Wahrer Mensch und wahrer Gott
Philipper 2,5-8

Willem Johannes Ouweneel

© Heijkoop-Verlag, online seit: 13.12.2001, aktualisiert: 17.11.2022

Leitverse: Philipper 2,5-8

Phil 2,5-8: Denn diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christo Jesu war, welcher, da er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem er in Gleichheit der Menschen geworden ist, und, in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte, indem er gehorsam ward bis zum Tode, ja, zum Tode am Kreuze.

Die Gesinnung Christi Jesu

Wenn wir selbst völlig verschwinden, wenn der Herr alles ist und wir den Bruder mit Seinen Augen sehen lernen, werden wir ihn dann nicht höher achten als uns selbst und nicht mehr nur unsere eigenen Interessen sehen, sondern auch die des anderen? Dazu ist es nötig, in der Nähe des Herrn Jesus zu sein und die Gesinnung zu haben, die in Ihm war, als Er hier auf der Erde wandelte. Dann müssen wir diese vollkommene Opferfreudigkeit betrachten, die Ihn aus dem Himmel herniederkommen ließ, die Ihn den Weg durch die tiefste Tiefe gehen ließ, Ihn, der aus der höchsten Höhe kam. Warum tat der Herr Jesus das? Weil Er uns liebte! Und diese Liebe, diese wirklich echte, göttliche Liebe will nur eins: Sie will dienen und nicht bedient werden (Mt 20,28). Das eigene Fleisch, das eigene Ich, will gerne bedient werden. Was die Welt Liebe nennt, ist oft nur Selbstsucht und Egoismus, sie will nur etwas für sich bekommen. Das Ich steht dabei im Mittelpunkt. Allein der Herr Jesus hat uns wahre Liebe gezeigt, eine Liebe, in der Er Sich völlig hingab, in der Er Sich Selbst als Gott entäußert und als Mensch erniedrigt hat, wie wir das hier finden. Das ist die Gesinnung, mit der wir den Brüdern und Schwestern begegnen sollten. Wir wollen uns deshalb hüten, die folgenden Verse nur mit dem Ziel zu betrachten, die Herrlichkeit des Herrn Jesus zu sehen, wie kostbar und reich das auch ist. Lasst uns bedenken, dass der Apostel dies hier schreibt, um uns zu ermahnen, um uns bei jedem Wort, das wir hier über den Herrn Jesu finden, zuzurufen: Diese Gesinnung muss in euch sein. Bei jedem Schritt dieser Erniedrigung des Herrn sagt der Apostel: So müsst auch ihr gesinnt sein. Dann werden wir klein, was uns selbst betrifft, dann bleibt nichts von uns übrig, wenn wir sehen, was der Herr Jesus getan hat und was der Apostel hier, durch den Heiligen Geist getrieben, von uns erwartet, nämlich die Gesinnung zu haben, die den Herrn Jesus kennzeichnete, als Er aus dem Himmel kam, hier auf der Erde lebte und schließlich gehorsam wurde bis zum Tod am Kreuz.

Es geht hier nicht um Sein sühnendes Leiden auf dem Kreuz, durch das Er uns mit Gott versöhnt hat. In dieser Hinsicht kann der Herr Jesus kein Vorbild für uns sein. Darin war Er einzigartig. Der Heilige Geist kann uns niemals anspornen, dem Herrn Jesus in Seiner Hingabe für unsere Sünden zu folgen. Wir können uns weder für unsere eigenen Sünden noch die anderer Menschen hingeben. Daher geht es hier nicht um die sühnenden Leiden, sondern um die Gefühle Seines Herzens, die den Herrn bewogen, diesen dunklen, tiefen Weg zu gehen. Diese Gesinnung muss in uns sein. Das erwartet der Herr von uns. Er stellt Sich uns vor und sagt: Siehst du Meinen Weg, den ich gegangen bin? Ich will dir die Kraft geben, Meine eigene Kraft, damit du lernst, ebenfalls diesen Weg zu gehen.

„Da er in Gestalt Gottes war“

„Denn diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christo Jesu war, welcher, da er in Gestalt Gottes war …“ (Phil 3,5.6). Es ist bedeutend, dass der Apostel hiermit beginnt, um uns zu zeigen, auf welch einer gewaltigen Höhe der Herr Jesus Sich befand, bevor Er in die tiefste Tiefe herniederstieg. Es zeigt umso deutlicher, wie tief Sein Gang war, wenn wir zuvor sehen, wie hoch Seine Stellung war. Er war in der Gestalt Gottes oder, wie die englische Übersetzung sagt, in der „Form“ Gottes, das heißt, dass Seine Natur und Sein Wesen göttlich waren. Er war Gott, Gott der Sohn; Er war das Wort des Lebens, das bei dem Vater war und uns geoffenbart worden ist (1Joh 1,1.2). Er war der Sohn des Vaters (2Joh 3), von Ewigkeit beim Vater, Schoßkind bei Ihm, Tag für Tag Seine Wonne, vor Ihm Sich ergötzend allezeit (Spr 8,30). Er war Gott, der Sohn, der gewöhnt war, Legionen von Engeln zu gebieten, Er, der der Schöpfer war, durch den Gott die Welten geschaffen hat (Heb 1,2); der alle Dinge ins Dasein gerufen hat, der sprach, und es war, der gebot, und es stand da (Ps 33,9). Das war diese Person, von der wir hier lesen, dass Er Sich zu nichts machte. „Da er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst zu nichts machten“ (Phil 2,6.7). Er hat das Gott-gleich-Sein nicht als etwas Begehrenswertes betrachtet, als etwas, das es wert war, geraubt zu werden. Warum nicht? Weil Er Gott gleich war, weil Er in der Gestalt Gottes war, die Wesenskennzeichen und die Natur Gottes besaß.

Wenn wir diese Verse lesen, werden wir deutlich an einen anderen Menschen erinnert, den ersten Adam. Gott sagt hier sozusagen: Diese Gesinnung sei in euch, die in dem letzten Adam war. Gott sieht auf unser Leben und fragt Sich, ob Er in uns das Leben des ersten Adam oder das des letzten Adam wieder erkennt. Hast du den ersten Adam als Vorbild für dein Leben? Dann werde ich dir sagen, wie es der erste Adam gemacht hat. Er hat es sehr wohl für einen Raub geachtet, Gott gleich zu sein! Der Teufel kam zu Eva und sagte: Wenn du von diesem Baum isst, wirst du Gott gleich sein, erkennend Gutes und Böses (1Mo 3,5). Sie hörte lieber auf ihn statt auf Gott, weil sie es als begehrenswert betrachtete, Gott gleich zu sein. Adam hat sich mit ihr an diesem Raub vergriffen und sich selbst erhöht. Er hat keine Knechtsgestalt angenommen. Er war Knecht von Natur, aber wollte dieses Joch gerade von sich abwerfen und hat sich zu Gott erhoben, um Ihm gleich zu sein, indem er von dem Baum aß. Er hat sich selbst erhöht und ist ungehorsam geworden bis zum Tode, denn er hat auf den Teufel gehört. Doch das Wort Gottes ist eingetreten, dass, wenn er ungehorsam sein würde, er des Todes sterben würde. Darum hat Gott ihn auch sehr erniedrigt, wie Lukas 14,11 sagt: „Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“

Das ist das Bild des ersten Adam; das ist unser Bild. Wir haben uns ausgestreckt nach dem, was Gottes war. Wir haben Räuber werden wollen, um Gott gleich zu sein, und durch die Sünde wurden auch wir wie Gott, erkennend Gutes und Böses, doch zugleich waren wir selbst durch das Böse unterjocht. Uns wurde bewusst, dass wir nackt waren, und wir verbargen uns vor Ihm. So sind wir ungehorsam geworden bis zum Tode. Das ist der Zustand der ganzen Menschheit, denn dieser tote Adam ist der Stammvater und das Haupt des ganzen menschlichen Geschlechtes geworden.

Doch nun, sagt Gott, ist ein zweiter Mensch gekommen. Gott hat Tausende von Jahren nach diesem zweiten, dem letzten Adam Ausschau gehalten. Er hat gesehen (Ps 14), ob jemand da war, der Gutes tat. Er hat herniedergesehen auf die Menschen, ob vielleicht einer da war, der Gott suchte. Doch alle waren abgewichen, sie waren allesamt untauglich geworden. Bis da dieser Mensch kam, den Gott dreißig Jahre lang beobachtete und in dem Er nichts fand, das zu Seinem Charakter im Gegensatz gestanden hätte, das nicht in Übereinstimmung gewesen wäre mit Seinem Wesen. Nach dreißig Jahren öffnete sich der Himmel und sagte Gott: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe“ (Mt 3,17). Das sagte Er von dem Menschen Jesus Christus, von Ihm, der in der Gestalt Gottes war und Sich Selbst zu nichts machte.

„Sich selbst zu nichts machte“

Was heißt es, uns selbst zu nichts zu machen? Denken wir an 2. Korinther 8,9: „Denn ihr kennet die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, dass er, da er reich war [denn Er war in der Gestalt Gottes], um euretwillen arm wurde, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet.“ Er hat Sich Selbst zu nichts gemacht, Er hat im Blick auf die Menschen Seine Herrlichkeit als Gott verschleiert. Natürlich war Er Gott, als Er hier auf der Erde war, genauso wie Er das im Himmel war; aber Er war hier nicht öffentlich in Seiner göttlichen Herrlichkeit. Wenn Er so hier gewesen wäre, würde Er uns alle verzehrt haben, denn niemand kann Gott sehen und leben. Er war hier in Niedrigkeit, so dass der Überrest Israels, wenn er sich in Zukunft bekehrt haben wird, im Zurückdenken an seinen Unglauben sagen wird: „Er hatte keine Gestalt und keine Pracht; und als wir ihn sahen, da hatte er kein Ansehen, dass wir seiner begehrt hätten“ (Jes 53,2). Lediglich Seine gläubigen Jünger konnten später bezeugen: „Wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater“ (Joh 1,14). Aber diese Herrlichkeit war nur dann und wann für den Glauben sichtbar; Er hatte keinen Heiligenschein um Sein Haupt. Er war hier als Mensch uns völlig gleich. Er kam in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde (Röm 8,3), obwohl Er Selbst die Sünde weder kannte noch tat und nicht einmal durch die Sünde versucht werden konnte. So war Er: Gott, der Sich zu nichts machte, um Mensch zu werden. Er hat im Blick auf uns Seine äußere Herrlichkeit abgelegt. Natürlich hat der Herr Jesus bei Seinem Kommen nicht Seine Gottheit abgelegt, wie leider einige Menschen in dieser Zeit sagen. Wie ist es möglich, dass Er, der Gott Selbst war, Seine Gottheit hätte ablegen können! Nein, Er hat lediglich im Blick auf uns, damit wir nicht verzehrt würden, Seine Herrlichkeit verschleiert.

So kam Er zu uns als ein Mensch, uns völlig gleich. Doch nicht einfach ein Mensch! Wir hätten uns vorstellen können, dass Ihm hier auf der Erde unmittelbar überall der erste Platz eingeräumt worden wäre. Als der Herr Jesus in Seine eigene Schöpfung eintrat, konnte es nicht anders sein, als dass Er der Erstgeborene der ganzen Schöpfung war (Kol 1,15). Der Schöpfer nahm teil an Seiner eigenen Schöpfung. Musste Er nicht den ersten Platz unter allen Geschöpfen einnehmen? In Ihm und durch Ihn und für Ihn sind ja alle Dinge geschaffen (Kol 1,16). Doch äußerlich nahm Er nicht den ersten Platz ein. Denn aufgrund der Gesinnung, die in Ihm war, wollte Er nicht der Hervorragendste der Menschen sein. Er sagt Selbst: „Gleichwie der Sohn des Menschen nicht gekommen ist, um bedient zu werden …“ (Mt 20,28). Wie selbstverständlich wäre es gewesen, wenn Er, der Schöpfer aller Dinge, der Herr der Engel, der Könige und der Menschen gekommen wäre, um Sich bedienen zu lassen! Doch Er kam, um Selbst zu dienen und Sein Leben als ein Lösegeld für viele zu geben! Er sagt zu Seinen Jüngern: „Denn wer ist größer, der zu Tische Liegende oder der Dienende? Nicht der zu Tische Liegende? Ich aber bin in eurer Mitte wie der Dienende“ (Lk 22,27). Er, den sie Meister nannten, war in ihrer Mitte als einer, der diente. Das waren nicht lediglich Worte, denn bei derselben Gelegenheit umgürtete Er Sich, nahm Wasser, beugte Seine Knie und wusch die Füße der Jünger. Das ist die Gesinnung, die in Christus Jesus war, diese Gesinnung, die sich vollkommen für andere aufopferte, Sich Selbst aufgab, nicht an eigene Interessen dachte, nicht einmal an die eigenen Rechte als Schöpfer, als Herr, als Meister, sondern nur an die anderen. Das ist Liebe. „Diese Gesinnung sei in euch!“

Er nahm Knechtsgestalt an, Er, der zur gleichen Zeit in der Gestalt Gottes blieb. Er sagte, nachdem Gott Tausende von Jahren vergeblich ausgeschaut hatte nach einem, der Gutes tat: „Siehe, ich komme; in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben. Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine Lust; und dein Gesetz ist im Innern meines Herzens“ (Ps 40,8.9; Heb 10,7). Er nahm freiwillig Knechtsgestalt an. Das beweist, dass Er Gott ist! Wenn Er nicht Gott gewesen wäre, hätte Er nicht die Gestalt eines Sklaven annehmen können. Wir Menschen sind von Natur Sklaven, seien wir nun Sklaven der Sünde oder Sklaven Gottes. Auch die Engel sind Diener Gottes; sie dienten dem Herrn Jesus. Weder sie noch wir konnten also Knechtsgestalt annehmen, denn wir waren bereits Sklaven. Was für einen Menschen Sünde ist, nämlich seinen Zustand zu verlassen, war bei Ihm eine göttliche Tat der Selbstentäußerung. Er, der Gott war, konnte im Fleisch geoffenbart werden (1Tim 3,16). Eine Person, in der Gestalt Gottes und in Knechtsgestalt! Kannst du das verstehen? „Niemand erkennt den Sohn als nur der Vater“ (Mt 11,27). Das Geheimnis des Sohnes ist unbegreiflich für ein Menschenkind. Knechtsgestalt und in Gestalt Gottes – welch ein Gegensatz! Und das in einer Person.

„Indem er in Gleichheit der Menschen geworden ist“

So ist Er hier als Mensch Seinen Weg auf der Erde gegangen. „Indem er in Gleichheit der Menschen geworden ist, und, in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden“ (Phil 2,7.8). Da war kein Unterschied. Es war nicht so, wie man manchmal hört, dass Er nur äußerlich eine menschliche Gestalt annahm, dass Er Gott war in einer menschlichen Hülle. Nein, Er ist vollkommen, wahrhaftig Mensch geworden mit einem menschlichen Leib, einer menschlichen Seele und einem menschlichen Geist. Er hatte Hunger, nachdem Er vierzig Tage in der Wüste umhergegangen war; Er war müde und durstig, als Er an dem Brunnen zu Sichar saß; Er war ein Mensch, uns völlig gleich. Ein Mensch, gekommen in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde, doch einer, der die Sünde nicht kannte und nicht getan hat. Das ist der Unterschied— aber sonst vollkommen gleich. So ging Er hier Seinen Weg. Er fiel äußerlich nicht auf in der Menge, es sei denn wegen dessen, was Er tat oder sagte, aber Er war äußerlich ein Mensch wie wir. Es war nichts Besonderes an Ihm zu sehen, dass wir Ihn begehrt hätten (Jes 53,2).

„Bis zum Tode“

Doch diese Selbstentäußerung, dieser niedrige Platz als Sklave war nicht genug. Wenn Er nach dreißig Jahren zu Gott zurückgekehrt wäre, hätte Gott zu Ihm, der Knecht geworden war, gesagt: „Wohl, du guter und treuer Knecht …; gehe ein in die Freude deines Herrn“ (Mt 25,21). Der Herr Jesus hätte so zurückkehren können, Er brauchte nicht zu sterben, denn Er war ohne Sünde. Ja, für uns ist das Sterben eine Selbstverständlichkeit. „Der Lohn der Sünde ist der Tod“ (Röm 6,23). „Wie es dem Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben“ (Heb 9,27). Doch Er brauchte nicht zu sterben. Er hatte nicht gesündigt. Es gab also für Ihn keinen Lohn der Sünde. Er hätte zu Gott zurückkehren können und wäre für Seinen treuen Dienst hier auf der Erde belohnt worden. Doch was wäre mit uns geschehen? Dein und mein Gericht wäre umso viel schrecklicher geworden. Denn wenn wir einmal vor Gott gestanden und gesagt hätten: Wir konnten nicht anders, der Teufel hat uns verführt (vgl. 1Mo 3,13), oder: Wir waren zu kleine, schwache Menschen, Gott hat zu viel von uns gefordert, dann würde der Herr Jesus zu uns gesagt haben [denn Er wird der Richter sein; Joh 5,22.27; Apg 17,31]: Ich bin dreiunddreißig Jahre auf der Erde gewandelt, euch völlig gleich. Ich habe niemals etwas getan, das Gott nicht wohlgefallen hat. Das würde unser Gericht viele Male vergrößert haben, denn Er ist der lebendige Beweis, dass der Mensch im Grundsatz wohl den Forderungen Gottes hätte entsprechen können, wenn er gehorsam gewesen wäre. Aber der Herr Jesus ist dem Tod nicht aus dem Wege gegangen. Er, der Sich als Gott zu nichts machte, hat, nachdem Er Mensch geworden war, Sich auch noch als Mensch erniedrigt. Äußerlich als Mensch erfunden, hat Er Sich Selbst erniedrigt und hat als Mensch den denkbar niedrigsten, verächtlichsten Platz eingenommen. Ich möchte wieder die Aufmerksamkeit auf den Kern dieser Worte lenken, wodurch unmittelbar unsere Gewissen und Herzen angesprochen werden müssen. Warum wird dies alles gesagt? Damit diese Gesinnung, die in Ihm war, der Sich völlig aufgab und nur an den anderen dachte, für den Er den tiefsten Platz einnahm, auch in uns sei! Diese Gesinnung war voller Liebe und wollte und konnte nichts anderes als dienen. Solch eine Liebe war in Ihm und ließ Ihn gehorsam sein bis in den Tod, ja, den Tod am Kreuz.

Er ist gehorsam geworden, Er, der im Himmel niemals gehorsam zu sein brauchte. Er konnte im Himmel nicht aus Erfahrung wissen, was Gehorsam war. Er war gewöhnt, dass man Ihm gehorchte. Er, der gebot, und es stand da, Er, der sprach, und es war. Legionen Engel mussten Ihm gehorchen. Doch Er kam auf die Erde, und obwohl Er Sohn war, hat Er hier Gehorsam lernen müssen (Heb 5,8). Er hat buchstäblich an Seinem Leibe erfahren müssen, was es war zu gehorchen; was die Konsequenzen des Wortes waren: „Siehe, ich komme, o Gott, um deinen Willen zu tun.“ Er wusste, was das bedeutete. Denn Er sagt kurz zuvor (Heb 10): „Schlachtopfer und Speisopfer und Brandopfer und Opfer für die Sünde hast du nicht gewollt.“ Er wollte Sich Selbst als Opfer geben; Er, der nicht zu sterben brauchte, nahm Blut und Fleisch an, um sterben zu können (Heb 2,14). Er kam als Mensch auf die Erde, um gehorsam zu werden bis zum Tod. Er hat das in der harten Praxis des Lebens gelernt. Nicht in einem Leben, wie wir das haben, sondern einem Leben, worin Gott Ihm diesen Weg wies, der auf dem Kreuz endete. Er konnte sagen: „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, auf dass ich es wiedernehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst. Ich habe Gewalt es zu lassen, und habe Gewalt es wiederzunehmen. Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen“ (Joh 10,17.18). Der Vater hatte Ihm ein Gebot gegeben und Er ist diesem Gebot gehorsam geworden, gehorsam bis zum Tod, denn der Vater hatte Ihm geboten, Sein Leben abzulegen, auf dass Er es wiedernehme. Er ist gehorsam geworden, weil diese Gesinnung in Ihm war und weil Er an Personen dachte, die das durchaus nicht wert waren, die überhaupt nicht danach fragten. Auch unsere Brüder und Schwestern erwarten es nicht immer von uns, dass wir uns so für sie einsetzen. Nach unseren Maßstäben haben sie es auch nicht immer verdient, dass wir sie höher achten als uns selbst. Und doch – es ist nicht die Frage, ob sie Wert in sich selbst haben, sondern ob wir durch die Gesinnung des Herrn Jesus getrieben werden, der Sich für dich und mich hingab, als nichts Anziehendes in uns war, weshalb Er gerne für uns in den Tod gegangen wäre. Er hat es getan, weil der Vater Ihm dazu ein Gebot gegeben hatte und weil Er Selbst das Verlangen hatte, Sein Leben hinzugeben und uns dadurch zu Seinem Eigentum zu machen. Das ist Liebe! „Denn diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war.“ Eine Gesinnung, die, wenn es sein muss, auf dem Kreuz endet.

Weißt du, was das Kreuz ist? Es geht mir hier wieder nicht um das Kreuz als den Ort, wo unsere Versöhnung zustande gekommen ist, sondern um das Kreuz, wie es auch in deinem und meinem Leben eine Bedeutung haben muss, denn es geht hier immer um das Vorbild für uns. Auch wir müssen unser Kreuz aufnehmen und so dem Herrn nachfolgen. Auch unser Weg kann buchstäblich oder bildlich auf dem Kreuz enden, wenn unsere Gesinnung der des Herrn Jesus entspricht. Viele Menschen haben ein Kreuzchen im Zimmer oder um den Hals hängen. Das Kreuz ist ein Ehrenzeichen geworden. Konstantin der Große sagte, dass er in diesem Zeichen gesiegt hätte. Doch hier ist das Kreuz nicht eine Ehre, sondern der Platz der tiefsten Schande. Der Herr Jesus erduldete das Kreuz, der Schande nicht achtend (Heb 12,2). Und in Galater 5,11 und 1. Korinther 1,23 lesen wir von dem „Ärgernis des Kreuzes“. Ja, das Kreuz ist ein Ärgernis!

Ich sprach in dieser Woche noch mit einer jüdischen Frau über das Evangelium, und ich merkte erneut, dass die Menschen, und ganz besonders die Juden, nicht von jemandem gerettet werden wollen, der an einem Kreuz hing. Es gibt nichts Schmachvolleres und Verächtlicheres als das Kreuz Jesu. Als Paulus zu den Korinthern kam, zu den Weisen, die so sehr von sich selbst überzeugt waren, sagte er: Ihr, die ihr meint, so weise zu sein, ich konnte zu euch nicht kommen mit der Weisheit Gottes, mit dem, was Gottes Ratschlüsse beinhaltet. Sondern ich konnte zu euch nur über das verächtliche Kreuz sprechen; über Jesus Christus, und Ihn als gekreuzigt (1Kor 2). Wir aber predigen Christus als gekreuzigt. Ja, das ist nötig für Menschen, die hoch von sich selbst denken; diese müssen mit dem verächtlichen Kreuz Bekanntschaft machen, damit sie dort auch ihre eigene Nichtigkeit sehen lernen.


Auszug aus dem Buch Christus, unser Leben. Die Briefe an die Philipper und Kolosser, Schwelm (Heijkoop) 1984, S. 41–48

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