Die Herrlichkeit des Vaters und des Sohnes (1)
Johannes 12

Henri Louis Rossier

© EPV, online seit: 29.01.2005, aktualisiert: 17.11.2022

Leitverse: Johannes 12

Lieber Bruder,

Deine Frage über Johannes 17,1-4 betrifft noch andere Stellen aus demselben Evangelium, die mich gerade vor kurzem gesegnet und ganz besonders berührt haben. Ich möchte sie Dir in diesen Briefen darlegen.

Es ist unter uns wiederholt gesagt worden, dass in den Kapiteln 11 und 12 des Johannesevangeliums Gott seinem Sohn Zeugnis gibt bezüglich seiner künftigen Herrlichkeit, bevor Er, von der Welt verworfen, auf dem Kreuz erhöht werden sollte.

Das erste dieser Zeugnisse finden wir in der Auferweckung des Lazarus. In dieser wunderbaren Tatsache dürfen Martha und andere mit ihr die Herrlichkeit Gottes sehen (Joh 11,40). Der göttliche Charakter dessen, der die Toten auferweckt, wurde also in der Person Jesu hier auf der Erde geoffenbart. Er wurde durch die Auferweckung des Lazarus als Sohn Gottes erwiesen, bevor Er sich als solcher in Kraft erwies durch seine eigene Auferstehung (Röm 1,4). Hier finden wir also das Zeugnis im Blick auf seinen Charakter als Sohn Gottes.

In Johannes 12,12-16 wird dem Herrn Jesus das zweite Zeugnis gegeben. Der Messias der Juden, Jahwe, dessen Name „herrlich … auf der ganzen Erde“ sein sollte (Ps 8,1), schritt auf das Kreuz zu, doch nicht, ohne dass Gott noch vorher inmitten des Volkes, das Ihn verworfen und mit Beleidigungen überhäuft hatte, ein Zeugnis bezüglich seiner zukünftigen königlichen Herrlichkeit gab, und zwar durch den Mund der Jünger und „der Kinder und Säuglinge“ (Ps 8,2). Zweifellos verstanden sie, durch die dieses Lob zustande kam, die Tragweite nicht. Gott führte alles, bis in die kleinsten Einzelheiten dieser Szene, und das, um selbst vor allen die Herrlichkeit seines Königs, den Er über Zion salben wollte (Ps 2,6), aufrechtzuerhalten. Über diese Herrlichkeit sagt der Prophet in Sacharja 9,9: „Frohlocke laut, Tochter Zion; jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König wird zu dir kommen: Gerecht und ein Retter ist er, demütig, und auf einem Esel reitend, und zwar auf einem Füllen, einem Jungen der Eselin.“ Die Jünger, die diese Dinge zuerst nicht verstanden hatten, erinnerten sich daran, als Jesus verherrlicht war, das heißt, als Er in die himmlische Herrlichkeit aufgefahren war (Joh 12,16). Der Heilige Geist brachte es ihnen in Erinnerung, und dann verstanden sie, dass nicht nur der Gesalbte des Herrn im Himmel verherrlicht werden musste entsprechend dem Wort: „Der du deine Majestät gestellt hast über die Himmel“ (Ps 8,1), sondern dass Er auch später auf der Erde über alles gestellt werden muss in der Kraft seiner Auferstehung, umjubelt von seinem Volk, und zwar dort, wo Er verworfen und gekreuzigt worden ist.

Diese Szene in Jerusalem war also ein Zeugnis Gottes für seinen Gesalbten, den Messias – den König Israels.

Dasselbe Kapitel gibt uns in den Versen Johannes 12,20-24 das dritte Zeugnis. Einige Griechen, aus den Nationen, die den Gott Israels anerkannten, waren hinaufgekommen, „auf dass sie auf dem Feste anbeteten“. Sie baten die Jünger, sie Jesus vorzustellen. Der Herr antwortete: „Die Stunde ist gekommen, dass der Sohn des Menschen verherrlicht werde“ (Joh 12,23).

Die Worte „Die Stunde ist gekommen“, die wir im Johannesevangelium häufig finden (Joh 2,4; 7,30; 8,20; 12,23; 13,1; 17,1), bedeuten in diesem Evangelium immer (vgl. Mk 14,41) die Stunde des Kreuzes, doch des Kreuzes in Bezug auf seine herrlichen Ergebnisse, die niemals von den Leiden des Herrn getrennt werden können. („Die Stunde“ oder „diese Stunde“ [Mk 14,35; Joh 12,27] bedeutet einfach das Kreuz. „Eure Stunde“ ist das Kreuz, gesehen als das Werk des Menschen, der Welt und Satans [Lk 22,53]).

In dem Abschnitt, der uns beschäftigt, kündigt der Herr also an, dass der Sohn des Menschen als Folge des Kreuzes verherrlicht werden würde. Er kündigt ein besonderes Resultat seines Todes an, das später sichtbar werden würde – ein Resultat, von dem Gott bereits zuvor durch die Ankunft einiger Griechen Zeugnis gab. Nicht nur musste Er als der Sohn Gottes und als der Messias in der Auferstehung verherrlicht werden, sondern gleicherweise auch als der Sohn des Menschen. Dann werden die Nationen Ihn anerkennen. Dies wird in einer zukünftigen Zeit stattfinden, wenn sich die Nationen durch das Zeugnis des Überrestes Israels bekehrt haben und in das Reich des Sohnes des Menschen eingeführt sind, wenn der HERR (Jahwe) alles unter seine Füße gestellt haben wird (Ps 8,6). Das hat heute bereits durch das Evangelium stattgefunden, das als Folge des Todes und der Auferstehung des Sohnes des Menschen unter den Nationen gepredigt wird (1Tim 3,16). Das Weizenkorn ist in die Erde gefallen und gestorben und hat in der Auferstehung viel Frucht gebracht (Joh 12,24). Welch eine Freude muss doch die Seele des Herrn bei dem Gedanken erfüllt haben, dass Gott, sein Gott, die herrliche Frucht seiner Leiden Ihm als Mensch hier auf der Erde geben würde! Seine Verherrlichung besteht in dieser Stelle also darin, dass die Nationen – dazu gebracht, die heilbringenden Folgen seines Todes zu teilen – in die Sphäre der Segnungen eingeführt werden, die bis zu diesem Augenblick ausschließlich dem Volk Israel gehörten.

Im Gegensatz zu den triumphierenden Worten in Vers 23 finden wir in Vers 27 den Ausruf: „Jetzt ist meine Seele bestürzt“ (Joh 12,23.27). Nachdem der Herr Jesus das Ergebnis seines Kreuzes sozusagen im Voraus gefeiert hat, befindet Er sich nun wieder vor diesem Kreuz. Das ist die Bedeutung des Wortes „jetzt“. Und sollte die Seele des Heilandes nicht bestürzt gewesen sein bei dem Gedanken, dass „diese Stunde“ für Ihn die Unterbrechung der Gemeinschaft mit dem Vater wie auch das Verlassensein vonseiten Gottes bedeuten würde? (Diese beiden Dinge sind gleich wahr, das eine wie das andere, allerdings wird das Erste im Johannesevangelium in den Vordergrund gestellt und das Zweite in den Evangelien nach Matthäus und Markus. Um jeder verkehrten Vorstellung vorzubeugen, ist es gut, den Nachdruck auf die Tatsache zu legen, dass das Opfer Christi völlig zu einem lieblichen Wohlgeruch für Gott aufstieg und dass der Vater niemals mehr verherrlicht wurde als durch das Opfer seines Sohnes am Kreuz. Daher wird auch niemals gesagt, dass der Vater seinen Sohn verlassen hat.)

An dieser Stelle habe ich häufig darauf hingewiesen, dass das Wort von dem Herrn sagt: „Er seufzte tief“ (Joh 11,33), oder wie hier: „Meine Seele ist bestürzt“, oder auch: „Er ward im Geiste erschüttert“ (Joh 13,21), doch dass sein Herz, der Sitz seiner Zuneigungen, niemals bestürzt wurde, wie das bei seinen Jüngern der Fall war (Joh 14,1). Nichts konnte auch nur für einen Augenblick seine Liebe verblassen lassen oder verschleiern – die Liebe, die Ihn erfüllte und die Ihn fest entschlossen zum Kreuz gehen ließ, ohne Widersprechen, ohne seinen Mund aufzutun, und das, damit das unendliche Verlangen seines Herzens, uns zu retten, erfüllt werden konnte. Doch seine Seele ist bis in ihre tiefsten Tiefen bestürzt. Konnte Er wünschen, die Gemeinschaft mit seinem Vater zu verlieren, Er, der sie von aller Ewigkeit her genossen hatte? Lieber Bruder, wie sollte doch diese schreckliche Angst in der Seele Christi vor dieser Trennung, die lediglich drei Stunden in der ewigen Existenz des Sohnes Gottes betrug, mehr zu unserem Gewissen sprechen! Sind wir sehr beunruhigt über eine verlorene Gemeinschaft? Wie viele Stunden, Tage, häufig Monate, manchmal Jahre, vergehen in unserem Leben ohne die Freude dieser Gemeinschaft, während der Herr im Blick auf diese kurze Unterbrechung sagte: „Jetzt ist meine Seele bestürzt“!

Und beachte, dass die äußeren Leiden des Kreuzes, die Dornenkrone, der Spott und die Gewalttat, die Nägel, in seinem Durst mit Essig getränkt zu werden, die Blicke herzloser und erbarmungsloser Menschen, wie bitter Er das alles auch gefühlt haben mag, nichts zu tun hatten mit dem, was seine heilige Seele bestürzt sein ließ. Er drückt es in seiner Angst in ergreifenden Worten aus, wenn Er hinzufügt: „Und was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde?“ Soll Er den Vater bitten, seine Liebe zu Ihm, seinem geliebten Sohn, zu erweisen, indem Er Ihm diese Verlassenheit ersparte und Ihn von dem Kreuz erlöste? O wunderbare Liebe Jesu! Er, der wie kein anderer wusste, was die Liebe des Vaters wert war, und der sie wertschätzte, wie es nur ein göttliches Herz tun kann, der wird nicht sagen: „Rette mich aus dieser Stunde!“ Nein, Er wird es nicht sagen, denn dazu war Er ja in diese Stunde gekommen. Was Er sagte, ist dies: „Vater, verherrliche deinen Namen!“ Für den Vater war die Verherrlichung seines Namens nichts anderes als die Erweisung seiner Liebe uns gegenüber, indem Er seinem Sohn das Verlassensein auf dem Kreuz nicht ersparte und indem Er Ihn nicht aus dieser Stunde rettete, sondern Ihn für uns gab. Welche Schätze der Liebe liegen in diesen Worten „Vater, verherrliche deinen Namen!“. Wie sind in dieser feierlichen Stunde die Herzen des Vaters und des Sohnes einmütig – in einem Opfer, einer Hingabe, einer Liebe –, und für wen? Für uns, Kraftlose, Sünder, Gottlose, Feinde Gottes, Feinde Christi!

Wie hätte der Vater auf diese vollkommene Selbstverleugnung seines Geliebten, der der Offenbarung der Liebe des Vaters uns gegenüber den Vorzug gab vor der Offenbarung der Liebe des Vaters Ihm gegenüber – wie hätte der Vater auf diesen erhabenen Verzicht schweigen können? „Da kam eine Stimme aus dem Himmel: Ich habe ihn verherrlicht und werde ihn auch wiederum verherrlichen“ (Joh 12,28). Er hatte seinen Vaternamen verherrlicht, indem Er seinem Sohn die Macht der Auferweckung anvertraute. Die Auferweckung des Lazarus war nur ein schwaches Bild, weil Er ihn für die Erde auferweckte; der Vater würde Ihn aufs Neue verherrlichen, indem Er seinen Sohn für den Himmel auferweckte – Ihn, der als Sohn Gottes in Kraft erwiesen ist durch seine eigene Auferstehung, Ihn, der auferweckt ist aus den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters (Röm 1,4; 6,4). Doch musste, wie wir bereits gesagt haben, das Weizenkorn, das in die Erde fiel, um dieser Herrlichkeit willen viel Frucht in der Auferstehung bringen. Nicht nur in der Auferstehung Christi ist der Vater verherrlicht. Seine Liebe wollte uns den gleichen Platz geben wie seinem Geliebten, dem Urheber unseres Heils. Diese Auferweckung des Sohnes hat uns tatsächlich die Auferstehung gebracht: Wir sind „mit dem Christus lebendig gemacht“; wir sind „mit dem Christus auferweckt“ (Eph 2,5; Kol 3,1). Sehr bald wird sie die Auferweckung unseres Leibes bewirken. Das ist „die erste Auferstehung“.

Der Vater ist also völlig verherrlicht worden darin, dass Er seinen Sohn in Liebe für uns gab, und darin, dass Er seinen Sohn auferweckte, und uns mit Ihm.

Wenn der Herr es mir vergönnt, werde ich in meinem zweiten Brief untersuchen, was Johannes 13 zu unserem Thema sagt.

Dein Dir in Christus zugeneigter
H. Rossier

Nächster Teil


Originaltitel: „Die Herrlichkeit des Vaters und des Sohnes. Drei Briefe an einen Bruder. Erster Brief“
aus Hilfe und Nahrung, 1982, S. 276–281


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