem Dienst solcher Knechte vollen Gebrauch zu machen. Dieser Dienst kann auf verschiedene Weise stattfinden (vgl. Artikel Bibelstudium (8) – Hilfsmittel):

  • durch persönliche Unterweisung (vgl. Apg 18,26; Kol 1,28);
  • durch Ansprachen (Vorträge, Predigten) (vgl. Apg 19,9; 20,7; 1Kor 12,8; 14,3.26.29-32);
  • durch die Weitergabe der Wahrheit an zukünftige Lehrer (u.a. Bibelkonferenzen; vgl. 2Tim 2,2);
  • durch unterweisende und auferbauende Schriften (vgl. 2Pet 3,15.16).

Zusammenfassung

Zusammenfassend können wir sagen, dass solche, die auf gesunder Grundlage ein gründliches Bibelstudium betreiben möchten, Gläubige sein müssen, die in geistlicher Gesinnung bereit sind, „jeden Gedanken gefangen zu nehmen unter den Gehorsam des Christus“ (2Kor 10,5), und die bereit sind, zuerst und besonders auf die zu hören, die „arbeiten in Wort und Lehre“ (1Tim 5,17; vgl. Heb 13,7), eingedenk der wahren Antwort auf die Frage: „Verstehst du auch, was du liest?“, die lautete: „Wie könnte ich denn, wenn nicht jemand mich anleitet?“ (Apg 8,30.31).


Originaltitel: „Gesundes Bibelstudium“
aus Hilfe und Nahrung, Ernst-Paulus-Verlag, 1977, S. 313–320
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Anmerkungen

[1] J.N. Darby, Collected Writings, Bd. 23, S. 339.

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