Geistliches Wachstum (3)
Der erwachsene Christ

Willem Johannes Ouweneel

© Bode, online seit: 12.03.2002, aktualisiert: 06.01.2024

Einleitung

Wir kommen in diesem zweiten Artikel über geistliches Wachstum zu den beiden deutlichsten Schriftstellen über geistliches Erwachsensein, nämlich Epheser 4,11-16 und Hebräer 5,12-14. Der erste Text sagt, dass Christus seiner Gemeinde Gaben gegeben hat, „zur Vollendung der Heiligen …; bis wir alle hingelangen zu der Einheit des Glaubens und zur Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu dem erwachsenen Mann, zu dem Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus; auf dass wir nicht mehr Unmündige seien, hin und her geworfen und umhergetrieben von jedem Wind der Lehre …, sondern … lasst uns in allem heranwachsen zu ihm hin, der das Haupt ist, der Christus, aus welchem der ganze Leib … für sich das Wachstum des Leibes bewirkt zu seiner Selbstauferbauung in Liebe“. Hier erfahren wir eine ganze Anzahl besonders wichtiger Dinge in Bezug auf das geistliche Wachstum.

Vier Punkte, um geistlich zu wachsen

  1. Als Erstes lernen wir, dass Christus bestimmte Mittel zur Verfügung gestellt hat, um unser Wachstum zu bewirken. Das sind die Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer, die gegeben sind, um die Heiligen zu „vollenden“, das heißt erwachsen werden zu lassen (hier steht nicht teleios, sondern ein anderes Wort, das wir später noch besprechen werden).

  2. Zum Zweiten lernen wir hier, was ein typisches Kennzeichen von „Unmündigen“ oder „kleinen Kindern“ ist: Sie haben noch kein Unterscheidungsvermögen. Genau wie buchstäbliche kleine Kinder es manchmal tun, laufen geistliche „Knirpse“ nur allzu leicht mit „fremden Männern“ mit. Sie laufen ohne Weiteres den fremdartigsten Irrlehren hinterher. Darum müssen sie erzogen werden, damit sie die Wahrheit von den Lügen unterscheiden lernen.

  3. Als Drittes lernen wir hier, dass geistliches Wachstum nicht eine rein individuelle Angelegenheit ist, sondern auch einen gemeinschaftlichen Aspekt beinhaltet: Wir sollen zusammen zu dem Haupt des Leibes hinwachsen, zu Christus, der das Wachstum bewirkt, nicht allein das der einzelnen Gläubigen, sondern auch des Leibes als Ganzem.

  4. Als Viertes lernen wir hier – und das ist das Wichtigste –, wohin wir wachsen sollen: Christus ist das große Endziel. Das wird hier ganz ausführlich formuliert: „zu dem erwachsenen Mann, zu dem Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus“. In manchen Kinderzimmern ist eine „Messlatte“ an der Wand befestigt, an der die Kinder abmessen können, wie ihr Wachstum vorangeht. So zeigt Paulus hier auch eine „Messlatte“, einen „Maßstab“, um unser geistliches Wachstum daran „abzumessen“. Dies ist nämlich das volle „Maß“, das wir wachsend erreichen sollen: „das Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus“. Der „erwachsene Mann“, von dem hier die Rede ist, ist in der Tat „erwachsen“, wenn er dieses Maß erreicht hat. Wie „buchstäblich“ hier an Wachsen gedacht wird, zeigt sich aus dem Wort für den „vollen Wuchs“ (Ausgewachsensein). An anderer Stelle wird das betreffende griechische Wort nämlich gebraucht, um jemandes Lebenslänge anzudeuten, oder auch jemandes Leibeslänge (Lk 19,3).

    Wie wichtig ist dieses Maß! Hier wird deutlich bestätigt, was wir in einem anderen Artikel sahen in Verbindung mit der Auserwählung. Gott hat uns dazu vorherbestimmt, seinem Sohn zu gleichen. Und jetzt finden wir sozusagen, dass wir erst dann erwachsen sind, wenn wir tatsächlich Christus gleichen! Wir sollen „heranwachsen zu ihm, der das Haupt ist, Christus“ (Eph 4,15). Jedes Glied des Leibes des Christus soll immer mehr die Charakterzüge des Hauptes dieses Leibes zeigen. Das geht nicht an unserer Verantwortlichkeit vorbei. Es ist der Leib, der „für sich das Wachstum des Leibes bewirkt zu seiner Selbstauferbauung in Liebe“ – aber das tut der Leib doch „aus ihm“ (Eph 4,16)! Wir sollen selbst die Verantwortung dafür auf uns nehmen, dass wir wachsen; aber Er ist derjenige, der uns dazu seine Kraft und seine Leitung schenkt. Er gibt die Gaben, die zu unserem Wachstum dienen (Eph 4,11-16), Er ist die Quelle, von der aus das Wachstum geschieht, und Er ist auch das Endziel, wohin unser Wachstum unterwegs ist. Von Anfang bis Ende dreht sich alles um Ihn; und unser Wachstum ist vollendet, wenn Er auch tatsächlich alles für uns und alles in uns ist. Das ist der neue Mensch, sagen wir: Christus alles und in allen (Kol 3,11).

Vom ABC zum XYZ

Vielleicht scheint der letzte Text, in dem wir den Begriff „erwachsen“ finden, uns von Christus wegzuführen; sein Name wird darin zumindest nicht genannt. Aber wir werden gleich sehen, dass es sich auch hier um Ihn dreht. Wir finden den Text in Hebräer 5,12-14: „Ihr bedürfet wiederum, dass man euch lehre, welches die Elemente des Anfangs der Aussprüche Gottes sind; und ihr seid solche geworden, die der Milch bedürfen und nicht der festen Speise. Denn jeder, der noch Milch genießt, ist unerfahren im Wort der Gerechtigkeit, denn er ist ein Unmündiger; die feste Speise aber ist für Erwachsene, welche vermöge der Gewohnheit geübte Sinne haben zur Unterscheidung des Guten sowohl als auch des Bösen.“

Gerade vorher hat der Schreiber des Hebräerbriefes über den Sohn Gottes gesprochen und über den mühevollen Weg, den Er gehen musste, um zur Bestätigung seines Amtes als Hoherpriester zu kommen. Direkt vor unserem Text wird Christus beschrieben als „durch Gott begrüßt als Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks“ (Heb 5,10) Dann geht der Text weiter: „Über diesen haben wir viel zu sagen, und was mit Worten schwer auszulegen ist, weil ihr im Hören träge geworden seid“ (Heb 5,11). Das Thema betreffs Christus als Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks ist „schwierig“, nicht weil es so kompliziert ist, sondern weil man dazu die richtige geistliche Gesinnung haben muss! Wenn das Herz nicht warm ist für den Herrn Jesus, klagt ein Christ nur allzu schnell, dass „alles so schwierig ist“ – aber, so sagt der Schreiber, das ist, „weil ihr im Hören träge geworden seid“.

Er hat in der Tat gewaltige Dinge über Christus als den wahren Melchisedek zu sagen. Das folgt später in Hebräer 7,1-3, mit dem Schlusssatz: „Schaut aber, wie groß dieser war!“ (Heb 7,4). Geistlich erwachsene Christen haben ein Herz, das so voll ist von Ihm, dass es bei einer so prachtvollen Beschreibung, eigentlich einer Beschreibung von Christus selbst, von selbst mitschwingt. Aber weil die Hebräer nicht geistlich erwachsen waren, folgt erst einmal ein langer Einschub von Kapitel 5,11 bis zum Ende von Kapitel 6. Dort hören wir, wodurch es kam, dass die Hebräer für diese Belehrung noch nicht reif waren. Sie waren schon so lange bekehrt, dass sie eigentlich selbst Lehrer dieser Wahrheiten hätten sein sollen. Aber nein, sie waren Babys geblieben. Es ging hier nicht um eine rein intellektuelle Erkenntnis der Wahrheit, sondern gerade um eine ganz praktische Erkenntnis. Das ist eine Erkenntnis, die es dem Gläubigen ermöglicht, „sowohl das Gute als auch das Böse zu unterscheiden“ (Heb 5,14). Wahre Erkenntnis von Christus ist „erwachsene“ Erkenntnis, die es Gläubigen möglich macht, den Weg des Gehorsams zu gehen, den Weg, der zur Ehre Gottes und des Christus ist.

Was war das Problem der Hebräer? Sie hatten eine ganze Menge Probleme, aber das Problem, das hier im Vordergrund steht, ist, dass sie steckengeblieben waren in „den Elementen des Anfangs der Aussprüche Gottes“ (Heb 5,12). Darauf kommt der Schreiber später noch einmal zurück: „Deshalb, das Wort vom Anfang des Christus [zurück]lassend, lasst uns fortfahren zum vollen Wuchs und nicht wiederum einen Grund legen mit der Buße von toten Werken und dem Glauben an Gott, der Lehre von Waschungen und dem Hände-Auflegen und der Totenauferstehung und dem ewigen Gericht“ (Heb 6,1.2). Obwohl ihre Lebensumstände ganz anders sind als bei diesen Hebräern, gibt es auch heute noch viele Christen, die niemals weiter kommen als bis zum ABC des christlichen Glaubens. In manchen Kreisen wird ununterbrochen beinahe ausschließlich über die elementaren Dinge gesprochen. Ich nenne ein paar Beispiele, obwohl das immer riskant ist; ich erwähne sie deshalb ausdrücklich mit dem Zusatz „ohne jemand damit zu nahe treten zu wollen“. Menschen kommen zur Bekehrung, indem sie das Evangelium hören, aber sie bleiben danach in einer Gemeinde hängen, wo jeden Sonntag nur dieses Evangelium zu den Sündern gepredigt wird, so dass sie niemals weiterkommen. Andere hören fast Sonntag für Sonntag über die Notwendigkeit der Taufe mit dem Heiligen Geist und bekommen dadurch das Gefühl, dass das Christenleben nicht weiter reicht als zur Zungenrede und zum Toronto-Segen. Von weiterem geistlichem Wachstum ist keine Rede. Wieder andere werden fast jeden Sonntag mit dem Gesetz konfrontiert, „um dieses aus Dankbarkeit zu tun“, und denken, dass das Christenleben hauptsächlich aus diesem „Du sollst nicht …“ besteht. Kein Wunder, dass sie nicht wachsen. Wieder andere denken, dass das Christenleben hauptsächlich besteht aus Dingen wie „Kein Fernsehen, keine Hosen für Frauen, keine Sonntagsarbeit“ (achte auf das dreifache „Kein“!). Kein Wunder, dass sie nicht wachsen. Wieder andere sprechen immer über die „Freude des Bundes“, aber können wenig erzählen über ihre persönliche Beziehung zum Herrn Jesus. Kein Wunder, dass sie nicht wachsen. Wieder andere sprechen ständig von „Absonderung“ und „Reinheit“, aber es zeigt sich wenig Freude aus einer erlebten Beziehung zum Herrn. Kein Wunder, dass sie Unmündige bleiben.

Beachte bitte: An sich sind manche dieser Dinge wohl sehr wichtig. Darum geht es hier überhaupt nicht. Was Hebräer 6,1.2 aufzählt, sind an sich auch alles sehr wichtige Dinge. Worum es geht, ist, dass so viele Christen niemals weiterkommen. Sie bleiben in diesem ABC des Glaubens stecken. Man sieht das auch an der Tatsache, dass sie diese Dinge oft mit einer bemerkenswerten Eifersucht und Streitbarkeit bewachen und verteidigen – Eigenschaften, die Paulus in 1. Korinther 3,1-3 als Kennzeichen von Unmündigkeit nennt. Je weniger die Gläubigen die Freuden kennen, die dem geistlich Erwachsenen zuteilwurden, umso mehr klammern sie sich an diesem ABC fest, das so typisch für die Unmündigen ist. Sie gehen dafür durch Dick und Dünn. Aber sie wachsen nicht. Wenn sie geistlich erwachsen würden, würden sie dieses ABC gewiss weiterhin wichtig finden, aber in der Gesamtschau des Christenlebens würden sie ihm doch eine untergeordnete Rolle zuteilen. Für manche ist es schon fast ein Frevel, so etwas zu sagen, so wichtig sind ihre eigenen Schibboleths für sie. Aber wenn Christen heranwachsen, fangen sie an zu verstehen, dass es nichts gibt, was hinausgeht über die „Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus. Ihm sei die Herrlichkeit, sowohl jetzt als auch auf den Tag der Ewigkeit“ (2Pet 3,18). Von den „Vätern“, das ist den geistlich Erwachsenen, nennt Johannes nur ein Kennzeichen, und das ist, dass sie Ihn kennen, der von Anfang ist (1Joh 2,13.14). Das ist alles!

Aber damit ist auch alles gesagt. Diejenigen, für die Christus alles ist, verachten das ABC nicht; aber sie betrachten es genau als das, was es ist: als ABC und mehr nicht. Ich habe in meinem Leben viele Briefe bekommen von Christen, die sich fürchterlich den Kopf zerbrechen um eine Kleinigkeit. Einige scheinen ihr ganzes Leben einzusetzen für die Frage, ob Christus nun am Mittwoch, am Donnerstag oder am Freitag gestorben ist. Andere machen ein lebenswichtiges Thema daraus, dass das Abendmahlsbrot unbedingt ungesäuert und der Abendmahls-„Wein“ unbedingt unvergoren sein muss. Wieder andere regen sich auf über den „okkulten“ Charakter zum Beispiel der Narnia-Geschichten[1] oder der Homöopathie. Wieder andere sind vor allem „gegen“ irgendetwas: gegen gemischtes Schwimmbad, gegen Sport am Sonntag (in welcher Form auch immer), gegen Impfungen, gegen kirchliche Dialoge, gegen Jugendarbeit usw. Aber ich fürchte, dass alle diese Anstrengung nur allzu oft ein Zeichen geistlicher Armut ist.


Übersetzt aus Bode van het heil in Christus, Vaassen, NL, Jg. 140, Nr. 9, September 1997, S. 173–177

Übersetzung: Frank Schönbach

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Anmerkungen

[1] Anm. d. Übers.: Der Autor ist C.S. Lewis.

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