Das Matthäusevangelium (27)
Kapitel 27

William Kelly

© J. Das, online seit: 16.12.2003, aktualisiert: 10.12.2020

Leitverse: Matthäus 27

Danach sehen wir unseren Herrn nicht mehr bei Seinen versagenden, treulosen oder verräterischen Jüngern, sondern, als Seine Stunde gekommen war, in der Gewalt der feindlichen Welt der Priester, Landpfleger, Söldner und des Volkes. Alles, was der Mensch versuchte, brach zusammen. Sie hatten ihre Zeugen; diese stimmten hingegen nicht überein. Überall sehen wir Versagen, sogar in der Bosheit. Nicht der Wille des Menschen versagte, sondern seine Ausführung. Ausschließlich Gott leitete alles. So wurde Jesus nicht aufgrund ihres Zeugnisses verurteilt, sondern Seines eigenen. Wie wunderbar! Sogar um Ihn zu töten, benötigten sie das Zeugnis Jesu. Sie konnten Ihn nur wegen Seines guten Bekenntnisses (1Tim 6,13) zum Tod verurteilen. Sein doppeltes Zeugnis – nämlich vor den Hohenpriestern und vor dem Landpfleger – von der Wahrheit erlaubte ihnen, ihre böseste Tat auszuführen. Nachdem Pilatus durch seine Frau gewarnt worden war, denn der Herr sorgte dafür, dass es einen Hinweis durch die Vorsehung gab, und weil Ersterer zu weitblickend war, um die Bosheit der Juden und die Unschuld des Angeklagten zu übersehen, erklärte Pontius Pilatus seinen Gefangenen für schuldlos. Trotzdem erlaubte er, dass man ihn zwang, gegen sein Gewissen und nach den Wünschen derer, die er von Herzen verachtete, zu handeln.

Noch einmal, bevor Jesus zur Kreuzigung hinausgeführt wurde, zeigten die Juden ihren sittlichen Zustand. Denn als der rohe Heide sie vor die Alternative stellte, ihnen Jesus oder Barabbas freizulassen, gaben sie unter priesterlicher Anstiftung einem Schuft, einem Räuber und Mörder den Vorzug. Diese Gefühle hatten die Juden, Gottes Volk, für ihren König, weil Er der Sohn Gottes, Jehova, und nicht einfach ein Mensch war. Mit bitterer Ironie, doch nicht ohne Gott, schrieb Pilatus die Beschuldigungsschrift: „Dieser ist Jesus, der König der Juden“ (Mt 27,37). Das war indessen nicht das einzige Zeugnis vonseiten Gottes; denn von der sechsten Stunde an war eine Finsternis über dem ganzen Land bis zur neunten Stunde. Und dann, als Jesus mit lauter Stimme Seinen Geist aufgab, geschah das, was insbesondere das Herz eines Juden treffen musste. Der Vorhang des Tempels wurde von oben bis unten in zwei Stücke zerrissen; die Erde erbebte und die Felsen zersprangen. Was kann man sich ernster für Israel vorstellen? Sein Tod war der Todesstreich für das jüdische System als Folge eines Schlages Dessen, der unverkennbar der Schöpfer von Himmel und Erde war. Nicht nur jenes System wurde aufgelöst, sondern sogar die Macht des Todes. Denn die Gräber wurden geöffnet, und viele Leiber von entschlafenen Heiligen wurden auferweckt und kamen nach Seiner Auferstehung aus ihren Grüften als Zeugen von dem Wert Seines Todes. Allerdings wurde der Wert dieses Todes erst nach Seiner Auferweckung verkündet.

Ich zögere nicht, es auszusprechen: Der Tod Jesu ist die einzige Grundlage einer rechtmäßigen Befreiung von der Sünde. In der Auferweckung wird die gewaltige Macht Gottes gesehen. Aber was bedeutet Macht für einen Sünder, dem Gott vor seiner Seele steht, im Vergleich zur Gerechtigkeit? Im Vergleich zur Gnade? Und genau das haben wir hier. Deshalb ist allein der Tod Jesu der wahre Mittel- und Angelpunkt aller Ratschlüsse und Wege Gottes in Gerechtigkeit und Gnade. Ohne Zweifel ist es die Auferstehung, welche alles offenbar und bekannt macht. Sie verkündet hingegen die Macht Seines Todes, weil dieser allein Gott sittlich gerechtfertigt hat. Ausschließlich der Tod Jesu hat bewiesen, dass nichts Seine Liebe überwältigen konnte. Sogar Verwerfung und Tod waren nur die Gelegenheiten, Seine Liebe bis zum Äußersten zu zeigen. Selbst in der Person Jesu bietet nichts einen solchen gemeinsamen und vollkommenen Ruheplatz für Gott und den Menschen wie Jesu Tod. Wenn wir uns jedoch mit den Begriffen Kraft, Freiheit und Leben beschäftigen, müssen wir uns zweifellos zur Auferstehung wenden. Deswegen wird sie notwendigerweise in der Apostelgeschichte besonders herausgestellt. Denn hier ging es auf der einen Seite darum, einen Beweis von der offenbarten und verworfenen Gnade zu liefern. Auf der anderen Seite erfahren wir, wie Gott die Entehrung Jesu durch den Menschen in ihr Gegenteil umkehrte, indem Er Ihn von den Toten auferweckte und zu Seiner Rechten im Himmel erhöhte. Das zeigte sich nicht im Tod Jesu. Im Gegenteil! Im Tod Jesu schienen die Menschen zu triumphieren. Sie waren Ihn losgeworden. Aber die Auferstehung bewies, wie vergeblich und kurzlebig ihr Sieg war und dass Gott gegen sie auftrat. Gott wollte deutlich machen, dass der Mensch sich in grenzenloser Feindschaft gegen Ihn befand. Daraufhin erklärte Gott Sein Urteil darüber. Die Auferweckung Dessen, den der Mensch erschlug, verkündet dies zweifelsfrei. Ich gebe zu: In der Auferstehung Christi ist Gott für uns, die Gläubigen. Sünder und Gläubige dürfen jedoch nicht verwechselt werden, da zwischen beiden ein gewaltiger Unterschied besteht. Wie groß das Zeugnis von der vollkommenen Liebe in der Gabe und dem Tod Jesu auch sein mag, für den Sünder kann in der Auferstehung Jesu nichts als Verdammnis liegen. Ich weise umso nachdrücklicher hierauf hin, weil die Wiederentdeckung der herrlichen Wahrheit von der Auferstehung Christi manche in einer Art Reaktion dazu führt, den Wert, den Sein Tod in den Augen Gottes hat und in unserem Glauben haben sollte, abzuschwächen. Mögen also jene, welche die Auferstehung hochschätzen, darauf achten, dass sie auch den rechten Wert des Kreuzes eifersüchtig festhalten!

Beide Gesichtspunkte werden hier in bemerkenswerter Weise beachtet. Nicht die Auferstehung, sondern der Tod Jesu zerriss den Vorhang des Tempels. Nicht Seine Auferstehung öffnete die Gräber, sondern Sein Kreuz, obwohl die Heiligen erst nach Ihm auferstanden. Genauso ist es bei uns in praktischer Hinsicht. Tatsächlich erkennen wir niemals den vollen Wert des Todes Christi, wenn wir ihn nicht von der Macht und den Ergebnissen der Auferstehung her ansehen. Doch wir betrachten von dort her nicht die Auferstehung selbst, sondern den Tod Jesu. Folglich verkündigen wir in den kirchlichen Versammlungen und ganz besonders am Tag des Herrn durch das Brotbrechen nicht die Auferstehung, sondern den Tod des Herrn. Andererseits verkündigen wir Seinen Tod nicht an Seinem Todestag, sondern an dem der Auferstehung. Wenn ich vergesse, dass es der Auferstehungstag ist, dann verstehe ich meine Freiheit und Freude nur wenig. Wenn aber der Auferstehungstag nicht mehr vor mich bringt als die Auferstehung, dann zeigt das nur zu klar, dass der Tod Christi seine unendliche Gnade für meine Seele verloren hat.

Auch die Ägypter wollten das Rote Meer passieren. Sie sorgten jedoch nicht dafür, dass ihre Türen mit dem Blut des Lammes besprengt waren. Sie versuchten an den Wasserwällen vorbeizuziehen, um Israel zur anderen Seite zu folgen. Wir lesen indessen nicht, dass sie jemals Schutz hinter dem Blut des Passahlammes gesucht hatten. Zweifellos ist das ein extremer Fall und entspricht der Urteilsfähigkeit des natürlichen Menschen. Wir dürfen nichtsdestoweniger sogar von einem Feind lernen, dass wir die Auferstehung nicht geringschätzen sollen. Noch größer ist dagegen der Wert des Todes und des Blutvergießens unseres kostbaren Heilandes. In Hinsicht auf Gott und den Menschen ist nichts so bedeutungsvoll wie der Tod Christi.

Im Gegensatz zu den armen, aber hingebungsvollen Frauen aus Galiläa, die das Kreuz umgaben, sehen wir die Befürchtungen, die berechtigten Befürchtungen derer, die den Tod Jesu herbeigeführt hatten. Diese schuldigen Männer gingen voller Angst zu Pilatus. Sie fürchteten „jenen Verführer“ und bekamen ihre Wache, ihren Stein und ihr Siegel – aber alles vergeblich! Der Herr, der im Himmel sitzt, spottete ihrer. Jesus hatte die Seinen darauf vorbereitet (und Seine Feinde wussten es), dass Er am dritten Tag auferstehen würde.

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Aus Lectures Introductory to the Study of the Gospels
Heijkoop, Winschoten, NL, 1970
(im Deutschen herausgegeben und übersetzt von J. Das)

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