Von dem einen zum anderen Bethanien (2)
Johannes 11,1-16

Fritz von Kietzell

© SoundWords, online seit: 06.03.2001, aktualisiert: 13.12.2019

Leitverse: Johannes 11,1-16

Von den Juden verworfen, war der Herr an den Ausgangspunkt seines Dienstes zurückgekehrt, nach Bethanien, „jenseits des Jordan, an den Ort wo Johannes zuerst taufte“, und war dort geblieben (Joh 10,39.40; vgl. Joh 1,28). Dort erreicht Ihn aus dem in Judäa gelegenen Dorfe gleichen Namens die Nachricht, die wir am Beginn des 11. Kapitels finden.

Joh 11,1: Es war aber ein gewisser krank, Lazarus von Bethanien, aus dem Dorfe der Maria und ihrer Schwester Martha.

In der Tat, eine nicht minder bemerkenswerte, eigenartige Ortsbestimmung, so recht des göttlichen Schreibers würdig, der die Hand des Evangelisten führte! Alles, was irgend sonst zu erwähnen war, verblasst für ihn vor dem Umstande, dass dieses Dorf der Wohnort jener zwei Schwestern war, deren Herzen für den Herrn Jesus schlugen. Und noch eins fällt uns auf: Maria, die Jüngere, wie wir nach Lukas 10,38.39 annehmen müssen, wird vor ihrer älteren Schwester genannt. Wenn es sich nachher um die Gefühle des Herrn den Geschwistern gegenüber handelt, erfolgt diese Hervorhebung nicht (lies Joh 11,5), doch wenn es die Anerkennung unserer Liebe gilt, dann werden Unterschiede gemacht, die Gottes vollkommener Gerechtigkeit entsprechen. Denn „Maria war es, die den Herrn mit Salbe salbte und seiner Füße mit ihren Haaren abtrocknete“ (Joh 11,2), die sich wie kein anderer in die Gefühle und die Lage des Herrn versetzt hat (vgl. Mt 26,13; Mk 14,9).

Dass es der Bruder dieser Maria war, rief die Gefühle des Herrn in besonderer Weise wach. Und auf die „innerlichen Gefühle“ des Herrn beriefen sich auch die Schwestern in ihrer Botschaft: 

Joh 11,2.3: Deren Bruder Lazarus war krank. Da sandten die Schwestern zu ihm und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, ist krank.

Hier fühlen wir, dass es etwas zu lernen gibt für uns selbst. Fällt uns nicht mancher unserer Altersgenossen ein, „den der Herr lieb hat“ und den wir im Vertrauen auf diese Liebe Ihn bringen könnten? Wie gäbe doch dies Vertrauen unseren Gebeten Kraft, und andererseits, weil es fehlt, weil wir seine liebenden Gedanken über die Gegenstände unserer Fürbitte oft so wenig verwirklichen, erlahmen wir in unseren Gebeten. Lasst uns diesen Dienst mehr im Glauben tun! „Als er ihren Glauben sah“, heißt es bei der Heilung des Gelähmten (Mk 2,5).

Joh 11,4: Als aber Jesus es hörte, sprach er: diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern um der Herrlichkeit Gottes willen, auf dass der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde.

Wie schmerzlich und enttäuschend war für Ihn, den von seinem Volke verworfenen, die notgedrungene Rückkehr zu dem Ausgangspunkt seines Dienstes, nach dem Bethanien jenseits des Jordan, gewesen! Doch es gab noch ein anderes Bethanien für Ihn, und dort sollte Er als der Sohn Gottes verherrlicht werden, in der Eigenschaft, die die Juden in ihrem feindseligen Hass nicht anerkennen wollten (Joh 10,30.31.38.39).

Die Liebe des Herrn zu jenen Geschwistern wird uns jetzt noch einmal ausdrücklich bezeugt: 

Joh 11,5-10: Jesus aber liebte Martha und ihre Schwester und Lazarus. Als er nun hörte, dass er krank sei, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war. Danach spricht er dann zu den Jüngern: Lasst uns wieder nach Judäa gehen! Die Jünger sagen zu ihm: Rabbi, eben suchten die Juden dich zu steinigen, und wieder gehst du dahin? Jesus antwortete: Hat der Tag nicht zwölf Stunden? Wenn jemand am Tag wandelt, stößt er nicht an, weil er das Licht dieser Welt sieht; wenn aber jemand in der Nacht wandelt, stößt er an, weil das Licht nicht in ihm ist.

Kein Zweifel daran soll beim Lesen des folgenden aufkommen, denn trotzdem Er wusste, dass Lazarus krank war, „blieb er noch zwei Tage an dem Orte, wo er war“. Erst dann „spricht er zu den Jüngern: Lasst uns wieder nach Judäa gehen!“ (Joh 11,7).

So warteten die Schwestern am Kranken- und Sterbelager ihres Bruders vergeblich auf Ihn, und viele haben sich seitdem gefragt, warum sie der Herr so enttäuschte. Die Jünger fürchteten um das Leben ihres Herrn, und hätten wohl gern gesehen, wenn er „jenseits des Jordan“ geblieben wäre. Aber Er ging doch. Fragen, Unverständlichkeiten überall! – wie wir ihnen im Blick auf das, was der Herr tut und zulässt, auch auf unserem Wege täglich begegnen. Doch der Herr gibt jenen und uns eine für alle Fälle gültige, völlig ausreichende Antwort. Er wandelte am Tag und im Licht; sein Tun und Lassen stand und steht in völliger Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes, die höher sind als unsere Gedanken. Darum trifft Ihn kein Vorwurf, darum „stieß er nicht an“, in vollkommener Ruhe ging Er damals und geht Er heute seinen Weg (Joh 11,9.10). „Vollkommen ist sein Tun“: mit Lazarus, mit den Schwestern und mit uns; „alle seine Wege sind recht, ein Gott der Treue und sonder Trug, gerecht und gerade ist er“ (5Mo 32,4).

Und Er hat auch Trost und Ermunterung für uns wie für alle die Seinen. 

Joh 11,11-14: Dies sprach er, und danach sagt er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen; aber ich gehe hin, um ihn aufzuwecken. Da sprachen die Jünger zu ihm: Herr, wenn er eingeschlafen ist, wird er geheilt werden. Jesus aber hatte von seinem Tod gesprochen; sie aber meinten, er rede von der Ruhe des Schlafes. Dann nun sagte ihnen Jesus geradeheraus: Lazarus ist gestorben; und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht dort war, damit ihr glaubt; aber lasst uns zu ihm gehen! Da sprach Thomas, der Zwilling genannt wird, zu den Mitjüngern: Lasst auch uns gehen, dass wir mit ihm sterben!

„Lazarus, unser Freund“, sagt Er, indem Er sich in rührender Weise mit ihnen einsmacht in den Empfindungen für ihn – „Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen, und ich gehe hin, auf dass ich ihn aufwecke“ (Joh 11,11). Die Jünger verstehen Ihn nicht, und so sagt Er ihnen „gerade heraus“, dass Lazarus tot sei, dass Er aber „froh“ sei um ihretwillen, dass Er nicht dort war. „Lazarus ist gestorben, und ich bin froh …“ – wie widerspruchsvoll! Wahrlich, Fragen, Unverständlichkeiten überall! Wie sollen wir die Handlungsweise des Herrn in diesem Falle verstehen?

Drei Gründe führen wir dafür an. Den einen erfahren wir gleich hier: „Ich bin froh um euretwillen, … auf dass ihr glaubet“ (Joh 11,15). Wir sind kurzsichtig im Blick auf das, was uns nützlich ist, aber Er sieht weiter. Auch die Jünger verstanden Ihn nicht, weder sein Warten noch sein Gehen, aber sie gingen mit Ihm. „Lasst auch uns gehen“, sagt Thomas, „auf dass wir mit ihm sterben“ (Joh 11,16). Ja, „lasst auch uns gehen“, wenn Er uns unverständliche, scheinbar gefahrvolle Wege führt; Er will ja dadurch unseren Glauben stärken.

Zum anderen wollte uns der Geist Gottes in der Geschichte des Lazarus die des irdischen Volkes Gottes zeigen. Israel war krank, sterbenskrank, aber es hat den Herrn, seinen Arzt, verstoßen, ans Kreuz geschlagen. So zog sich der Herrn zurück, dies entsprach seiner Heiligkeit, so zögerte Er, bis Israel unterging und starb, und Er ist noch bis heute „an dem Orte geblieben“, wo Er damals hinging. Aber dereinst, vielleicht bald, wird Er kommen, um es zum Leben und tausendjährigen Segnungen zu führen (Hes 37). Denn für Ihn ist es nicht wirklich tot, sondern nur „eingeschlafen“ (Joh 11,4a.11; vgl. Mt 9,24).

Den dritten Grund nannten wir schon. Die Krankheit war um der Herrlichkeit Gottes willen, auf dass der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde. Die Auferweckung des Lazarus, der schon vier Tage im Grabe lag, eine bis dahin unerhörte Tat, war die Antwort Gottes auf die Verwerfung seines Sohnes. Nachher, als seine Verwerfung vollendet ist und der Mensch Ihm den niedrigsten Platz, den am Fluchholz, gegeben und Er gehorsam das Haupt im Tode geneigt hat, darf niemand von seinen Feinden mehr seinen Leib antasten; „kein Bein von ihnen wurde zerbrochen“ (Joh 19,31-34). Sein Grab „hatte man bei Gesetzlosen bestimmt“, aber „bei einem Reichen ist er gewesen in seinem Tod“ (Joh 19,38-42; Jes 53,9).

Die Sonne des Auferstehungsmorgens leuchtete über einem leeren Grab (Joh 20,1-18), und schließlich hallten die Himmel wider von jenem wunderbaren Gruß, als Er als der „Urheber ewigen Heils“ dorthin zurückkehrte, „von Gott begrüßt als Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks“, das heißt als ewiger Hoherpriester und Stellvertreter der Seinen (Heb 5,7-10).

So ging der Weg unseres Herrn vom Kreuz zur Krone, von der Verwerfung zur Herrlichkeit, von dem einen zum anderen Bethanien! – und wir fügen einem Thomas gleich hinzu: „Lasst uns mit ihm gehen“ – wohl um mit Ihm zu sterben, den Platz der Verwerfung einzunehmen hienieden in dieser Welt, um aber dann den höchsten Platz droben mit Ihm zu teilen.

Vorheriger Teil


Hinweis der Redaktion:

Die SoundWords-Redaktion ist für die Veröffentlichung des obenstehenden Artikels verantwortlich. Sie ist dadurch nicht notwendigerweise mit allen geäußerten Gedanken des Autors einverstanden (ausgenommen natürlich Artikel der Redaktion) noch möchte sie auf alle Gedanken und Praktiken verweisen, die der Autor an anderer Stelle vertritt. „Prüft aber alles, das Gute haltet fest“ (1Thes 5,21). – Siehe auch „In eigener Sache ...

Bibeltexte im Artikel anzeigen