Aus dem Kontext gerissen ...
Vorsichtig beim Zitieren von Bibelstellen!

David R. Reid

© SoundWords, online seit: 23.06.2002, aktualisiert: 22.09.2021

Leitvers: Philipper 4,13

Einleitung

Es ist eine bekannte Tatsache: Man kann einem Menschen nahezu alles in den Mund legen, wenn man ihn ohne den dazugehörigen Kontext zitiert. Politiker sind Experten darin – besonders während des Wahlkampfes! Wir haben es alle schon einmal erlebt: Man nimmt einen beliebigen Satz aus einer Rede, um eine falsche Bedeutung zu vermitteln, die der Sprecher sicher nie beabsichtigt hat.

Leider machen manche Leute genau das mit der Bibel. Es ist erstaunlich, was sie aus der Bibel machen können, wenn sie einen einzigen Vers ohne seinen Kontext zitieren. Man hat sogar gesagt: „Ein aus einem Zusammenhang gerissener Bibeltext wird zu einem Vorwand.“ Mit anderen Worten: Man benutzt den Text, um Ideen zu präsentieren, die mehr mit den Gedanken des Sprechers übereinstimmen als mit den Gedanken Gottes.

Aus dem Kontext gerissen

Nun reißen die meisten Christen nicht absichtlich Bibelverse aus dem Zusammenhang. Wir haben zwar alle unsere eigenen Vorstellungen, aber wir wollen einmal hoffen, dass wir die Bibel nicht absichtlich verdrehen und entstellen, um unsere eigenen Ziele zu rechtfertigen. Viele Christen reißen jedoch Bibelverse aus dem Zusammenhang, indem sie den Kontext einfach ignorieren. Sie laufen deshalb Gefahr, die Bibel zu zerpflücken, weil sie dem Textzusammenhang nicht genügend Aufmerksamkeit schenken.

Beispiel: Philipper 4,13

Phil 4,13: Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt.

Nehmen wir Philipper 4,13 als Beispiel dafür, was es bedeutet, dass die Auslegung vom Kontext bestimmt wird. Was bedeutet es, wenn die Bibel sagt: „Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt“? Bedeutet es, dass ich 250 Kilogramm stemmen kann, wenn ich genug Glauben besitze? Oder dass ich von einem Hochhaus springen kann, ohne mir auch nur einen einzigen Knochen zu brechen, weil ich die Kraft Christi habe? Oder dass ich auf dem Wasser gehen kann, wie Jesus auf dem See Genezareth ging? Sicherlich würde kein Christ, der bei Verstand ist, Philipper 4,13 derart aus dem Kontext reißen. Aber wie steht es mit anderen Fällen?

  • Denken wir an christliche Studenten, die sich ein zu großes Arbeitspensum auferlegen – an Akademiker, Athleten, Aktionsgruppen, die sich in nützlichen Aktivitäten engagieren. Sie gönnen sich keine Ruhepausen und treiben sich stetig an, immer noch mehr zu tun. Ist es richtig, dass diese Studenten Philipper 4,13 für ihren „Erfolg“ in all diesen Breichen in Anspruch nehmen? Lässt der Kontext dieses Verses das zu? Wenn sie an der Grenze ihrer körperlichen Fähigkeiten angelangt sind und am Ende kurz vor dem Burnout stehen – sollten sie das Gefühl haben, dass sie nicht genug Glauben haben oder dass gar die Kraft Christi versagt hat? War die Verheißung in Philipper 4,13 falsch? Oder wurde der Vers aus dem Kontext gerissen?

  • Oder denken wir an einen Christen, der seine berufliche Laufbahn ändern will oder sich in einen neuen Dienst für den Herrn stürzt, ohne sich zuerst vorbereitet und umsichtig geplant zu haben. Verspricht Philipper 4,13 Wohlstand und Erfolg, solange wir die Kraft Christi in Anspruch nehmen? Angenommen, die neue Karriere läuft nicht an oder unser Dienst schlägt fehl. Ist es richtig, dass ein Christ dann frustriert ist und mit dem Herrn hadert, weil Philipper 4,13 „nicht funktioniert hat“? Ist die Kraft Christi wirklich „für alles“ gut? Oder ist Philipper 4,13 aus dem Zusammenhang gerissen worden?

  • Gerade die Christen, die Philipper 4,13 als Erklärung dafür anführen, warum sie in verschiedenen Unternehmungen Erfolg haben, tragen zu noch mehr Verwirrung bei. Was ist mit dem christlichen Geschäftsmann, der in einem Gespräch Philipper 4,13 als Begründung für seinen finanziellen Erfolg heranzieht? Das hört sich zunächst doch ziemlich gut an – aber Moment mal! Was ist mit seinen Zuhörern? Den christlichen Geschäftsleuten, die sich abmühen, aber finanziell viel schlechter gestellt sind als er? Die ihr Bestes gegeben haben, doch deren Unternehmen zusammengebrochen ist, ohne dass es ihre Schuld war. Wo war die Kraft Christi für sie? Sicherlich hatten viele von ihnen genauso viel Vertrauen in die Verheißung aus Philipper 4,13.

  • Was ist mit dem christlichen Sportler, der Rekorde bricht und seine Triumphe bescheiden mit diesem Vers erklärt? Das alles hört sich so großartig an und kommt sicher aus einem dankbaren Herzen, aber wenn wir diesen Vers als Erklärung für sportlichen Erfolg benutzen, gibt es eine ernste Frage. Wieder müssen wir überlegen, was mit christlichen Sportlern ist, die nicht so talentiert sind und nicht so viele Medaillen gewonnen haben oder während der Saison nur auf der Bank gesessen haben. Auch sie haben trainiert und das Letzte aus sich herausgeholt, aber sie haben trotzdem verloren oder sich nicht einmal qualifiziert. Wo ist die Stärke Christi für sie? Sicherlich hatten die meisten von ihnen ebenso viel Vertrauen in die Zusage aus Philipper 4,13 wie der erfolgreiche Sportler. Ist dieser Vers aus dem Kontext gerissen worden?

Das Problem bei all diesen Beispielen ist, dass man den Kontext von Philipper 4,13 außer Acht gelassen hat. Diese wohlmeinenden Christen haben diesen Vers gebraucht, ohne den Zusammenhang zu beachten – und so scheint der Vers Dinge zu sagen, die der Heilige Geist nie beabsichtigt hatte.

Der Kontext ist sehr wichtig, damit wir die Bibel richtig verstehen und anwenden. Den Kontext einer Stelle genau zu untersuchen, ist nicht nur hilfreich, sondern für die richtige Auslegung unabdingbar. Den Kontext zu prüfen, schützt uns vor abwegigen Auslegungen, die Gott nie im Sinn hatte, als Er den Text inspirierte. Den Kontext gut zu verstehen, kontrolliert gleichsam unsere Auslegung, unsere Vorstellung, was ein bestimmter Vers bedeutet. Wenn wir den Kontext kennen, brauchen wir nicht zu raten oder uns etwas auszudenken! Dann gibt es viel weniger Auslegungen nach dem Motto: „Ich denke, es bedeutet …“, oder: „Ich habe das Gefühl, es bedeutet …“

Den Kontext beachten

Was genau meinen wir nun mit „Kontext“? Der Kontext, der Zusammenhang, ist mehr als nur die Verse, die einen Text in der Bibel umgeben. Der Kontext schließt die umgebenden Abschnitte und Kapitel mit ein und schließlich das ganze Buch der Bibel, in dem der Text steht. Je mehr wir darüber wissen, wann und warum der Text geschrieben wurde – über den geschichtlichen Hintergrund, den ursprünglichen Anlass und der Zweck, zu dem ein Buch geschrieben wurde, sowie über das Thema, die Struktur und die Beweisführung des Buches –, desto leichter fällt es uns, unsere Auslegung zu jedem Buch der Bibel zu kontrollieren.

Das ist übrigens der Grund, warum eine der besten Methoden, die Bibel zu studieren, die „Buch-für-Buch-Methode“ ist. Gott hat die Bibel nicht zusammengestellt, indem Er einfach hier und da einzelne Verse aneinandergereiht hat! Er hat uns sein Wort in Büchern und Briefen gegeben. Warum studieren wir die Bibel nicht, wie Gott sie uns gegeben hat? Thematische Studien und Nachdenken über Lieblingsstellen oder sogar „die Bibel einfach aufzuschlagen und irgendwo zu lesen“ können gewinnbringend sein. Aber die „Buch-für-Buch-Methode“ hat zusätzlich den Vorteil, dass wir das kennenlernen, was für die richtige Auslegung entscheidend ist: den Gesamtzusammenhang eines jeden Verses in diesem Buch!

Der grundlegende und offensichtliche Grund, warum es so wichtig ist, den Kontext genau zu verstehen, ist: Gott hat keinen einzigen Vers der Bibel ohne Kontext geschrieben! Es gibt für jeden Vers in der Bibel immer einen historischen Kontext und einen literarischen Kontext. Bevor wir also fragen: „Was bedeutet dieser Vers für uns heute?“, sollten wir immer zuerst fragen: „Was bedeutete dieser Vers, als er geschrieben wurde?“ Was war die historische Situation? Wer hat ihn geschrieben und an wen hat er geschrieben? Wann, wo und warum wurde dieser Vers geschrieben? Um welche literarische Form handelt es sich? Handelt es sich um eine Prophezeiung, ein Gleichnis, ein Gedicht, einen Brief, eine historische Erzählung oder um eine andere literarische Gattung? Die Antworten auf diese Fragen sind Teil des Kontextes des Verses. Sobald wir dieses Wissen haben, können wir von der Frage „Was bedeutete der Vers damals?“ zu der Frage „Was bedeutet er heute?“ übergehen. Wenn wir diese Hausaufgabe gemacht haben, wird unsere Anwendung für heute kraftvoller und weniger spekulativ sein, weil sie genau auf Gottes ursprünglicher Absicht mit dem Text beruht.

Der Kontext von Philipper 4,13

Werfen wir nun einen kurzen Blick auf den Kontext von Philipper 4,13, um zu sehen, wie selbst ein kurzer Blick uns helfen kann, diesen Vers richtig auszulegen. Die Gemeinde in Philippi war auf der zweiten Missionsreise des Apostels Paulus gegründet worden (Apg 16). Nun, etwa zehn Jahre später, war Paulus Gefangener in Rom, als er diesen Brief an die Philipper schrieb (s. Apg 28). Ein gläubiger Bruder namens Epaphroditus (Phil 2,25; 4,18) kam von Philippi zu Paulus nach Rom und brachte eine Geldspende der Christen mit, die Paulus damit unterstützen wollten. Einer der Gründe, warum Paulus diesen Brief schrieb, war, weil er den Gläubigen für ihre Gabe danken und sie über seine Situation in Rom informieren wollte.

Beachten wir nun die Verse, die Philipper 4,13 direkt umgeben. Paulus war sehr dankbar für diese Gabe und dankbar, dass die Philipper sich um ihn sorgten (Phil 4,10.14-19). Der Apostel betonte aber auch (Phil 4,11.12), dass er ungeachtet seiner Umstände zufrieden war. Warum? Weil er gelernt hatte, auf den Herrn zu vertrauen, dass Er seine Bedürfnisse befriedigte. Das ist der Kontext für die zuversichtliche Aussage in Vers 13! In Zeiten der Not und Bedrängnis war Paulus nicht beunruhigt, weil er aus Erfahrung gelernt hatte, dass er sich – um stark zu sein – völlig auf Christus verlassen konnte. Und das ist die wunderbare Verheißung von Philipper 4,13 für uns heute – in ihrem Kontext!

Wenn wir also den Kontext beachten, sehen wir: Wir sollten Philipper 4,13 nicht für finanziellen Erfolg, gute Prüfungsergebnisse oder Goldmedaillen beanspruchen – aber wir dürfen diesen Vers sicherlich für Kraft und Stärke in Zeiten der Not beanspruchen! Aus dem Kontext geht auch hervor, dass die Nöte, mit denen Paulus konfrontiert war, nicht das Ergebnis von Verantwortungslosigkeit, Nachlässigkeit oder egoistischem Ehrgeiz waren. Nein. Diese Nöte waren durch seinen Dienst für Chrisuts entstanden! Auch das sollte uns dabei kontrollieren, wie wir diese Verheißung auslegen und anwenden.

Bist du gerade jetzt mit Nöten, Schwierigkeiten oder harten Zeiten konfrontiert, weil du dich entschieden hast, zu Jesus zu stehen? Dann darfst auch du mit Paulus voller Zuversicht sagen: „Ich vermag alles durch den, der mich stark macht.“


Originaltitel: „Controlled by Context“
Quelle: www.growingchristians.org

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