Der Prophet Jona
Jona 1–4

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© SoundWords, online seit: 13.06.2011, aktualisiert: 24.10.2022

Leitverse: Jona 1–4

Einleitung

Die Bosheit Ninives hatte einen erschreckenden Höhepunkt erreicht. Dennoch sandte Gott, der nicht den Tod des Gottlosen will, sondern dass dieser sich bekehre und lebe, den Propheten Jona hin, um wider die Stadt zu predigen (Jona 1,1.2). Die Langmut, das Erbarmen Gottes, ist über die Maßen groß und wunderbar. „Ein Augenblick ist in seinem Zorn, ein Leben in seiner Huld“ (Ps 30,5).

Auch heute noch handelt Er der boshaften Welt gegenüber in unendlicher Gnade. Immer noch macht Er den Sünder auf sein Verderben aufmerksam, in dem er sich befindet. „Siehe jetzt ist die Zeit der Annehmung; siehe, jetzt ist der Tag des Heils.“ Noch heute ergeht die frohe Botschaft an die Welt: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ – Sicher wird der Tag des Gerichts nicht ausbleiben: weil Gott „einen Tag gesetzt hat, an welchem er den Erdkreis richten wird in Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat“ (Apg 17,31). Niemand wird entrinnen können. Zu viele gehen dem Tag des Zorns Gottes in Gleichgültigkeit und Leichtfertigkeit entgegen; „wenn sie sagen werden: Friede und Sicherheit!, dann kommt ein plötzliches Verderben über sie; und sie werden nicht entfliehen“ (1Thes 5,3). Doch jetzt ist der Herr langmütig, „da er nicht will, dass irgendwelche verlorengehen, sondern dass alle zur Buße kommen“ (2Pet 3,9).

Kapitel 1

Das ist die Ursache, warum Er Jona den Auftrag gibt, in die große Stadt Ninive zu gehen und wider sie zu predigen. Aber Jona teilt die Gefühle der Gnade und der Barmherzigkeit seines Herrn nicht; er ist kein gehorsamer Diener, er folgt lieber seinem eigenen Willen. Wohl kannte er seinen Herrn, er wusste dass Er „ein gnädiger und barmherziger Gott, langsam zum Zorn und von großer Güte“ (Jona 4,2) war; aber statt Gefallen an seinen Wegen zu haben, weigerte er sich, nach Ninive zu gehen, vielmehr trachtete er danach, nach Tarsis zu entfliehen. Weigern nicht auch wir uns oft aus demselben oder aus irgendeinem anderen Grund, die Wege des Herrn zu gehen und seinem Willen zu gehorchen? Gestehen wir es nur: Häufig will das Herz eines Kindes oder auch eines Dieners Gottes seine eigenen Pfade einschlagen und verfolgen, gleich unserem Propheten, der sich aufmachte, um nach Tarsis zu entfliehen, von dem Angesicht des HERRN hinweg (Jona 1,3).

Welch ein trauriger Anblick, einen Knecht des lebendigen Gottes von dem Angesicht seines Herrn hinweg fliehen zu sehen! Wie macht doch der Ungehorsam so blind, so töricht! Als der Mensch gefallen war, zeigte er dieselbe Blindheit und Torheit. „Und sie hörten die Stimme Gottes des HERRN, der im Garten wandelte bei der Kühle des Tages. Und der Mensch und seine Frau versteckten sich vor dem Angesicht Gottes des HERRN mitten unter die Bäume des Gartens“ (1Mo 3,8). Aber „kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, sondern alles ist bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben“ (Heb 4,13). Sein Auge schaut weiter als das Auge des kurzsichtigen Menschen; denn: „Führe ich auf zum Himmel: Du bist da; und bettete ich mir im Scheol: Siehe, du bist da. Nähme ich Flügel der Morgenröte, ließe ich mich nieder am äußersten Ende des Meeres, auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich fassen“ (Ps 139,8-10).

Was aber wären die Folgen dieses Ungehorsams, wenn nicht der Herr den widerstrebenden Diener auf dessen eigenen Wegen aufhielte? Ihm, der das Meer und das Trockene machte, steht alles zu Gebot. „Da warf der HERR einen heftigen Wind auf das Meer, und es entstand ein großer Sturm auf dem Meer, so dass das Schiff zu zerbrechen drohte“ (Jona 1,4). Wunderbare Weisheit Gottes, in der Er sich seiner Macht bedient, um einen Menschen, eins seiner Kinder, in seinem Lauf aufzuhalten und zum Nachdenken zu bringen. Lieber Leser! Hast du nicht auch schon Gelegenheit gehabt, die Stimme des Herrn in irgendeinem Ereignis zu vernehmen, womit Er dich oder die Deinen heimsucht?

Hiskia, von einer Krankheit befallen, „wandte sein Angesicht zur Wand und betete zu dem HERRN“ (2Kön 20,2). Er erkannte, dass der Herr ihm etwas zu sagen hatte. Wie nützlich ist es, wenn der Mensch auf die Stimme Gottes achtet: „Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang“ (Spr 9,10). Auch die Seeleute, obwohl sie Heiden waren, erkannten die Sprache Gottes; sie bemerkten sofort, dass es ein außergewöhnlicher, unerwarteter Sturm war, der das Meer bis in seine Tiefen aufwühlte. Wer in diesem oder jenem Geschehen einen Zufall sieht, obwohl er die Stimme Gottes hätte erkennen können, sollte nicht blinder, nicht empfindungsloser sein als diese Seeleute; „sie fürchteten sich und schrien, ein jeglicher zu seinem Gott“ (Jona 1,5).

Die Macht Gottes wirkte nachhaltig auf das Gewissen dieser Menschen, die, obwohl sie den wahren Gott nicht kannten, doch fühlten, dass das armselige Geschöpf aus Staub gar nichts jenem Wesen gegenüber ist, das in diesem Augenblick seine Macht kundtat. Nur Jona „war in tiefen Schlaf gesunken“ (Jona 1,5). Je mehr das Herz in den eigenen Wegen verstrickt ist, desto empfindungsloser ist das Gewissen. Während der Sturm tobt, das Meer wütet, befindet sich Jona im unteren Schiffsraum und schläft, als ob ihn seine eigenen Wege, sein Ungehorsam gegen Gott überhaupt nicht beunruhige. Er gehörte zwar dem auserwählten, geliebten Volke Gottes an, so dass er sagen konnte: „Ich bin ein Hebräer, und ich fürchte den Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht hat“ (Jona 1,9); aber sein Herz war nicht in Gemeinschaft mit diesem Gott. Deshalb hatten die Seeleute mehr Ehrfurcht als er; sie standen unter dem Eindruck, dass der Gott der Hebräer ein mächtiger Gott sei und sie zu verderben vermöge, und sie riefen aus: „Ach, HERR, lass uns doch nicht umkommen um der Seele dieses Mannes willen, und lege nicht unschuldiges Blut auf uns! Denn du, HERR, hast getan, wie es dir gefallen hat“ (Jona 1,14).

Wie beschämend für Jona, solche Worte von den Heiden hören zu müssen! Wie viel beschämender aber für Christen, wenn sie Gott nicht kennen! Der Apostel musste den Korinthern schreiben: „Werdet rechtschaffen nüchtern und sündiget nicht; denn etliche sind in Unwissenheit über Gott; zur Beschämung sage ich es euch“ (1Kor 15,34).

Aber wie treu und gnädig ist der Herr! Seine Absichten über die Stadt Ninive gibt Er nicht auf, und Jona soll – ihm und uns zur Lehre – dazu als Werkzeug dienen. Kaum war der Prophet ins Meer geworfen, so „ließ das Meer ab von seinem Wüten“ (Jona 1,15). Den Zweck, den widerstrebenden Diener aufzuhalten, hatte der HERR erreicht; darum war der große Meeressturm nicht mehr nötig.

Kapitel 2

Aber Er hatte, wie bereits bemerkt, noch einen anderen Zweck, und alle Mittel stehen Ihm zu Gebote. „Er macht seine Engel zu Winden und seine Diener zu flammendem Feuer“ (Ps 104,4). Ihm ist nichts zu groß, aber auch nichts zu klein, wenn Er seine Absichten ausführen will, und wir wissen, dass seine Absichten mit den Seinen auf Liebe und Gnade gegründet sind. Alles muss Ihm dienen; alle Umstände gestaltet Er mit mächtigem Arm. Schon hatte Er „einen großen Fisch bestellt, um Jona zu verschlingen“ (Jona 2,1). Wie anbetungswürdig ist Gott in seiner Weisheit, in seiner Güte, in seinen Führungen! Wie lächerlich ist dagegen die Torheit des Menschen, diese Weisheit und Macht Gottes in den Beurteilungskreis einer winzigen Vernunft herabziehen oder alles einem gewissen „Zufall“ zuschreiben zu wollen! Es scheint, als ob Jona nun im Bauch des Fisches zur Einsicht komme; denn er demütigt sich und fängt an, zu dem HERRN, seinem Gott, zu beten; aber wie sich bald zeigen wird, ist diese Einsicht nur von vorübergehender Dauer. Wie oft müssen doch selbst Kinder Gottes durch Züchtigung, ja durch Gerichte gehen, ehe sie ihre wahre Stellung der Abhängigkeit vor Gott einnehmen und demgemäß wandeln. Auch Petrus musste die völlige Kraftlosigkeit des Fleisches durch Demütigung erkennen lernen. Wie gern würde unser Gott uns solche Erfahrungen ersparen; aber sie sind nötig, weil wir uns leider nur zu oft als ungehorsame Kinder betragen, und „wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Wenn ihr aber ohne Züchtigung seid, welcher alle teilhaftig geworden sind, so seid ihr denn Bastarde und nicht Söhne“ (Heb 12,7.8).

Jona demütigt sich also, und es ist rührend, in seinem Gebet wahrzunehmen, welche geziemende Haltung er Gott gegenüber einnimmt. Wo wahre Demut vorhanden ist, entwickelt sich Zutrauen und Zuversicht zu Gott. „Ich rief aus meiner Bedrängnis zu dem HERRN, und er antwortete mir; ich schrie aus dem Schoße des Scheols, du hörtest meine Stimme“ (Jona 2,3). So finden sich auf der einen Seite das vollkommene Bekenntnis des Elends und der wohlverdienten Züchtigung und auf der anderen Seite das in den Herrn gesetzte Vertrauen, dass Er ihn retten werde. „Und ich sprach: Ich bin verstoßen aus deinen Augen; dennoch werde ich wieder hinschauen nach deinem heiligen Tempel“ (Jona 2,5). Die Frucht hiervon ist das Lob: „Ich werde dir opfern mit der Stimme des Lobes; was ich gelobt habe, werde ich bezahlen. Bei Jehova ist die Rettung“ (Jona 2,10). Dieses Gebet zeigt eine auffallende Ähnlichkeit mit der Sprache eines großen Teiles der Psalmen. Und besonders der Psalmen, insoweit sie sich mit dem leidenden Überrest Israels befassen wie er, unter dem Gericht Gottes stehend, seine Sünden bekennt, aber auch seine Zuversicht zu Gott ausspricht. 

Vor allem liefern uns die beiden ersten Teile dieser Psalmen zahlreiche Beispiele (vgl. Ps 18,4.5.22; 30; 55; 57; 69). Aber gerade dort finden wir den leidenden Messias in Verbindung mit Israel, und es ist sehr beachtlich, wie der Herr Jesus angesichts der Ihn verwerfenden Juden auf Jona hinweist, indem Er sagt: „Denn gleichwie Jonas drei Tage und drei Nächte in dem Bauch des großen Fisches war, also wird der Sohn des Menschen drei Tage und drei Nächte in dem Herzen der Erde sein“ (Mt 12,40). Die Juden stießen das Heil, das in der Person Jesu unter ihnen war, von sich; aus diesem Grund wurde es nun den Nationen verkündigt, und das geschah nach dem Tod und der Auferstehung Jesu. Es wird hierzu auf Johannes 12 verwiesen, wo die Griechen Jesus zu sehen wünschten. Der Herr beantwortet dieses Begehren mit den Worten: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht“ (Joh 12,24). Der Tod Jesu beseitigte alle Schranken; und seine Erhöhung ans Kreuz machte es möglich, dass alle – nicht nur die Juden, sondern auch die Nationen – zu Ihm gezogen wurden (Joh 12,32.35). „Denn durch Ihn haben wir beide (Juden und Nationen) Zugang durch einen Geist zu dem Vater“ (Eph 2,18). Durch den Tod Jesu wurde nicht nur die Sünde hinweggetan, sondern auch der Vorhang zerrissen und der Weg zu Gott gebahnt; und bezeichnenderweise war es ein heidnischer Hauptmann, der als Erster nach dem Tod Jesu das Zeugnis ablegte: „Wahrhaftig, dieser war Gottes Sohn.“ Zudem gab der Herr seinen Jüngern nach seiner Auferstehung den Befehl: „Geht hin und macht alle Nationen zu Jüngern“ (Mt 28,19). Auch sprach Er: „Also steht geschrieben, und also musste der Christus leiden und am dritten Tage auferstehen aus den Toten und in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden gepredigt werden allen Nationen, anfangend von Jerusalem“ (Lk 24,46.47).

Kapitel 3

So ist Jona in dieser Beziehung ein bemerkenswertes Vorbild von dem Herrn, und zwar gerade dort, wo er, durch die dazwischentretende Gnade in seinem eigenen Wege aufgehalten, das Gericht, aber auch die Rettung des HERRN erfahren durfte. Jetzt, nachdem der Fisch ihn ans Land gespien hat, zeigt er sich nach wiederholtem Befehl des HERRN willig, in Ninive zu predigen. „Da machte sich Jona auf und ging nach Ninive nach dem Worte des HERRN“ (Jona 3,3) und rief dort aus: „Noch vierzig Tage, so ist Ninive umgekehrt“ (Jona 3,4). Wie gewaltig war die Wirkung dieses Ausrufs! „Die Leute von Ninive glaubten Gott“, und sie demütigten sich „von ihrem Größten bis zu ihrem Kleinsten“, vom König bis zu den geringsten Untertanen; ja selbst die Tiere mussten die Zeichen der Demütigung und der Trauer zur Schau tragen (Jona 3,5-8).

Wie ernst, wie eindringlich, wie bezeichnend waren die Worte des Herrn Jesus, als Er seinem Volk die Wirkung der Predigt Jonas vorhalten musste; denn mehr als Jona war unter ihnen, und dennoch taten sie keine Buße (Mt 12,41)! Ja wirklich, mehr als Jona war in der Mitte des Volkes, Gott selbst, der HERR, befand sich in Israel. Welch eine Heimsuchung! Wie ernst, von Ihm selbst zur Buße aufgefordert zu werden! Wir verstehen einigermaßen die unter Tränen ausgerufenen Worte des Herrn: „Wenn auch du erkannt hättest, und selbst an diesem deinen Tage, was zu deinem Frieden dient! Jetzt aber ist es vor deinen Augen verborgen“ (Lk 19,42). „Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt“ (Mt 23,37).

Die Bewohner von Ninive bekehrten sich von ihren bösen Wegen „und Gott ließ sich des Übels gereuen, wovon er geredet hatte, dass er es ihnen tun wolle, und er tat es nicht“ (Jona 3,10). Mein teurer Leser! Solltest auch du um die Rettung deiner Seele bekümmert sein, aber ohne die Gewissheit der Vergebung deiner Sünden deinen Weg fortsetzen, weil du an dem Erbarmen Gottes für dich zweifelst und nicht wagst, Ihm mit Zutrauen zu nahen – siehe, hier das Erbarmen Gottes gegen die große Stadt Ninive! Sollte Er nicht auch gegen dich barmherzig sein, da Er seinen vielgeliebten Sohn für verlorene Sünder – gerade solche, wie du einer bist – hingegeben hat? Fasse doch Zutrauen zu Ihm, der sein Liebstes für dich in den Tod gab. „Das Wort ist gewiss und aller Annahme wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder zu erretten“ (1Tim 1,15). Und wenn du kommst, gerade so, wie du bist, so wird dein Glaube die Erfahrung machen, dass das Wort Gottes Wahrheit ist, und mit allen Miterlösten wirst du die Gnade Gottes in Christus Jesus rühmen können. „Wo aber die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überschwänglicher geworden“ (Röm 5,20). Wie das Wort des barmherzigen Gottes an Jona erging, dass er wider Ninive zeugen sollte, so ist es auch jetzt noch die Gnade, die dem Menschen sein Elend, sein Verderben, aber auch die Vollgültigkeit des Opfers Christi offenbart.

Es heißt in einem Lied: „Die Gnade führt von bösen Wegen den Sünder, den verlornen, aus, die Liebe eilt ihm froh entgegen, als kam der einzge Sohn nach Haus.“

Die Leute zu Ninive verachteten das Wort Gottes nicht, sie vermischten vielmehr das Wort mit dem Glauben, und darum nützte es ihnen. Sie machten es nicht wie jene, die wegen ihres Unglaubens nicht in seine Ruhe eingehen konnten (Heb 3,18–4,4), und wie leider viele unter denen, die sich Christen nennen und dem Gericht entgegeneilen (Jud 3-19)! Möchten doch noch viele gleich den Niniviten ihr Ohr öffnen, ehe es zu spät ist!

Kapitel 4

Doch welch eine Wirkung übte die Buße so vieler Sünder auf das Herz des Propheten aus? Freute er sich, wie sich die Engel Gottes freuen über einen Sünder, der Buße tut? Keineswegs. Wie schrecklich ist doch die Härte eines selbstsüchtigen Herzens! „Und es verdross Jona sehr, und er wurde zornig“ (Jona 4,1). Die Erfahrung seiner Rettung aus dem Bauch des Fisches ist vergessen; er ist sogar trotzig geworden. Der arme Mann fühlt sich tief gekränkt, dass seine Drohungen nicht erfüllt worden sind. Er hat eine hohe Meinung von sich selbst; und darum sieht er seine Ehre, sein Ansehen angetastet; und das tut ihm weh. Beachten wir es wohl, dass selbst so wunderbare Erfahrungen ihre Wirkung auf das Herz des Menschen verfehlen, wenn die Gemeinschaft mit Gott vernachlässigt worden ist. Nur in dieser Gemeinschaft hat das Fleisch keinen Raum; dort gilt es, die Schuhe auszuziehen und das „Ich“ im Tod zu halten, und nur wo dieses „Töten der Glieder“ stattfindet, kann Gemeinschaft mit Gott und Freude sein. Das fehlte bei Jona. Wohl war er vom Tod gerettet, gleichsam gestorben und auferstanden; aber er wandte das nicht praktisch auf sich an.

Der Apostel ermahnt die Christen: „Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt seid, so sucht, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnt auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist; denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott … Tötet nun eure Glieder, die auf der Erde sind“ (Kol 3,1-3). Wo dieses Gestorbensein nicht verwirklicht wird, wo diese Beschneidung nicht praktisch im Wandel angewendet wird, da kann keine Gemeinschaft mit Gott existieren, und die noch so mächtigen Erfahrungen der Hilfe und des Segens Gottes lassen das Herz unberührt. Das aber ist nicht so selten, wie man vielleicht denkt. Betrachten wir einen Augenblick Josua! Er ging mit Israel durch den Jordan; die Mauern Jerichos fielen vor seinen Augen, und alles schien gut zu gehen. Aber wie kam es, dass er angesichts des Missgeschicks bei Ai, der kleinen Stadt, so verzagt war? Er hatte vergessen, vorher nach Gilgal, dem Ort der Beschneidung zu gehen! Anstatt dass die Erfahrung der Macht des HERRN bei Jericho das Herz Josuas und des Volkes in Demut erhalten hätte, vertrauten sie auf ihre eigene Kraft und mussten die traurigen Früchte davon genießen. „Ach Herr, HERR! Warum hast du denn dieses Volk über den Jordan ziehen lassen, um uns in die Hand der Amoriter zu geben, um uns zugrunde zu richten? Oh, hätten wir es uns doch gefallen lassen und wären jenseits des Jordan geblieben! Bitte, Herr, was soll ich sagen, nachdem Israel vor seinen Feinden den Rücken gekehrt hat“ (Jos 7,7-9). Es war Sünde unter ihnen, und bevor diese nicht gerichtet war, konnte Gott nicht mit dem Volk sein.

Selbst bei den Jüngern des Herrn sehen wir die Härte des Herzens bei allen Erfahrungen der Macht Gottes. Vor ihren Augen hatte der Herr 5000 Männer mit fünf Broten und zwei Fischen gespeist. Obwohl sie so Zeugen der Macht ihres Herrn und Meisters wurden, waren ihre Herzen doch unverständig geblieben; denn sobald der Wind ihnen entgegen war, zeigten sie sich voller Furcht, hatten alles vergessen (Mk 6,30-52). So erinnerte sich auch Jonas nicht mehr an die Errettung aus dem Bauch des Fisches; er zeigte sich sehr erzürnt und erkühnt sich, dem Herrn vorzuhalten: „Ach, HERR! War das nicht mein Wort, als ich noch in meinem Lande war? Darum kam ich dir zuvor, indem ich nach Tarsis entfloh; denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte, und der sich des Übels gereuen lässt. Und nun, HERR, nimm doch meine Seele von mir; denn es ist besser, dass ich sterbe, als dass ich lebe“ (Jona 4,2.3).

Wie niederträchtig ist doch das arme Herz des Menschen, wenn es an seiner Ehre angegriffen wird, und – wir haben kein anderes! Selbst bei bevorzugten Dienern Gottes wie Elias begegnen wir leider diesem Zug des trotzigen und verzagten Herzens. Nachdem er in der Kraft Gottes Großes vollbracht hatte, floh er vor Isabel „um seiner Seele willen“. Darum musste ihm der Herr zeigen, dass Er außer ihm noch viele Werkzeuge besitze. „Gehe, kehre zurück deines Weges nach der Wüste von Damaskus, und gehe hinein und salbe Hasael zum König über Syrien. Und Jehu, den Sohn Nimsis, sollst du zum König über Israel salben, und Elisa, den Sohn Saphats, von Abel-Mehola, sollst du zum Propheten salben an deiner statt … Aber ich habe in Israel siebentausend übriggelassen, alle die Knie, die sich nicht vor dem Baal gebeugt haben, und jeden Mund, der ihn nicht geküsst hat“ (1Kön 19,15-19).

Wie niederdrückend, wenn Kinder Gottes, das arme Herz, das „Ich“, in den Vordergrund stellen. Wenn es nicht nach unseren Wünschen geht, wenn nicht eintrifft, was wir voraussagten – wie niedergeschlagen fühlen wir uns dann! Wie bald sind unsere Geduld, unsere Langmut, unsere Liebe der Welt oder anderen Kindern Gottes gegenüber oft in kleinen Dingen erschöpft! Der Herr gebe es, dass wir, die wir mit Recht das Benehmen Jonas verurteilen, auch uns selbst im Licht Gottes richten!

Doch der Herr ist nicht nur der Welt gegenüber voll Langmut, sondern Er behandelt und belehrt auch die Seinen mit unendlicher Geduld und Treue. „Und Gott der HERR bestellte einen Wunderbaum und ließ ihn über Jona emporwachsen, damit Schatten über seinem Haupt wäre, um ihn von seinem Missmut zu befreien; und Jona freute sich über den Wunderbaum mit großer Freude“ (Jona 4,6). Es ist das selbstsüchtige Herz Jonas, das sich freut, wenn es Ihm selbst wohl geht, das aber mit Verdruss erfüllt ist, wenn eine große Stadt mit „mehr als hundertundzwanzigtausend Menschen und vielem Vieh“ (Jona 4,11) vor dem Untergang bewahrt bleibt. Diese Selbstsucht muss der Herr strafen, und deshalb „bestellte er einen Wurm …, dieser stach den Wunderbaum, dass er verdorrte“ (Jona 4,7). Gott bedient sich nicht nur großer Erscheinungen wie des Sturmes und des Fisches; sondern Er weiß sogar einen kleinen Wurm in seinen Dienst zu stellen. Es ist für uns ein großer Trost zu wissen, dass nichts von ungefähr kommt, dass selbst die Haare auf dem Haupt alle gezählt sind und dass kein Sperling auf die Erde fällt ohne den Willen des Vaters. Wir dürfen alles aus der guten Hand unseres Gottes und Vaters annehmen; denn Er leitet alles, und zwar zu unserem Besten. „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken, denen, die nach Vorsatz berufen sind“ (Röm 8,28).

Doch Jona versteht die Absicht, den Endzweck des Herrn nicht, denn als Gott einen schwülen Ostwind bestellte und die Sonne Jona aufs Haupt stach, ermattete er und wünschte sich den Tod. „Es ist besser zu sterben, als dass ich lebe“ (Jona 4,8). Kaum sollte man es glauben, dass ein Diener so mit dem Herrn reden dürfte, ohne sofort bestraft zu werden. Denn Jona zürnt nicht nur, nein er erkühnt sich sogar zu sagen: „Mit Recht zürne ich bis zum Tode“ (Jona 4,9). Welche Herablassung Gottes! Welche Größe an Langmut, an unendlicher, nie zu erschöpfender Liebe! Er belehrt den murrenden Propheten, dass, wenn Jona sich des Wunderbaumes erbarme, um den er sich doch nicht gemüht habe, Er, Gott, sich vielmehr über die große Stadt Ninive erbarmen müsse, in der mehr als hundertundzwanzigtausend Menschen seien, die zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken nicht zu unterscheiden vermochten, und viel Vieh! 

Wie unendlich reich ist die Gnade Gottes! In ihrer Vollkommenheit wird sie in Jesu geschaut. Obwohl Israel seine Knechte und Propheten verachtet, misshandelt und getötet hatte, sandte Er ihnen dennoch seinen eigenen vielgeliebten Sohn. Und mit welcher Sorgfalt und unermüdlicher Liebe suchte Jesus die verirrten Schafe Israels? Ja, in der Tat, Jesus konnte und durfte sagen: „Hier ist mehr als Jona.“ Wie pflegte und bedüngte Er den Feigenbaum Israels, um Frucht zu gewinnen! Er wurde niemals müde, das hilflose Volk durch Lockungen der Gnade zu sich zu ziehen. Aber sie verwarfen Ihn. Und noch am Kreuz flehte Er: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“ Jetzt, sollte man glauben, sei so viel Gnade angeboten worden, dass das Gericht folgen müsse. Aber nein, nach seiner Auferstehung lässt Er, „anfangend von Jerusalem“, Buße und Vergebung der Sünden verkündigen. Und erst nachdem sie auch das Zeugnis des Heiligen Geistes verworfen haben, tritt etwa vierzig Jahre nach dem Tod Jesu das Gericht ein: Jerusalem wird zerstört.

Jona teilte mit seinem Volk dessen Herzenshärte. Ein Baum als Schirm gegen die Sonnenstrahlen hatte in seinen Augen größeren Wert als die Rettung der großen Stadt Ninive. Er missgönnte den Niniviten die Barmherzigkeit des Herrn und hätte mit Ergötzen von seiner „Hütte“ aus den Untergang der Stadt angesehen.

Wie unwillig schauten auch die Juden, an ihrer Spitze die Pharisäer – diese Männer der Religion –, auf die Zöllner und Sünder in ihrer Gemeinschaft mit Jesus! Im Gleichnis „vom verlorenen Sohn“ kennzeichnet der Herr auf eine treffende, aber äußerst schonende Weise diese Selbstsucht der Pharisäer in dem Bild des ältesten Sohnes (Lk 15,25-32). Nicht nur wollten sie die Gnade Gottes für sich selbst nicht, sondern wehrten auch anderen, diese zu erlangen. Was für einen fortwährenden Kampf hatte zum Beispiel Paulus, dieser treue Diener des Herrn, mit den Juden, die ihn sogar verfolgten und ihm wehrten, den Nationen das Evangelium zu verkündigen (vgl. Apg 13,45; 14,2.19; 17,5; 18,6; 25,24; 1Thes 2,15.16). Aber wie herrlich und ermunternd ist es, diesen unermüdlichen Arbeiter zu beobachten! Er lässt sich nicht einschüchtern, und immer wieder, wohin er auch kommt, sucht er zuerst die Juden und dann die von den Nationen auf, um ihnen das Heil nahezubringen. Er offenbart eine ganz andere Gesinnung als Jona; er weiß, dass alle vor dem Richterstuhl Gottes offenbar werden müssen, und, den Schrecken des Herrn kennend, „überredet er die Menschen“. Er ist Gesandter für Christus, und er bittet an Christi Statt: „Lasst euch versöhnen mit Gott“ (2Kor 5). Er hat Christus erkannt und wünscht Ihn noch mehr zu erkennen. Er flieht nicht wie Jona vor dem Herrn, sondern sagt: „Eins aber tue ich: Vergessend, was dahinten, und mich ausstreckend nach dem, was vorn ist, jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus“ (Phil 3,13.14).

Der Herr gebe, dass sein Wort, das nütze ist zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung“ (2Tim 3,16.17), uns in alle Dinge leite! „Wer aber in das vollkommene Gesetz, das der Freiheit, nahe hineingeschaut hat und darin bleibt, indem er nicht ein vergesslicher Hörer, sondern ein Täter des Werkes ist, dieser wird glückselig sein in seinem Tun“ (Jak 1,25). Möge Er die Seinen immer mehr zubereiten. Seine Gesinnung – die Gesinnung der Gnade – in einer Welt zu offenbaren, die dem Gericht entgegeneilt; möge Er uns während unseres Pilgerlaufs die Gnade schenken, dass wir stets in völligem Vertrauen auf Ihn schauen, der Sturm und Fisch, Wunderbaum und Wurm, ja alles für das Wohl und die Erziehung der Seinen in seiner gesegneten Vaterhand zur Verfügung hat!

Ja, Du sorgest ohn Ermüden
Für uns alle Tag und Nacht;
Wir sind nie vewaist hienieden,
Vatertreu uns stets bewacht.
Deiner Liebe ist allein
Nichts zu groß und nichts zu klein,
Wo wir gehen, wo wir stehen,
Können Deine Lieb nur sehen.


Originaltitel: „Jona“ aus Botschafter des Heils in Christo, 1873, S. 146–163
von der Redaktion sprachlich leicht angepasst


Hinweis der Redaktion:

Die SoundWords-Redaktion ist für die Veröffentlichung des obenstehenden Artikels verantwortlich. Sie ist dadurch nicht notwendigerweise mit allen geäußerten Gedanken des Autors einverstanden (ausgenommen natürlich Artikel der Redaktion) noch möchte sie auf alle Gedanken und Praktiken verweisen, die der Autor an anderer Stelle vertritt. „Prüft aber alles, das Gute haltet fest“ (1Thes 5,21). – Siehe auch „In eigener Sache ...

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