Doppelte Prädestination im Römerbrief?
Römer 9,14-24

Rudolf Brockhaus

© CSV, online seit: 22.09.2004, aktualisiert: 16.11.2022

Leitverse: Römer 9,14-24

Röm 9,14-24: Was sollen wir nun sagen? Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott? Das sei ferne! Denn er sagt zu Mose: „Ich werde begnadigen, wen ich begnadige, und werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme“ {2Mo 33,19}. Also liegt es nun nicht an dem Wollenden noch an dem Laufenden, sondern an dem begnadigenden Gott. Denn die Schrift sagt zum Pharao: „Eben hierzu habe ich dich erweckt, damit ich meine Macht an dir erzeige und damit mein Name verkündigt werde auf der ganzen Erde“ {2Mo 9,16}. So denn, wen er will, begnadigt er, und wen er will, verhärtet er. Du wirst nun zu mir sagen: Warum tadelt er noch? Denn wer hat seinem Willen widerstanden? Wer bist du denn, o Mensch, der du das Wort nimmst gegen Gott? Wird etwa das Geformte zu dem, der es geformt hat, sagen: Warum hast du mich so gemacht? Oder hat der Töpfer nicht Macht {o. Vollmacht, Recht} über den Ton, aus derselben Masse {o. demselben Teige} das eine Gefäß zur Ehre und das andere zur Unehre zu machen? Wenn aber Gott, willens, seinen Zorn zu erweisen und seine Macht kundzutun, mit vieler Langmut ertragen hat die Gefäße des Zornes, die zubereitet sind zum Verderben, und damit er kundtäte den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Begnadigung {o. Barmherzigkeit}, die er zuvor zur Herrlichkeit bereitet hat – uns, die er auch berufen hat, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Nationen.

Der Mensch, die fleischliche Vernunft, fragt allerdings: Wenn Gott von zwei gleich sündigen Menschen den einen errettet, den anderen verlorengehen lässt, handelt Er dann nicht ungerecht? Die Frage an und für sich beweist schon die Überhebung des menschlichen Herzens, indem sie für den Menschen das Recht in Anspruch nimmt, Gott beurteilen und richten zu können, anstatt sich von Ihm beurteilen zu lassen und sich seinem Gericht zu unterwerfen. Es kann nicht anders sein: Sobald ich die Unumschränktheit Gottes in Frage ziehe, werfe ich mich zum Beurteiler und Richter Gottes auf. Nicht Er richtet, sondern ich richte. Die natürliche Gesinnung des Menschen empört sich allerdings gegen eine Wahrheit, die gerade der göttlichen Natur entspringt, sich auf sie gründet. Ist Gott Gott, so muss Er souverän sein in all seinem Tun. Jede Lehre, die Gottes unumschränkte Majestät leugnet oder Ihn als gleichgültig der Sünde und dem Elend des Menschen gegenüber hinstellen will, ist der Wahrheit entgegen und Gottes unwürdig. Gott ist Licht, und das Licht kann sich unmöglich mit der Finsternis im menschlichen Herzen vereinigen; Gott ist Liebe, und die Liebe ist frei, in Heiligkeit ihrer Natur nach zu handeln.

Der Mensch, unwissend über sich selbst und Gott, leugnet freilich sein völliges Verderben, lehnt sich auf gegen Gottes Wort und kritisiert seine Wege. Aber indem er das tut und sich Gott gegenüber sogar auf den Boden der „Gerechtigkeit“ zu stellen wagt, spricht er sich selbst das Urteil und rechtfertigt Gott, wie wir es in dem vorliegenden Falle in der Geschichte Israels sogleich sehen werden. Auf die Frage der Juden „Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott?“ und das „Das sei ferne!“ des Apostels folgt unmittelbar das Wort: „Denn er sagt zu Mose: ,Ich werde begnadigen, wen ich begnadige, und werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme.‘“

Auf den ersten Blick möchte uns diese Anführung seltsam erscheinen, aber wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, bei welcher Gelegenheit die Worte gesprochen wurden, werden wir (wie so oft bei der Betrachtung des Wortes) die Entdeckung machen, dass gerade das vermeintliche Nicht-Angebracht-Sein sich ins Gegenteil verwandelt. Der scheinbare Missklang wird zum herrlichsten Wohlklang. Je näher wir die Umstände ins Auge fassen, die zu jenem Ausspruch führten, desto klarer erkennen wir die schlagende Beweiskraft der Antwort des Apostels. Wir erkennen, dass in der ganzen Bibel sich keine Stelle findet, die in diesem Falle mehr angebracht gewesen wäre als gerade diese.

Israel hatte am Berg Sinai, bis wohin Gottes Gnade sie auf Adlers Flügeln getragen hatte, auf die von Gott gestellte Bedingung „Wenn ihr fleißig auf meine Stimme hören und meinen Bund halten werdet“ geantwortet: „Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun“ (2Mo 19,5.8). Anstatt sich auch weiterhin jener Gnade anzuvertrauen, maßten sie sich an, trotz all der beschämenden Erfahrungen, die sie bereits gemacht hatten, in eigener Kraft die Gebote Gottes zu erfüllen.

Die Folge war das Bündnis des Gesetzes, die Mitteilung der gerechten und heiligen Forderungen Gottes an den Menschen im Fleische. Damit begann die eigentliche Geschichte Israels als Volk. Mose stieg auf den Berg, um die Gebote Gottes entgegenzunehmen. Als er verzog, wurde das Volk ungeduldig und veranlasste Aaron zur Anfertigung und Aufstellung des goldenen Kalbes. Indem Israel so das erste und größte Gebot gröblich brach, blieb nichts anderes als ein unmittelbares, vernichtendes Gericht für sie übrig. Kaum hatte seine Geschichte als Volk begonnen, so büßte es schon mit einem Schlage alles ein, worauf es unter der Bedingung eines willigen Gehorsams Anspruch hatte. Der Gott, der die Verheißungen gegeben hatte und sie allein erfüllen konnte, war aufs schwerste beleidigt worden. Sein Bund war gebrochen. Was blieb für Israel übrig? Wenn Gott mit seinem Volk in Gerechtigkeit handeln wollte, und auf dem Boden des Gesetzes konnte Er nicht anders, so mussten alle getötet werden. Ein Entrinnen war unmöglich.

Alle Juden, die die Geschichte jener Tage kannten, mussten die Richtigkeit der Beweisführung zugeben. Wollten sie also auf „Gerechtigkeit“ Gott gegenüber bestehen, so wäre das Los Israels damals für immer entschieden gewesen, wie Gott denn auch zu Mose sprach: „Ich habe dieses Volk gesehen, und siehe, es ist ein hartnäckiges Volk; und nun lass mich, dass mein Zorn gegen sie entbrenne und ich sie vernichte“ (2Mo 32,9.10). Wahrlich, nicht „um ihrer Gerechtigkeit willen“ hatte Gott ihnen das gute Land gegeben (5Mo 9,6), sondern weil Er der Fürbitte Moses (eines Vorbildes von Christus) Gehör schenkte und sich auf den Boden seiner unumschränkten Gnade zurückzog: „Ich werde alle meine Güte vor deinem Angesicht vorübergehen lassen …; und ich werde begnadigen, wen ich begnadigen werde“ usw. (2Mo 33,19). Nur so konnte Er sich des Übels gereuen lassen, das Er geredet hatte (2Mo 32,14), nur so die Missetat vergeben. Ja, mehr noch; gerade in der Hartnäckigkeit des Volkes, das auf dem Boden der Gerechtigkeit das Gericht herbeiführte, konnte die Gnade einen Beweggrund für Gott finden, in der Mitte des Volkes hinaufzuziehen: „Wenn ich doch Gnade gefunden habe in deinen Augen, Herr“, so betete Mose in 2. Mose 34,9, „so ziehe doch der Herr in unserer Mitte; denn es ist ein hartnäckiges Volk.

Wie wunderbar ist das alles! Wenn der Mensch hoffnungslos verloren ist aufgrund seines Tuns, wenn die Gerechtigkeit Gottes nur Zorn und Gericht über ihn bringen kann wegen seines Ungehorsams und seiner Sünde, wenn das Gesetz ihn verfluchen und zum Tode verurteilen muss, hat Gott doch noch Hilfsquellen in sich, zu denen Er Zuflucht nehmen kann. Vorausblickend auf den kommenden großen Mittler, der hier in Mose ein so liebliches Vorbild findet, konnte Gott Gnade und Erbarmen üben, und zwar, beachten wir es wohl, an wem er wollte, nach dem Vorsatz seiner freien, bedingungslosen Gnade:

„Also nun liegt es nicht an dem Wollenden noch an dem Laufenden, sondern an dem begnadigenden Gott“ (Röm 9,16). 

Doch wenn Gott begnadigen will, wie groß sind dann die Sünden eines Menschen, der sich diesem Begnadigungswillen widersetzt und Gottes Absichten zu durchkreuzen sucht! Auch diese Seite muss hervorgehoben, und es muss gezeigt werden, wie Gott mit einem solchen Menschen handelt. Gott muss auf der ganzen Erde bekannt werden als der Gott, der sich nicht ungestraft spotten lässt. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, verstehen wir gut das nun folgende Wort: „Denn die Schrift sagt zum Pharao: ,Eben hierzu habe ich dich erweckt, damit ich meine Macht an dir erzeige und damit mein Name verkündigt werde auf der ganzen Erde.‘ So denn, wen er will, begnadigt er, und wen er will, verhärtet er“ (Röm 9,17.18).

Der Pharao sollte für alle Zeiten als ein Beispiel dafür dastehen, was der HERR, der Gott Israels, mit einem Menschen zu tun vermag, der auf sein Gebot „Lass mein Volk Israel ziehen, dass sie mir ein Fest halten in der Wüste“ in maßloser Überhebung zu sagen wagte: „Wer ist der HERR, auf dessen Stimme ich hören soll? … Ich kenne den HERRN nicht, und ich werde Israel nicht ziehen lassen“, und der im Anschluss an diese lästerlichen Worte befahl, den ohnehin schon so harten Dienst der Israeliten noch zu erschweren und Unmögliches von ihnen zu fordern (2Mo 5). In dem an und für sich schon hochmütigen und grausamen Menschen rief Gottes Botschaft nur den Entschluss wach, sich dem Willen Gottes zu widersetzen und seine Pläne zunichtezumachen. Beachten wir zugleich, dass sein Zustand immer böser wurde, je länger Gott mit ihm redete. Siebenmal lesen wir „Das Herz des Pharao verhärtete (oder verstockte) sich“ oder „Der Pharao verstockte sein Herz“; schließlich, erst nachdem die schwersten Plagen über ihn gekommen waren und sogar seine eigenen Weisen und Zauberkünstler hatten eingestehen müssen: „Das ist Gottes Finger!“, wird gesagt: „Und der HERR verhärtete das Herz des Pharao.“ Und als er endlich seine Zustimmung zum Auszug Israels gegeben hatte, offenbarte sich die unverbesserliche Bosheit seines Herzens wiederum darin, dass er wutschnaubend mit einem gewaltigen Heere dem Volke nachzog, immer noch wähnend, dem erhobenen Arm des HERRN widerstehen zu können. Ist’s ein Wunder, dass Gott ihn endlich in richterlicher Weise verhärtete und für alle Zeiten als ein warnendes Beispiel hinstellte? Gott bestimmt nie einen Menschen zur Verhärtung, Er macht nie einen Menschen böse, nein, der Mensch, durch seinen Fall unter die Gewalt der Sünde gekommen, schreitet von Bösem zu immer Böserem.

Was hat also Gott in dem Falle des Pharao getan? Er hat diesen Mann zu der gewaltigen Höhe, auf der er stand, emporsteigen lassen, damit sein kläglicher Untergang im Schilfmeere für alle Zeiten kundtue, was es ist, seinen Nacken gegen Gott zu verhärten. Seine Geschichte redet heute noch zu den Gewissen der Menschen.

Ganz ähnlich wie dem Pharao ist es dem Volke Israel ergangen, nur mit dem Unterschied, dass dieses Volk hier und so oft in späteren Tagen der Gegenstand der errettenden oder wiederherstellenden Gnade Gottes gewesen ist. Diese Tatsache macht seine Verantwortlichkeit umso größer und seinen Fall umso tiefer. Anstatt auf die ernsten Mahnungen Gottes zu hören, empörten sie sich gegen Ihn, warfen sein Gesetz hinter ihren Rücken und verübten große Schmähungen. Ja, sie „verspotteten die Boten Gottes und verachteten seine Worte und äfften seine Propheten nach (geradeso wie der Pharao), bis der Grimm des HERRN gegen sein Volk stieg, dass keine Heilung mehr war“ (vgl. Neh 9,26-29; 2Chr 36,14-16). Wieder möchten wir fragen: Ist es ein Wunder, wenn Gott endlich seinem Propheten Jesajas die Worte zuruft: „Mache das Herz dieses Volkes fett, und mache seine Ohren schwer, und verklebe seine Augen: damit es mit seinen Augen nicht sehe und mit seinen Ohren nicht höre und sein Herz nicht verstehe und es nicht umkehre und geheilt werde“? Geistliche Verblendung und Verhärtung kam vonseiten Gottes über ihre bösen, widerspenstigen Herzen, und als der Herr Jesus später in ihre Mitte trat, da „glaubten sie nicht an ihn“, ja, sie „konnten nicht glauben, weil Jesajas gesagt hat: ,Er hat ihre Augen verblendet‘“ usw. (Jes 6,8-10; Joh 12,37-40). In ähnlicher Weise schreibt der Apostel Petrus von den „Ungehorsamen“ unserer Tage, dass sie gesetzt worden sind, sich an dem Worte zu stoßen (1Pet 2,7.8). Gott hat diese hochmütigen Menschen, gleich dem Pharao vor alters, gesetzt, um als warnende Beispiele für andere zu dienen. Er hat sie nicht ungehorsam gemacht, aber Er hat sie, vielleicht nach zahlreichen vergeblichen Mahnungen, der Härte ihrer Herzen hingegeben.

So liegt denn in beiden Fällen, ob Gott den Menschen begnadigt oder verhärtet, die Ungerechtigkeit nicht auf Gottes, sondern auf des Menschen Seite, der, soweit es ihn betrifft, unverbesserlich böse und verderbt ist; und in beiden Fällen, sei es in Gnade oder in Gericht, handelt Gott zur Verherrlichung seines großen Namens. Alle, die auf Gottes Wort achten und geistliches Verständnis haben, werden hierin auch kaum eine Schwierigkeit finden; nur die menschliche Vernunft zieht immer wieder ihre verkehrten Schlüsse. Indem der Apostel, durch den Geist Gottes geleitet, diese Schlüsse einen nach dem anderen aufzählt, begegnet er ihnen zugleich in einer Weise, die unsere ungeteilte Bewunderung wachruft. 

Wir kommen jetzt zu dem letzten derselben: „Du wirst nun zu mir sagen: Warum tadelt er noch? Denn wer hat seinem Willen widerstanden?“ (Röm 9,19). Mit anderen Worten: Wenn Gott begnadigt, wen Er will, was kann ich dann dazu beitragen? Und wenn Er verhärtet, wen Er will, was kann ich dagegen tun? Ist Er der unumschränkte Gott, so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich seinem Willen zu unterwerfen.

Der Einwand scheint begründet zu sein. Warum tadelt Gott noch? Wenn alles sich schließlich seinem Willen und Ratschluss unterwerfen muss, so kann der Mensch für das Endergebnis doch nicht verantwortlich gemacht werden! Der Ausgang des Weges seines Lebens steht ja bei Gott! Das erinnert uns unwillkürlich an die Entschuldigungen des ersten Menschenpaares nach dem Sündenfall. Auch damals suchten Adam und Eva die Verantwortlichkeit für das Geschehene Gott zuzuschieben. Warum hatte Er der Schlange den Zugang zu dem Garten Eden gestattet? Warum dem Manne das Weib gegeben, das ihn betrügen sollte? – In Römer 9 lauten die Fragen ja anders, aber der Grundsatz ist derselbe: Gott ist schuldig, nicht der Mensch. Warum errettet Er den einen und verwirft den anderen? Was kann der Mensch dazu, wenn Gott ihn verhärtet?

Noch einmal sei es gesagt, dass alle diese Fragen und Schlussfolgerungen einerseits die Herrlichkeit Gottes außer Acht lassen und andererseits die Verantwortlichkeit des Geschöpfes vergessen. Gottes unumschränkter Vorsatz – und wie wäre Er Gott, wenn Er nicht unumschränkt wäre? – hebt die Verantwortlichkeit des Menschen nicht auf. Nehmen wir als erläuterndes Beispiel das Kreuz. Der bestimmte Ratschluss, dass der Geliebte Gottes leiden sollte, war schon vor Grundlegung der Welt gefasst; Gott hatte Jesus nach seiner Vorkenntnis zuvorbestimmt, das Lamm zu werden, das die Sünde der Welt wegnimmt. Aber verminderte das irgendwie die Schuld des Menschen? Nicht im Geringsten! Juden und Heiden fanden sich an jenem Tage zusammen und wurden Freunde in ihrer gemeinsamen Feindschaft gegen Gott und seinen Gesalbten; und obwohl ihr Tun die Stimme der Propheten erfüllte und Gott Gelegenheit gab, sein heiliges Urteil über die Sünde zu vollziehen und das wunderbare Werk seiner Gnade auszuführen, waren und blieben sie doch schuldig der Verwerfung und Ermordung des Sohnes Gottes (vgl. Apg 2,22.23). Beide Dinge gingen nebeneinander her.

Die Schlussfolgerung, aus welcher die Frage „Warum tadelt Er noch?“ herauswächst, ist also durchaus trüglich. Wenn Gott in der Größe seiner Weisheit und dem Reichtum seines Erbarmens das böse Tun des Menschen zur Erfüllung seiner Ratschlüsse ausschlagen lässt, so ist das eben sein unumschränktes Walten, lässt aber den Willen des Menschen immer als das bestehen, was er ist: böse und unentschuldbar. Freilich, wenn es wahr wäre, was die streng calvinistische Theologie lehrt, dass Gott die, welche verlorengehen, zur Verdammnis zuvorbestimmt habe, so läge der Fall schwierig. Aber Gott sei gepriesen! Es ist nicht wahr. Die Schrift redet niemals so, wenngleich es einige Stellen geben mag, die jene Meinung zu stützen scheinen.

Wie liegen denn die Dinge? Ehe der Apostel dazu übergeht, die gestellte Frage zu beantworten, betont er, wie schon wiederholt bemerkt, die Unumschränktheit Gottes, das erste seiner Rechte und zeigt dem Fragenden die Verkehrtheit seines Herzens. Würde wohl ein Mensch, dessen Gewissen irgendwie wach und tätig ist, so reden können, wie es hier geschieht? Nimmermehr wird eine bußfertige Seele Gott Ungerechtigkeit zuschreiben oder Ihn beschuldigen, Er sei verantwortlich für das Verlorengehen eines Menschen. Wer eine solch böse Sprache führt, beweist damit nur die natürliche Blindheit und den Hochmut seines Herzens. „Wer bist du denn, o Mensch, der du das Wort nimmst gegen Gott? Wird etwa das Geformte zu dem,  der es geformt hat, sagen: Warum hast du mich so gemacht? Oder hat der Töpfer nicht Macht über den Ton, aus derselben Masse das eine Gefäß zur Ehre und das andere zur Unehre zu machen?“ (Röm 9,20.21). Wenn aber das Geschöpf schon solche Macht hat – und wer will das bestreiten? –, wie viel mehr dann der Schöpfer!

„Warum hast du mich so gemacht?“ Diese Frage im Mund eines Menschen Gott gegenüber sagt letzten Endes nichts anderes als dies: Gott hat kein Recht, das Böse zu richten, und wenn Er nicht alle begnadigen und retten will, so darf Er wenigstens niemand bestrafen. Jede gerechte Regierung und Vergeltung ist damit beseitigt, und Gott ist gezwungen, das Böse in einer Weise zu dulden, wie es kein ehrbarer Mensch in seinem Haus oder in seiner Umgebung dulden würde. Dass Gott den Menschen gut und aufrichtig geschaffen und ihn ernst und eindringlich vor der Sünde und ihren Folgen gewarnt hat, dass aber der Mensch der Versuchung unterlegen ist und nachher Sünde auf Sünde, Gewalttat auf Gewalttat gehäuft hat – alles das wird absichtlich übersehen oder entschuldigt.

Aber man könnte fragen: Liegt in den Worten des Apostels, dass der Töpfer nach seinem Belieben aus demselben Ton ein Gefäß zur Ehre und ein anderes zur Unehre zu machen vermag, nicht doch eine Bestätigung dessen, was man Gott zum Vorwurf macht? Tatsächlich ist die Sprache des Apostels kühn, und selbst verständige Männer und einsichtsvolle Ausleger des Wortes Gottes sind an dieser Stelle irre geworden, indem sie vergaßen, dass dem Schreiber zunächst nur daran lag, die Unumschränktheit Gottes in ihrer ganzen Unverletzlichkeit aufrechtzuerhalten, und es weiter übersahen, dass Gott von seinem Recht gar nicht in der Weise Gebrauch gemacht hat, wie man es nach dem Bild von dem Töpfer erwarten sollte. Die beiden nächsten Verse werden uns darüber belehren, wie Gott gehandelt hat; aber es war Gott gegenüber geziemend und für den Menschen nützlich, vorher die unumschränkten Recht Gottes festzustellen. Wie selten denken gerade solche, die immer wieder von „Rechten“ reden, daran, dass Gott auch Rechte hat! Ja, wenn es überhaupt Rechte gibt, so müssen die Seinen als Schöpfer die höchsten, ja unumschränkt sein, vor allem wenn wir uns daran erinnern, dass wir nicht nur Geschöpfe, sondern gefallene Geschöpfe, Sünder, sind, die notwendigerweise die Früchte ihres bösen Tuns ernten müssen.

Doch hören wir, wie der Apostel die schwierige Frage beantwortet: „Wenn aber Gott, willens, seinen Zorn zu erweisen und seine Macht kundzutun, mit vieler Langmut ertragen hat die Gefäße des Zorns, die zubereitet sind zum Verderben, und damit er kundtäte den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Begnadigung, die er zuvor zur Herrlichkeit bereitet hat – uns, die er auch berufen hat, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Nationen“ (Röm 9,22-24).

Wir haben weiter oben schon darauf aufmerksam gemacht, dass Gott notwendigerweise einmal seinen Zorn über all das Böse, das in dieser Welt geschehen ist und geschieht, erweisen und an den hochmütigen, eigenwilligen Menschen seine Macht kundtun muss, wenn Er anders seinen Charakter als der heilige Gott aufrechterhalten will. Wie nun, wenn Er bis heute diesen Zorn und diese Macht nicht kundgetan, sondern statt dessen, „mit vieler Langmut“ die Gefäße des Zorns ertragen hat – kann man Ihm dann mit irgendwelchem Recht den Vorwurf der Unbarmherzigkeit oder der Ungerechtigkeit machen? Könnte der dreimal heilige Gott dem Bösen gegenüber gleichgültig bleiben oder gar Gemeinschaft mit ihm haben? Unmöglich! Und doch hat Er, trotzdem der Mensch, solange seine Geschichte währt, nicht aufgehört hat, Ihn durch die Verachtung aller seiner Rechte zu reizen und Ihn durch seinen unglaublichen Hochmut, durch Sittenlosigkeit, Götzendienst, Fluchen und Lästern herauszufordern, bis heute gezögert, das tausendfach verdiente Gericht auszuführen. Wie gnädig und langmütig ist Er also gewesen! Er hat „die Gefäße des Zorns“, das heißt die Menschen, an denen Er seinen Zorn erzeigen will, in wunderbarer Güte und Nachsicht getragen, ja, hat ihnen nichts als Gnade erwiesen, indem Er immer wieder zu ihnen redete, „früh sich aufmachend“, wie einst bei Israel. Aber was haben sie demgegenüber getan? Sie haben all seinen Rat verworfen und seine Zucht nicht gewollt! Tut Er Recht, wenn Er sie essen lässt von der Frucht ihres Weges und sie sich sättigen lässt von ihren Ratschlägen (vgl. Spr 1,24-33)?

Der Apostel nennt diese Menschen, im Anschluss an das Bild von dem Töpfer, „Gefäße des Zornes“, wie er auf der anderen Seite diejenigen, welche sich Gott unterwerfen und seinem Wort glauben, als „Gefäße der Begnadigung“ bezeichnet. Beide sind auf dem Weg zu ihrem endlichen Ziel, zum Verderben oder zur Herrlichkeit. Beide sind dazu „bereitet“. Aber übersehen wir nicht den großen Unterschied in der Art der Zubereitung! Viele haben ihn übersehen und dadurch den Sinn oder doch die Kraft der Beweisführung des Apostels nicht erfasst. Von den Gefäßen des Zornes sagt er nur: „zubereitet zum Verderben“, von den Gefäßen der Begnadigung aber: „die er (Gott) zuvor zur Herrlichkeit bereitet hat“. Von den Gefäßen des Zorns wird weder hier noch an irgendeiner anderen Stelle gesagt, dass Gott sie zum Verderben zubereitet habe; nein, sie selbst haben es getan durch ihre Sünden und vor allem durch ihren Unglauben und ihre Auflehnung gegen Gott. Die Gefäße der Begnadigung aber hat Gott bereitet, und zwar zuvorbereitet und zur Herrlichkeit bestimmt. Sie haben nichts dazu beigetragen, alles ist Gottes Werk, ausgeführt „nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade, die uns in Christus Jesus vor den Zeiten der Zeitalter gegeben worden ist“ (2Tim 1,9).

So ist denn wiederum das Böse nur auf des Menschen, nicht auf Gottes Seite, und anderseits kommt das Gute nur von Gott, nicht von uns. Ferner bestätigt sich wieder, dass der Vorsatz Gottes nach Auswahl besteht, nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden (Röm 9,11). Die Gefäße der Begnadigung sind nicht etwa zur Herrlichkeit bestimmt, weil sie sich vor anderen durch besondere Vorzüge oder geistliche Tugenden ausgezeichnet haben, sondern Gott hat sie nach seiner unumschränkten Auswahl, „nach Wahl der Gnade“, bedingungslos zur Herrlichkeit zuvorbereitet. Dass sie im Laufe der Zeit berufen, gerechtfertigt usw. werden mussten (vgl. Röm 8,29.30) und dass Gott das eine Gefäß mit mehr geistlichen Kräften und Gnadengaben füllt als das andere, ist gewiss so, aber alle sind von Ihm zuvorbereitet worden, ehe eines von ihnen da war, und zwar bereitet für seine eigene Herrlichkeit. Darum, wie wir schon wiederholt betonten, werden sie alle dereinst nur Gottes unergründliche, nie fehlende Gnade rühmen. Voll und ganz wird das Wort in Erfüllung gehen: „Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!“


Aus „Gerechtfertigt aus Glauben“. Römerbrief, Hückeswagen (CSV) 41993, S. 137–146
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