Praktische Lehren aus dem Buch Hiob (4)
„Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“

William Kelly

© CSV, online seit: 26.10.2005, aktualisiert: 29.04.2023

Leitverse: Hiob 19,23-27

Hiob 19,23-27: O dass doch meine Worte aufgeschrieben würden! O dass sie in ein Buch gezeichnet würden, mit eisernem Griffel und Blei in den Felsen eingehauen auf ewig! Und ich, ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er auf der Erde stehen; und ist nach meiner Haut dieses da zerstört, so werde ich aus meinem Fleische Gott anschauen, welchen ich selbst mir anschauen und den meine Augen sehen werden, und kein anderer: Meine Nieren verschmachten in meinem Innern.

Hier beginnt nun als Antwort auf all dieses, wo Umstände, Freunde und vor allem das eigene irrende Herz ihn je länger je mehr Gott zu entfremden suchen, plötzlich das Licht des Glaubens die Dunkelheit des Leidensweges Hiobs zu erhellen. Was er nun sagt, passt gewiss nicht in den Rahmen seiner früheren Gedanken. Es widerspricht dem meisten, was er bislang behauptet hat. Es sind auch nicht seine eigenen Gedanken, sondern er schließt sich den Augenblicken an, die wir schon kennengelernt haben, in denen, ebenso unerwartet wie jetzt, Gottes Geist ihn erleuchtete. Der Gedanke an den Mittler (Hiob 9,23), an den Zeugen im Himmel (Hiob 16,19) und an eine Auferstehung der Toten (Hiob 14,14) sind hier miteinander verschmolzen zu dem Wissen, dass sein Erlöser lebt und dass dieser, wenn auch Hiobs elender Leib zugrunde geht, einmal über den Staub triumphieren wird. Dann wird Hiob Ihn sehen als seinen Gott und sich persönlich in Ihm erfreuen, und nach diesem Augenblick schaut sein Herz mit großem Verlangen aus (Hiob 19,25-27).

Diese Worte gehören sicher zu den schönsten, die wir im Buche Hiob finden, ja, sie gehören zu den herrlichsten Glaubensäußerungen der ganzen Schrift. Es hat Gott gefallen, Hiobs Flehen zu erhören, das er diesen Worten vorausgehen lässt. Sie sind aufgeschrieben, sie sind aufgezeichnet in einem Buch. Und in was für einem Buch! Und sind sie auch nicht buchstäblich mit eisernem Griffel in einen Felsen gehauen, so sind sie doch für ewig aufbewahrt in Gottes Wort, das standhalten wird, wenn der Felsen schon lange zu Staub zerfallen ist (Hiob 19,23.24). Wie mächtig ist Gott, der unter solchen Umständen solche Dinge in dem Herzen eines Menschen wirken kann, der in mancher Hinsicht noch ein Irrender war!

Wenn wir daran denken, welch eine reiche Kenntnis von göttlichen Dingen wir durch die Heilige Schrift besitzen, dann muss es uns in Erstaunen setzen, dass in diesen frühen Zeiten und außerhalb der Offenbarung an Israel solche Gedanken ausgesprochen werden konnten. Aber wenn Gott auch in jenen Tagen erst weniges bekannt gemacht hatte – das wenige lebte durch die Kraft des Heiligen Geistes in den Herzen derer, die glaubten. Wir finden das auch bei den Vätern, sogar bei Jakob. Weil der Grundsatz des Glaubens so mächtig in ihnen wirkte, konnten sie oft Dinge sagen, die wir jetzt, da das volle Licht der Erfüllung darüber aufgegangen ist, als prophetische Worte kennen. Es erinnert uns an ein Wort aus den Sprüchen: „Der Neubruch der Armen gibt viel Speise“ (Spr 13,23). Gott weckte in ihnen den Glauben, der ihrer geringen Erkenntnis eine weit in die Zukunft reichende Bedeutung gab.

Bei uns droht die Gefahr des Gegenteils! Fülle von Gnade und Wahrheit ist uns in Christus offenbart. Aber leben wir darin? Hat das „Viele“ bei uns dieselbe Auswirkung auf unser geistliches Leben wie das „Wenige“ bei den Gläubigen der früheren Tage? Ist es nicht häufig so, dass wir nur wenig persönlich besitzen von dem vielen, das uns geschenkt ist?

Möge es bei uns so sein, dass wir uns mit Hiob derselben Gewissheit erfreuen können, wie er es inmitten seiner Prüfungen tat! Und möchte es nicht nötig sein, dass Gott uns durch das Nachdenken über Hiobs Glauben beschämen muss, weil seine Gewissheit bei so geringer Erkenntnis größer war als die unsere!

Im geistlichen Leben ist es so, dass in wenigen Worten oft das meiste gesagt wird. Als Hiob in seinem tiefsten Elend zu einem ebenso unerwarteten wie herrlichen Bekenntnis des Glaubens kommt, finden wir in wenigen Versen solch einen Reichtum an Gedanken, dass es sich wirklich lohnt, bei diesem Abschnitt noch einmal besonders stehen zu bleiben.

Was Glauben ist – nicht seinem Inhalt, sondern seiner Art und seinem Charakter nach –, finden wir in der Schrift nirgends deutlicher als in Hebräer 11. Es ist eine Gewissheit in Bezug auf Dinge, die man nicht sieht, eine Hoffnung auf Verheißungen, die noch nicht in Erfüllung gegangen sind. Und der Heilige Geist lässt in diesem Licht die Gläubigen des Alten Testaments an uns vorüberziehen: Alles Männer und Frauen, die festhielten an unsichtbaren Dingen, an unerfüllten Verheißungen, inmitten von Umständen, die in absolutestem Widerspruch zu ihren Erwartungen standen. Das Geheimnis ihres Glaubens war, dass sie an Gott als Dem festhielten, „der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ruft, wie wenn es da wäre“. So handelte Abraham (Röm 4,17.18), und so handelten im Grundsatz alle, die genau wie er „wider Hoffnung auf Hoffnung“ glaubten. Ihr Glaube wuchs durch Gottes Gnade mit den Schwierigkeiten, und wenn dann der Widerstand, das Leiden, das Elend zu ihnen selber kam und ihr Leben und ihre Person bedrohte, dann konnten sie noch mit dem Psalmisten ausrufen: „Vergeht mein Fleisch und mein Herz – meines Herzens Fels und mein Teil ist Gott auf ewig“ (Ps 73,26) und mit dem Propheten sagen: „Denn der Feigenbaum wird nicht blühen, und kein Ertrag wird an den Reben sein; und es trügt die Frucht des Olivenbaumes, und die Getreidefelder tragen keine Speise; aus der Hürde ist verschwunden das Kleinvieh, und kein Rind ist in den Ställen. – Ich aber, ich will in dem HERRN frohlocken, will jubeln in dem Gott meines Heils“ (Hab 3,17.18).

Durch solch einen Glauben konnten sie auch inmitten der Feinde treu bleiben und bei der Aufzählung ihrer Schwierigkeiten freimütig bezeugen: „Dieses alles ist über uns gekommen, und wir haben deiner nicht vergessen“ (Ps 44,17).

Oh, das „Dennoch“ des Glaubens! Welch eine Gnade, dies von ganzem Herzen aussprechen zu können! Zu der Welt, den Spöttern, den Umständen, dem ganzen Leben, ja, zu dem Tode sagen zu können: Was du mir vorstellst, ist wahr, ich gebe es zu; du stellst mich vor Tatsachen, wohlan, ich ergebe mich darein, aber dennoch halte ich fest an meinem Gott, an Seinen Verheißungen und Zusagen, und freue mich, als sähe ich den Unsichtbaren (Heb 11,27).

So war es auch bei Hiob. Abgesehen von seinem körperlichen Leiden, wie vielem Zweifel war er ausgesetzt! Immer wieder suchen die Freunde seinen Glauben und sein Vertrauen auf Gott ins Wanken zu bringen. Und wenn Hiob um sich blickte, musste er ihnen wohl Recht geben. Aber dann bricht sein Glaube durch, und er sagt dennoch: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt! Ja, dessen ist er gewiss trotz seines scheinbar hoffnungslosen Zustandes!

Hiob lebte außerhalb Israels. Aber seine Geschichte ist in Hebräisch geschrieben, und Gott hat sie Israel als Teil Seiner Offenbarung geschenkt. Und nun ist es merkwürdig, dass der Heilige Geist, um Hiobs Gedanken bezüglich seines Erlösers wiederzugeben, ein Wort benutzt, das an anderer Stelle durch „Löser“ übersetzt wird. Wörtlich sagt Hiob also: Ich weiß, dass mein Löser lebt. In 3. Mose 25,25-55 wird von diesem Löser gesprochen.

Wenn ein Erbteil eines Israeliten infolge Armut verkauft worden war, so sollte sein Bruder das Verkaufte los- oder zurückkaufen. Wenn ein Verarmter in Israel war, so verarmt, dass er sich selbst als Sklave an einen Fremden verkaufen musste, so war für einen solchen Lösung, das heißt Freikaufen durch Zahlen eines Lösegeldes, möglich, und zwar durch einen seiner Blutsverwandten. Auch für den Bluträcher wird dasselbe Wort „Löser“ oder „Befreier“ gebraucht.

Wir können jetzt auf die geistliche Bedeutung hiervon nicht ausführlich eingehen; wir begnügen uns mit dem Hinweis, dass wir hier eines der überaus schönen Vorbilder von Christus haben, an denen das Gesetz so reich ist. Auch bei Hiob war der Gedanke dieser: Es gibt einen, der mein Recht suchen wird, einen, der mich Verarmten, Elenden, frei machen wird; ich weiß, dass Er lebt und dass ich Ihn sehen werde als meinen Gott. Und so verstehen wir, dass Hiob – genau wie die anderen Gläubigen des Alten Testaments – durch den Glauben Christus ergriffen hat, ohne Ihn in Seiner vollen Offenbarung zu kennen.

Hiob erkennt gleichzeitig, dass sein Erlöser über alles erhaben ist. „Als der Letzte wird er auf der Erde stehen“, ruft er aus. In Jesaja 48,12 lesen wir: „Ich bin, der da ist, ich der Erste, ich auch der Letzte.“ Durch Gottes Geist hat Hiob etwas von dieser Wahrheit gewusst oder gefühlt. Als der Einzige, der bleibt, wird Gott am Ende auf der Erde sich erheben, Er, der allein alle Macht hat. Welch ein Trost für Hiob! Der Löser, der Erlöser, lebte. Er war erhaben über alle und würde dies auch in der Zukunft sein. Durch den Glauben konnte Hiob bezeugen, dass dieser Löser und Erlöser sein war.

Und mehr noch. Er glaubt auch an seine eigene herrliche Zukunft. „Und ist nach meiner Haut dieses da zerstört“, das heißt, ist die Zerstörung dieser meiner Existenz völlig geworden, dann werde ich, nein, nicht vergehen und nicht verloren sein, sondern ich werde „aus meinem Fleische Gott anschauen“. Er glaubte also an die leibliche Auferstehung. Das ist Glaube! Und wie merkwürdig, solch einen Glauben in jener Zeit zu finden!

Ein Gedanke, den wir häufig im Alten Testament finden, ist der, dass nur der Lebende Gott verherrlichen kann. Und unter Leben verstand man die Vereinigung von Seele und Leib, sei es jetzt, sei es einst in der Auferstehung. „Singen will ich dem HERRN mein Leben lang“, sagt der Psalmist, „will meinem Gott Psalmen singen, solange ich bin“ (Ps 104,33). Als Hiskia krank ist und den Tod nahen fühlt, klagt er: „Ich werde den HERRN nicht sehen, den HERRN im Lande der Lebendigen“ (Jes 38,11). Und später bezeugt er: „Denn nicht der Scheol preist dich, der Tod lobsingt dir nicht; die in die Grube hinabgefahren sind, harren nicht auf deine Treue. Der Lebende, der Lebende, der preist dich!“ (Jes 38,18.19). Auch im Buch Hiob finden wir diesen Gedanken mehrere Male wieder. Und darum ist es gewiss, dass Hiob an Auferstehung gedacht hat, als er sagte: „Ich werde aus meinem Fleische Gott anschauen.“ Hiermit wollte er nicht sagen: erlöst von dem Leibe, sondern: aus dem Leibe der Auferstehung heraus, den Gott mir schenken wird, nachdem die Zerstörung dieser meiner gegenwärtigen Existenz vollendet ist. Und auch hierin sehen wir, wie Gott die Gläubigen des Alten Testaments durch den Glauben Dinge verstehen ließ, über die Er erst in viel späteren Zeiten das volle Licht Seiner Offenbarung aufgehen lassen wollte.

In enger Beziehung hierzu steht Hiobs heißer Wunsch, sich persönlich in seinem Gott zu erfreuen. Auch dieser Gedanke wird im Alten Testament immer mit dem Leben in Verbindung gebracht. Ergreifend sind die Worte, mit denen Hiob seiner Hoffnung Ausdruck gibt. „Welchen ich selbst mir (eig. „für mich, zu meinen Gunsten“) anschauen werde“, sagt er. Gott als sein persönlicher Besitz, welch ein Gedanke! Ja, Er ist für alle da, und unzählbar viele werden sich in Ihm erfreuen. Aber Er wird auch für einen jeden von uns unser persönlicher Besitz, unser Teil in Ewigkeit sein. Wie zart und innig spricht Hiob es aus: „… den meine Augen sehen werden, und kein anderer.“ Ist es nicht, als ob er sagen wollte: Der Gott, den meine Freunde mir vorstellen, ja, wie ich selber manchmal über Ihn gedacht und gesprochen habe, das war nicht mein Gott, sondern ein anderer, den ich nicht kannte. Aber dann werde ich Ihn sehen als meinen Gott, wenn all dieses, alles Elend, zu Ende und vorbei ist.

Größere Gewissheit als Hiob besaß, können auch wir nicht haben. Aber wohl ist es ein Vorrecht, uns in dieser Zeit, in der wir leben, unseres persönlichen Verhältnisses zu Gott bewusst sein zu dürfen. Wo ein eigenwilliger Gottesdienst von Ihm häufig lediglich noch als „Gottheit“ spricht und alles Persönliche in dem Verhältnis zu Ihm zu allgemeinen Gefühlsanwandlungen verschwimmt und verflacht, die sich einmal als Selbsttäuschungen entpuppen werden, da dürfen wir, in dem Wissen, dass wir Ihn als den Unseren besitzen werden, mit Hiob voll inniger Erwartung sagen: „Meine Nieren verschmachten in meinem Innern.“

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Originaltitel: „Praktische Lehren aus dem Buch Hiob. (4) Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“
aus Ermunterung und Ermahnung, Jg. 46,  1992, S. 360ff.

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