Die Klagelieder Jeremias (2)
Kapitel 2

Willem Johannes Ouweneel

© SoundWords, online seit: 20.04.2011, aktualisiert: 29.04.2023

Leitverse: Klagelieder 2

Wir kommen zu dem zweiten Lied. Und da sehen wir genau dasselbe. Es fängt wieder mit diesem Wörtchen „wie“ an oder „ach, wie“ und es gilt hier auch – was die Form betrifft – genau das, was wir auch in Kapitel 1 gefunden haben: 22 Verse, jeder Vers etwa drei Strophen, jeder Vers fängt mit einem Buchstaben aus dem hebräischen Alphabet an, in der richtigen Reihenfolge. Hier haben wir nicht den Zustand nach der Zerstörung. Chronologisch geht dieses Kapitel eigentlich dem ersten Kapitel voran, denn hier haben wir in den ersten zehn Versen eine Beschreibung der Zerstörung Jerusalems selbst. Es ist also ein Lied für sich, worin wir erst diese Beschreibung haben in den ersten zehn Versen.

Vers 1

Klgl 2,1: Wie umwölkt der Herr in seinem Zorn die Tochter Zion! Er hat die Herrlichkeit Israels vom Himmel zur Erde geworfen und hat des Schemels seiner Füße nicht gedacht am Tag seines Zorns.

Wie umwölkt der Herr in seinem Zorne die Tochter Zion! Später sehen wir, dass auch der Herr selbst sich umwölkt hat. Diese Wolke bildet eine Trennung zwischen Ihm und seinem Volk, so dass, wie wir sehen werden, kein Gebet zu Ihm durchdringen kann. Er schweigt zu den Klagen seines Volkes. Er überlässt sie sich selbst; Er hat die Herrlichkeit Israels vom Himmel zur Erde geworfen. So hoch war ihre Herrlichkeit. Sie war zum Himmel emporgehoben worden von Gott – über alle Städte dieser Erde. Aber wenn man so hoch steigt, kann man auch tief fallen! Diese Herrlichkeit Israels oder ihre Zierde war vom Himmel zur Erde geworfen worden. Und Gott, der des Schemels seiner Füße nicht gedachte am Tage seines Zornes, Gott war selbst miteinbezogen, denn dort in der Stadt stand der Schemel seiner Füße. Das ist zuerst eigentlich die Bundeslade, aber auch mehr allgemein der ganze Tempel. Dort wohnte Gott. Gott hat seine eigene Wohnstätte – nicht nur die Wohnstätte Judas, sondern seine eigene Wohnstätte – seinen Feinden übergeben. Er hat des Schemels nicht gedacht.

Vers 2

Klgl 2,2: Der Herr hat schonungslos vernichtet alle Wohnstätten Jakobs; er hat in seinem Grimm niedergerissen die Festung der Tochter Juda; zu Boden geworfen, entweiht hat er das Königtum und seine Fürsten.

Die Beschreibung ist hier an sich ganz klar, bedarf wenig Erklärung. Zu Boden geworfen, entweiht hat Er das Königtum und seine Fürsten. Keine Könige mehr; das Königtum, das ununterbrochen bestanden hatte seit David, ist zu Ende gekommen.

Vers 3

Klgl 2,3: In Zornglut hat er abgehauen jedes Horn Israels; er hat seine Rechte zurückgezogen vor dem Feind und hat Jakob in Brand gesteckt wie ein flammendes Feuer, das ringsum frisst.

In Zornesglut hat Er abgehauen jedes Horn Israels. Das Horn spricht von Macht. Das königliche Haus war abgehauen worden und alle Fürsten; keine Fürsten, keine Führer waren übriggeblieben. Er hat seine Rechte zurückgezogen vor dem Feind und hat Jakob in Brand gesteckt wie ein flammendes Feuer, das ringsum frisst.

Vers 4

Klgl 2,4: Seinen Bogen hat er gespannt wie ein Feind, hat mit seiner Rechten sich hingestellt wie ein Gegner und alle Lust der Augen getötet; in das Zelt der Tochter Zion hat er seinen Grimm ausgegossen wie Feuer.

Seinen Bogen hat Er gespannt wie ein Feind, hat mit seiner Rechten sich hingestellt wie ein Gegner und alle Lust der Augen, eigentlich alles, was dem Auge köstlich ist, wie die Anmerkung sagt, getötet. Alles, was schön und gut war: die prächtige Stadt, der herrliche Tempel, die Mauern, die Tore – es wurde alles dem Feuer preisgegeben. In das Zelt der Tochter Zion, das ist ihre Wohnung, prophetisch ausgedrückt, die Wohnung Jerusalems, hat Er seinen Grimm ausgegossen wie Feuer.

Vers 5

Klgl 2,5: Der Herr ist wie ein Feind geworden. Er hat Israel vernichtet, vernichtet alle ihre Paläste, seine Festungen zerstört; und bei der Tochter Juda hat er Seufzen und Stöhnen gemehrt.

Der Herr ist wie ein Feind geworden. Haben wir es nicht in Kapitel 1 zweimal gesehen, dass Israel da sprach über ihre Feinde? Das waren die Babylonier mit allen Bundesgenossen, die sie mit sich gebracht hatten. Das waren ihre Feinde. Aber hier kommt sie zu einer tieferen Einsicht. Der eigentliche Feind steckt hinter diesen Feinden, der eigentliche Feind ist, wie es hier heißt, der Herr selbst. Sehr oft lesen wir hier nicht von Jahwe, sondern von Adonai, der Herr. Nicht immer, also man kann nicht unbedingt sagen, dass Gott als Bundesgott, so wie es in seinem Namen Jahwe ausgedrückt ist, sich hier zurückzieht; aber doch auffallend oft hören wir diesen Namen Adonai, der Herr. Er ist wie ein Feind geworden, Er hat Israel vernichtet. Er hat es getan, nicht nur die Feinde. Das ist der Sinn des ganzen Abschnitts: Der Herr hat es getan. Welche Instrumente Er irgend benutzt hat, das kommt hier nicht darauf an. Woanders schon. Das Gericht muss auch über diese Feinde kommen, aber hier geht es darum, dass es seine Hand ist.

Wie wichtig ist das! Wenn der Herr auch Werkzeuge benutzt uns gegenüber heute, wenn Er Brüder, Schwestern benutzt, um uns ein Wort zu sagen. Es kann sein, dass sie so ungeistlich sind wie die Babylonier – dann wird der Herr mit ihnen zu tun haben –, aber das ist unsere Sache nicht. Unsere Sache ist, es aus seiner Hand anzunehmen, aus seiner Hand. Und das tut Israel hier. Es demütigt sich, es beugt sich, es sagt: Der Herr hat es getan. Er hat Israel vernichtet, vernichtet alle ihre {d.h. der Tochter Zion} Paläste, ihre Festen zerstört; und bei der Tochter Juda hat Er Seufzen und Stöhnen gemehrt.

Vers 6

Klgl 2,6: Und er hat sein Gehege zerwühlt wie einen Garten, hat den Ort seiner Festversammlung zerstört; der HERR ließ in Zion Fest und Sabbat vergessen; und im Grimm seines Zorns verschmähte er König und Priester.

Und Er hat sein Gehege zerwühlt wie einen Garten, hat den Ort seiner Festversammlung zerstört, das ist der Tempel, hier ganz besonders als der Ort gesehen, wo das Volk sich dreimal im Jahr zur Festversammlung versammelte. Der HERR machte in Zion Fest und Sabbat vergessen. Keine Feste mehr, weil kein Tempel mehr da war. Selbst der Sabbat wurde vergessen. Wohl nicht ganz. Gerade in Babel, wo die Feste nicht mehr gefeiert werden konnten, kam es ganz besonders darauf an, dass der Sabbat noch gefeiert wurde. Wir haben das in Jesaja 56 zum Beispiel und auch in Hesekiel. Und das ist auch heute im Judentum noch immer so: Sie können die Feste kaum noch feiern, jedenfalls keine Opfer mehr bringen, aber den Sabbat können sie noch immer halten. Aber hier fühlt das Volk es so: Alles ist verschwunden, die Stadt ist zerstört, der Tempel zerstört, sogar der Sabbat ist vergessen. Und in seines Zornes Grimm verschmähte Er König und Priester. Das, was die Identität des Volkes ausmacht, das königliche Haus Davids und das priesterliche Haus Zadoks: Es ist alles zur Seite gestellt. Die Priester funktionieren nicht mehr, weil der Tempel nicht mehr da ist. Der König ist in Gefangenschaft gegangen, es sitzt niemand mehr auf dem Thron Davids.

Vers 7

Klgl 2,7: Der Herr hat seinen Altar verworfen, sein Heiligtum verschmäht; er hat die Mauern ihrer Prachtgebäude der Hand des Feindes preisgegeben; sie haben im Haus des HERRN Lärm erhoben wie an einem Festtag.

Aber es ist ein schreckliches Fest, wie wir in Kapitel 1 gesehen haben. Es ist hier eine Festversammlung nicht des treuen Volkes, um Feste zu feiern vor dem Herrn – es ist hier die Festversammlung der Feinde, die die Zerstörung der Stadt feiern und Lärm machen im Haus des HERRN.

Vers 8

Klgl 2,8: Der HERR hat sich vorgenommen, die Mauer der Tochter Zion zu zerstören; er zog die Mess-Schnur, wandte seine Hand nicht vom Verderben ab, und Wall und Mauer hat er trauern lassen; zusammen liegen sie kläglich da.

Also alle Teile der Stadt: Tore, Mauern, Tempel, Stadt, Häuser, die Feste, das Königtum, das Priestertum – es bleibt nichts davon übrig.

Vers 9

Klgl 2,9: In die Erde gesunken sind ihre Tore, zerstört und zerschlagen hat er ihre Riegel; ihr König und ihre Fürsten sind unter den Nationen, kein Gesetz ist mehr da; auch ihre Propheten erlangen kein Gesicht von dem HERRN.

Ihr König, sagt Vers 9, und ihre Fürsten sind unter den Nationen, das heißt in Gefangenschaft ausgezogen. Kein Gesetz ist mehr. Keiner ist mehr da, um das Gesetz zu bewahren, zu verkündigen, zu halten, darauf zu schauen, dass es bewahrt bleibt. Auch ihre Propheten erlangen kein Gesicht von dem Herrn. Das kann sich wohl schwierig auf Hesekiel und Jeremia beziehen, die auch gerade nach dieser Zeit, und auch Daniel, noch Gesichte bekommen haben. Aber es geht hier um all diese falschen Propheten, die gerade in Jerusalem immer aufgetreten waren und immer das Volk beruhigt hatten und gesagt hatten: Es wird nichts geschehen. Hört nicht auf Jeremia! Das sind die Propheten, die hier jetzt ausgeredet haben und kein Gesicht mehr erlangen.

Vers 10

Klgl 2,10: Verstummt sitzen auf der Erde die Ältesten der Tochter Zion; sie haben Staub auf ihr Haupt geworfen, sich Sacktuch umgegürtet; die Jungfrauen Jerusalems haben ihr Haupt zur Erde gesenkt.

Alt und Jung, die ganze Stadt ist im Staub niedergebeugt vor Schmerzen wegen des Gerichts Gottes.

Vers 11

Klgl 2,11: Durch Tränen vergehen meine Augen, meine Eingeweide wallen, meine Leber hat sich zur Erde ergossen: wegen der Zertrümmerung der Tochter meines Volkes, weil Kind und Säugling auf den Straßen der Stadt verschmachten.

Aber dann in Vers 11 – die Elberfelder Übersetzung macht hier auch zu Recht eine Trennung – , in Vers 11 hören wir ein anderes „Ich“. Hier ist es nicht oder eigentlich ist es kein „Ich“ wie im ersten Teil. Da war es eine Beschreibung über die Stadt, aber hier kommt ein „Ich“ in Vers 11: Durch Tränen vergehen meine Augen. Und hier hören wir eine ganz neue Stimme. Es ist natürlich immer der Dichter, der spricht, aber entweder gibt er eine neutrale Beschreibung als Außenstehender oder er legt seine Worte in den Mund der Stadt wie in der zweiten Hälfte des ersten Kapitels. Aber hier richtet er sich persönlich als Dichter, man könnte sagen als Prophet, an das Volk, an die Stadt. Er ist es, der weint. „Meine“, das heißt hier: die Augen des Propheten; durch Tränen vergehen meine Augen, meine Eingeweide wallen, meine Leber hat sich zur Erde ergossen: wegen der Zertrümmerung der Tochter meines Volkes. Hier spricht nicht die Stadt über sich selbst, hier spricht der Prophet über die Stadt und bald auch zu der Stadt.

Vers 12

Klgl 2,12: Zu ihren Müttern sagen sie: „Wo ist Korn und Wein?“, während sie wie tödlich Verwundete hinschmachten auf den Straßen der Stadt, indem ihre Seele sich in den Busen ihrer Mütter ergießt.

Erst sagt er noch: Zu ihren Müttern sagen sie – das sind Kind und Säugling aus dem Schluss von Vers 11, die auf den Straßen der Stadt verschmachten –, zu ihren Müttern sagen sie: „Wo ist Korn und Wein?“, indem sie wie tödlich Verwundete hinschmachten auf den Straßen der Stadt. Ein fürchterliches Bild, so wie die Kinder gelitten haben, die nichts mehr zu Essen hatten, von den Sünden ihrer Väter nichts wussten, von der Belagerung nichts verstanden. Und dann am Ende des 12. Verses dieses schreckliche Wort: „… indem ihre Seele sich ergießt in den Busen ihrer Mütter.“ Da saßen sie im Schoß ihrer Mütter und ihre Seele – das heißt ihr Leben – wurde ausgegossen. Sie siechten weg, sie starben im Schoß ihrer Mütter.

Vers 13

Klgl 2,13: Was soll ich dir bezeugen, was dir vergleichen, Tochter Jerusalem? Was soll ich dir gleichstellen, dass ich dich tröste, du Jungfrau, Tochter Zion? Denn deine Zertrümmerung ist groß wie das Meer: Wer kann dich heilen?

Und dann in Vers 13, ein ganz feierlicher Augenblick ist es: Da fängt der Prophet an zu reden zu der Stadt. Und wenn ich sage: der Prophet, dann ist es Gott selbst doch eigentlich. Ich habe gesagt: Gott kommt hier nicht ans Wort, nicht direkt, Gott wird nicht angeführt, aber es ist doch der Prophet und in ihm der Heilige Geist, der jetzt zu der Stadt spricht: Was soll ich dir bezeugen, was dir vergleichen, Tochter Jerusalem? – Gute Frage! Stellen wir uns Menschen in solchen Umständen vor. Da haben auch wir die Frage in uns selbst: Was sollen wir nun solchen sagen? Welche Botschaft vom Herrn können wir ihnen mitteilen? Was soll ich dir gleichstellen, dass ich dich tröste, du Jungfrau, Tochter Zion? Wie schwierig ist es, die richtigen Worte des Trostes zu finden! Denn deine Zertrümmerung ist groß wie das Meer: Wer kann dich heilen?

Vers 14

Klgl 2,14: Nichtiges und Ungereimtes haben deine Propheten dir geschaut; und sie deckten deine Ungerechtigkeit nicht auf, um deine Gefangenschaft zu wenden; sondern sie schauten dir Aussprüche der Nichtigkeit und der Vertreibung.

Das sind natürlich wieder ganz klar die falschen Propheten. Jeremia und Hesekiel und Daniel haben nicht Nichtiges und Ungereimtes gedichtet oder geweissagt. All diese falschen Propheten, die das Volk falsch beruhigt hatten, wie wir jetzt sehen werden in diesem Vers: „… sie deckten deine Ungerechtigkeit nicht auf.“ Da haben wir genau das Merkmal falscher Propheten. Gute Propheten: Ich will nicht sagen, dass sie immer nur über Sünden und Ungerechtigkeiten reden, aber ein echter Prophet ist jemand, der dem Volk Gottes seine Ungerechtigkeiten aufdeckt. Falsche Propheten sind solche, die die Ungerechtigkeiten zudecken und sagen: Alles ist in Ordnung, macht euch keine Sorge! In der Christenheit hören wir viele, viele von solchen falschen Propheten. Die decken die Ungerechtigkeiten zu und das, was früher ungerecht war, böse vor Gott, wird jetzt gutgeheißen. Was direkt gegen das Wort Gottes spricht. Aber die wahren Propheten decken die Ungerechtigkeit auf. Dann wäre es möglich gewesen, wie der Vers weitergeht, dass die Gefangenschaft Israels gewendet worden wäre. Aber das ist nicht geschehen, denn sie haben nicht Buße getan, ihre Propheten haben sie dazu nicht ermuntert, sondern „sie schauten dir Aussprüche der Nichtigkeit {o. Falschheit} und der Vertreibung“ {vgl. Jer 27,10.15}, das heißt der Falschheit, wodurch sie vertrieben wurden.

Verse 15.16

Klgl 2,15.16: 15 Alle, die des Weges ziehen, schlagen über dich die Hände zusammen. Sie zischen und schütteln ihren Kopf über die Tochter Jerusalem: „Ist das die Stadt, von der man sprach: Der Schönheit Vollendung, eine Freude der ganzen Erde?“ 16 Alle deine Feinde sperren ihren Mund über dich auf, sie zischen und knirschen mit den Zähnen; sie sprechen: „Wir haben sie verschlungen; gewiss, dies ist der Tag, den wir erhofft haben: wir haben ihn erreicht, gesehen!“

Aber merkwürdigerweise ist das nun auch wieder so ein Vers, wo wir eigentlich auch doch wieder direkt an den Herrn Jesus erinnert werden. Wenn wir Ihn am Kreuz sehen und die Menschen, die an Ihm vorbeikamen, die über Ihn die Hände zusammenschlugen – Matthäus 27 beschreibt das so –, die Reaktionen der Menschen, und auch in Lukas 23, wie sie über ihn gezischt und mit den Zähnen geknirscht haben und sprechen: „Wir haben sie verschlungen; fürwahr, dies ist der Tag, den wir erhofft haben: Wir haben ihn erreicht, gesehen!“ {eig. den wir erhofft, erreicht, gesehen haben!}. So sprechen die Feinde. So haben sie es über den Herrn Jesus gesagt, der unschuldig litt; so haben sie es über Jerusalem gesagt, das schuldig bleibt. Aber der Prophet spricht zu dem gläubigen Überrest, der unschuldig mit dem Rest, mit den Übrigen, leiden muss. Die Feinde sagen – hier reden sie nicht mehr darüber, dass sie Instrumente in der Hand Gottes sind, das ist auch nur mal so eine fromme Aussage –, hier reden sie ganz stolz über sich selbst. Der Feind hat sich großgetan, haben wir in Kapitel 1 gelesen. Hier reden sie über sich selbst und sagen: Wir, wir, wir. Dreimal am Ende dieses Verses: „Wir haben sie verschlungen; fürwahr, dies ist der Tag, den wir erhofft haben: Wir haben ihn erreicht, gesehen!“ Der Dichter korrigiert es: Nicht sie – der Herr.

Vers 17

Klgl 2,17: Der HERR hat getan, was er beschlossen, hat sein Wort erfüllt, das er von den Tagen der Vorzeit her geboten hat. Er hat schonungslos niedergerissen und den Feind sich über dich freuen lassen, hat das Horn deiner Bedränger erhöht.

Das Volk konnte nicht sagen: Wir hatten nur diese nichtigen Propheten und die haben Böses geredet, wie hätten wir das nun wissen können? Mose hatte schon ausführlich darüber gesprochen, 3. Mose, 5. Mose, was geschehen würde, wenn das Volk Gott nicht länger gehorchen würde. Sie hatten keine Entschuldigung. Von vor der Vorzeit her war es alles vorausgesagt. Er hat schonungslos niedergerissen und den Feind sich über dich freuen lassen, hat das Horn deiner Bedränger erhöht. Wenn die Feinde sagen: Wir, wir wir, da sagt der Prophet: Aber es war der HERR. Er hat deine Feinde über dich sich freuen lassen. Und dann, was ist jetzt der Sinn dieser Ansprache des Propheten zu der Stadt? Worte des Trostes findet er wohl kaum. Was kann er sagen? Was hat er zu sagen? Darauf waren wir ja gespannt. Was hat ein Prophet zu solch einem Volk zu sagen, abgesehen davon, dass er es sagen muss, dass das Gericht verdient über sie gekommen ist? Aber jetzt kommt seine Botschaft, Vers 18:

Verse 18.19

Klgl 2,18.19: 18 Ihr Herz schreit zu dem Herrn. Du Mauer der Tochter Zion, lass, wie einen Bach, Tränen rinnen Tag und Nacht; gönne dir keine Rast, dein Augapfel ruhe nicht! 19 Mach dich auf, klage in der Nacht beim Beginn der Nachtwachen, schütte dein Herz aus wie Wasser vor dem Angesicht des Herrn; hebe deine Hände zu ihm empor für die Seele deiner Kinder, die vor Hunger verschmachten an allen Straßenecken!

Leider sind die ersten Worte fehlerhaft überliefert worden. Wir wissen nicht genau, was das heißt, wenn plötzlich hier steht: „Ihr {bezieht sich auf die Einwohner von Jerusalem} Herz schreit zu dem Herrn.“ Aber Er spricht zu dem Volk. Dieses „Ihr {bezieht sich auf die Einwohner von Jerusalem} Herz“ passt nicht gut hinein. Nun gut, viele Lösungen sind vorgeschlagen worden. Ich gebe mal diese Möglichkeit zur Übersetzung: Schrei eurethalben zu dem Herrn, du Mauer der Tochter Zion, lass einem Bach gleich, Tränen rinnen Tag und Nacht. Gönne dir keine Rast, deinem Augapfel keine Ruhe! Mache dich auf, klage in der Nacht beim Beginn der Nachtwachen. Also, was es ist – bevor ich den Vers zu Ende lese –, was wir hier haben, ist eine Ermunterung zum Gebet. Ist ein Mensch betrübt? Bring ihn zum Gebet. Ist er erfreut? Bring ihn zur Anbetung. Hat er gesündigt? Bring ihn zum Gebet. Ist das nicht eine herrliche Aufgabe eines jeden Dienstes? Übertretungen aufzudecken und dann Gottes Volk zum Gebet zu drängen? Das ist hier die Aufgabe. Der Prophet sagt: Ich bin auch nur ein Mensch; was kann ich euch sagen: Betet zu Gott, betet zu Gott, lasst eure Tränen rinnen vor Gott, wie einem Bach gleich! Schreit eurethalben zu dem Herrn, sagt er zu der Stadt. Mache dich auf, klage in der Nacht beim Beginn der Nachtwachen! Das ist Mehrzahl. Es gibt ja drei, vier Nachtwachen, das hängt davon ab, wie man rechnet. Aber beim Beginn immer wieder in der Nacht, wenn man nicht schlafen kann, wenn die Leiden oder die Schuld, die Sünden dich plagen, dich wach halten – immer wieder in der Nacht rufe zu Gott! Schütte dein Herz aus wie Wasser vor dem Angesicht des Herrn. Also nicht einfach Klagen im Allgemeinen. Mache dich auf, klage in der Nacht, aber klage vor dem Herrn. Klage vor dem Angesicht des Herrn, hebe deine Hände zu Ihm empor.

Und wenn es dann nicht für euch selbst ist, dann wenigstens für die Seele eurer Kinder, die vor Hunger verschmachten an allen Straßenecken. Wenn man da nicht weiß, wofür man beten muss, da sollen wir beten für unsere Kinder. Die Jugend heute – ich rede nicht direkt von unserer Jugend, aber ganz im Allgemeinen, aber sicher in der Christenheit, die jetzt ja den Namen des Volkes Gottes trägt –: Eine ganze Generation wächst heran, die vor Hunger verschmachtet an allen Straßenecken. Liebe Freunde, wir sollten es lernen mehr und mehr, unsere Hände zu Gott zu erheben für die Seele unserer Jugend. Wenn es dann nicht für uns selbst ist, wenn es für uns vorbei ist, wenn wir das Gericht hier tragen müssen, wenn wir sagen müssen: Wir haben versagt, wir haben es alles verspielt, betet dann wenigstens für die Seele eurer, unserer Jugend. Damit, wenn der Herr noch verzieht, sie wieder einen neuen Anfang machen können, immer wieder einen neuen Anfang mit dem Herrn und sie nicht vor geistlichem Hunger verschmachten an allen Straßenecken. Das ist ein Dienst des Propheten, der Erfolg hat. Denn merkwürdigerweise findet sofort nachher dieses Gebet statt. Die Verse 18 und 19 sind ein Aufruf zum Gebet und in den Versen 20 bis 22 betet das Volk.

Verse 20-22

Klgl 2,20-22: 20 Sieh, HERR, und schau, wem du so getan hast! Sollen Frauen ihre Leibesfrucht essen, die Kinder, die sie auf den Händen tragen? Sollen Priester und Prophet im Heiligtum des Herrn ermordet werden? 21 Knaben und Greise liegen am Boden auf den Gassen; meine Jungfrauen und meine Jünglinge sind durchs Schwert gefallen; hingemordet hast du am Tag deines Zorns, geschlachtet ohne Schonung. 22 Meine Schrecknisse hast du von allen Seiten herbeigerufen wie an einem Festtag, und nicht einer entkam oder blieb übrig am Tag des Zorns des HERRN. Die ich auf den Händen getragen und erzogen habe, mein Feind hat sie vernichtet.

Es ist vielleicht noch nicht ein Gebet auf der höchsten Höhe, das kann man auch noch nicht am Ende dieses Buches sagen, aber doch ein wichtiges Gebet. Wie wir es in Kapitel 1 dreimal fanden, so sagt das Volk auch jetzt wieder: Sieh, HERR, und schaue! Die Stadt wird ermuntert. Sie hat ihre Klage geäußert. In Kapitel 1 hat sie es ausführlich gesagt in der Ich-Form, was sie alles zu beklagen hat. Jetzt hat der Prophet zu ihr gesagt: Klage vor dem Herrn! Sag es Ihm, deine Klage!

Ich möchte es sagen: Es wird so viel geklagt. Es wird so viel geklagt über unsere Versammlungen, über unsere Gemeinden; es wird viel geklagt über unsere Jugend; es wird so viel geklagt über die älteren Brüder und Schwestern; es wird so viel geklagt über alles Mögliche. Klagen kann sehr ungeistlich sein. Klagen kann auch sehr geistlich sein, wenn man klagt vor dem Herrn in der Nacht. Wenn man es Ihm sagt, wenn man etwas zu klagen hat, dann muss man sich dreimal bedenken, ob man das laut aussprechen sollte. Und wenn es Klagen sind, die man eigentlich in der Stille nicht vor dem Herrn aussprechen kann, dann kann man diese Klagen besser überhaupt nicht aussprechen. Was man nicht vor dem Herrn aussprechen kann, bleibe besser überhaupt unausgesprochen. Fragen wir uns bei allem, was wir zu klagen haben, zuerst, ob wir den geistlichen Mut hätten, diese Klagen vor Ihm auszusprechen. Das ist das Wichtige.

Hier spricht das Volk nicht über seinen elenden Zustand, nur im Allgemeinen zu anderen: Hier, nicht wie in Kapitel 1, lädt es andere ein: Merket doch auf, schauet doch, wie wir leiden! So haben sie auch dreimal dort schon gesagt: Sieh, HERR! Hier wird das jetzt der Inhalt des Gebets. Er muss es wissen; Er muss aufmerken; Er muss zuschauen. Sieh, HERR, und schaue, wem du also getan hast! Schaue auf uns. Sieh uns, wie wir sind, was wir sind, was wir doch waren. Deine Frau, kann Jerusalem sagen, deine Gattin, dein Liebling. Wem hast du es getan? Sollen Weiber ihre Leibesfrucht essen, die Kindlein, die sie auf den Händen tragen? Denn so war es doch während der Belagerung?! Die Not wurde so groß, dass Mütter ihre Kinder geschlachtet, gekocht und gegessen haben. Sollen im Heiligtum des HERRN ermordet werden Priester und Prophet? Kann das alles so weitergehen, wie es geschehen ist? Kannst du das zulassen, dass die Führer deines Volkes umgebracht werden? Knaben und Greise liegen am Boden auf den Straßen; meine Jungfrauen – sagt die Stadt – und meine Jünglinge sind durchs Schwert gefallen. Hingemordet hast du am Tage deines Zornes, geschlachtet ohne Schonung. Das sind keine Vorwürfe; die Tatsachen werden festgestellt. Aber das Volk muss einfach sein Herz ausschütten vor dem Herrn. Und der Prophet, der Heilige Geist, hat sie dazu ermuntert.

Meine Schrecknisse, das heißt das, was mir Schrecken gebracht hat, hast du von allen Seiten herbeigerufen wie an einem Festtag. Wieder dieser schreckliche Gedanke eigentlich. Eine Festversammlung all dieser erfreuten Feinde, die jetzt ihre Chance ergriffen haben, um das Volk in der Stadt umzubringen. Nicht einer entrann oder blieb übrig am Tag des Zornes des HERRN; die ich auf den Händen getragen und erzogen habe, mein Feind hat sie vernichtet. Hier ist die Stadt wie eine Mutter. Sie sieht ihre Kinder, manchmal hat man auch den Eindruck, dass „Kinder“ hier einfach sinnbildlich steht für die ganze Bevölkerung. Die Stadt ist die Mutter und sie sieht ihre Einwohner, die dem Feind zum Opfer gefallen sind: Die, die ich auf den Händen getragen und erzogen habe, mein Feind hat sie vernichtet. Hier hört das Gebet auf.

In Klagelieder 3,1 hören wir ein ganz anderes „Ich“. Das muss warten bis morgen Abend, so der Herr will. Ein ganz anderes „Ich“, ein ganz neues Lied, ein ganz neues Gedicht. Also ganz plötzlich hört dieses Gebet auf. Vielleicht ist man enttäuscht. Kommt noch nicht mehr heraus? Warten wir; das Buch ist noch nicht zu Ende; Gott geht seine Wege mit einer Seele. Manchmal gehen diese Wege nicht so schnell, wie wir das gerne sehen möchten. Aber das Wichtige ist – und das ist hier erreicht worden, einige Male ganz kurz hörten wir es schon in Kapitel 1 –, aber das Wichtige ist, dass sie hier ausführlich ihre Klage vor dem Herrn ausschüttet. Über Hoffnung, über Demütigung, über Vergebung, über Errettung, über eine neue Erwartung bezüglich des Herrn hören wir hier noch nichts. Es wird noch kommen. Aber wie wichtig ist es, wenn eine Seele, in irgendwelchen Umständen sie sich auch befinden möge, wenn eine Seele zu Gott gebracht werden kann, wenn Knie sich beugen und vor Gott ihre Klage aussprechen! Und die Tränen rinnen wie ein Bach, wie es hier heißt. Und wenn ein Mensch zu Gott kommt. Vielleicht noch nicht zu dem tiefen Punkt seiner Demütigung. Aber der Herr hat Zeit und nimmt sich Zeit. Dieses hat der Heilige Geist erreicht. Und wenn irgendeiner von uns heute Abend Grund hätte, sich zu beklagen – und wer könnte nicht überhaupt irgendwelche Klage finden in seinem persönlichen Leben, in seinen Umständen, in seiner Familie, in der Glaubensgemeinschaft, in der er sich befindet? Bringe deine Klagen zu Ihm! Möge die Betrachtung dieser Kapitel uns dazu bringen, dass wir unsere Knie beugen und dass wir es nicht nur einander sagen, sondern dass wir Mut fassen, um es Ihm zu sagen; Ihm unsere Bitten, unsere Klagen bekanntmachen und Ihm Gelegenheit geben, damit zu tun, was Ihm wohlgefällig ist, und das in unserem Leben auszuwirken, was zu unserem Segen ist und zur Verherrlichung seines Namens.

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Nach einem Vortrag aus dem Jahr 1991.

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