Die Textgrundlage des Neuen Testaments (13)
Anhang 4: Einige kommentierte Stellen, bei denen die Elberfelder 2003 und der Nestle-Aland-Text vom Textus Receptus abweichen

Martin Arhelger

© M. Arhelger, online seit: 09.10.2006, aktualisiert: 17.11.2022

In diesem Anhang sollen einige Stellen besprochen werden, bei denen sich der Textus Receptus vom Nestle-Aland-Text unterscheidet, und wo es gute Gründe gibt, den Textus Receptus nicht als ursprünglich zu betrachten. Dabei wurden bevorzugt solche Stellen ausgewählt, die auch von Lesern beurteilt werden können, die keine Kenntnisse des Griechischen haben.

In Matthäus 6,13 fügt der Textus Receptus hinter das sogenannte „Vaterunser“ noch eine Schlussformel ein: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.“ Hier liegt wohl ein Versuch vor, dem Gebet des Herrn einen feierlicheren Klang zu geben und mit einem „Amen“ zu beenden. Die Worte sind anscheinend in Anlehnung an 1. Chronika 29,11-13 formuliert worden.

In Matthäus 6,18 wird dem, der fastet, verheißen: „Dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird es dir vergelten.“ Der Textus Receptus fügt am Versende noch das Wort „öffentlich“ hinzu, das anscheinend ein Gegensatzpaar (im Verborgenen/öffentlich) herstellen soll. Aber die Ergänzung ist nicht nur überflüssig, sondern auch sinnverflachend, denn Gott kann auch im Verborgenen vergelten. Der Gegensatz ist nicht „im Verborgenen“  /„öffentlich“, sondern „vor Gott“ / „vor Menschen“.

In Matthäus 8,14.15 wird die Krankenheilung der Schwiegermutter von Petrus durch den Herrn Jesus beschrieben. Am Schluss heißt es, sie „diente ihm“. Der Textus Receptus liest jedoch „diente ihnen“, also den Jüngern und dem Herrn. Sachlich ist sicherlich beides wahr, wie die Parallelstellen (Mk 1,31 und Lk 4,39) beweisen. Anders als bei Markus und Lukas stellt Matthäus aber besonders oft die Hoheit und Würde des Messias-Königs Jesus Christus vor, und stellt Seine Jünger hinter Ihm zurück. „Ihm“ ist hier also viel passender als „ihnen“.

Matthäus 21,12 sagt: „Jesus trat in den Tempel ein.“ Der Textus Receptus macht dabei aus dem „Tempel“ einen „Tempel Gottes“, was auf den ersten Blick eine richtige und feierliche Ergänzung zu sein scheint. Aber es ist bedeutsam, dass der Tempel hier eben nicht mehr als „Tempel Gottes“ bezeichnet wird, weil er längst den Charakter und die Gegenwart Gottes verloren hatte, wie der Herr Jesus Selbst kurz darauf sagen muss, vgl. Matthäus 21,13; 23,38. Wie so oft beim Textus Receptus stellt sich eine zweifellos gutgemeinte Erweiterung beim näheren Hinsehen als unpassend heraus.

In Matthäus 25,13 liest der Textus Receptus: „So wacht nun, denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde, in der der Sohn des Menschen kommt.“ Der Satzteil „in der der Sohn des Menschen kommt“ fehlt jedoch in den ältesten Handschriften. Diese Ermahnung zum Wachen bildet den Abschluss des Gleichnisses von den zehn Jungfrauen (Mt 25,1-13). Die Jungfrauen sind ein Bild christlicher Bekenner. Christen erwarten aber nicht das Kommen des Sohnes des Menschen. Denn dieser Ausdruck bezieht sich auf Sein Kommen auf diese Erde, um Sein Königreich aufzurichten. Der Herr wird hier nicht als Sohn des Menschen, sondern als Bräutigam gesehen. Andererseits ist es verständlich, dass ein Abschreiber leicht die Worte „in der der Sohn des Menschen kommt“ hier einfügen konnte, denn ähnliche Formulierungen kommen bei Matthäus öfter vor (Mt 24,44; 25,31).

In Markus 1,1 steht in fast allen älteren Handschriften: „wie geschrieben steht in Jesaja, dem Propheten“. Jüngere Handschriften haben jedoch oft: „wie geschrieben steht in den Propheten“. Wer bei Markus nachliest, wird feststellen, dass nach diesen Worten nicht nur aus Jesaja, sondern auch aus Maleachi zitiert wird. Auf den ersten Blick scheint also die Lesart der jüngeren Handschriften genauer zu sein.

Wer jedoch das Neue Testament genau studiert, stellt fest, dass dort oft zwei Zitate miteinander verbunden werden, als ob sie von einer Stelle stammen würden. Beispiele dafür sind: Matthäus 2,5.6 (Mich 5,1.3 und 2Sam 5,2), Matthäus 21,5 (Jes 62,11 und Sach 9,9), Matthäus 27,9 (Jer 18,2.3 und Sach 11,12.13). In solchen Fällen wurde manchmal nur einer der beiden Propheten erwähnt. Im vorliegenden Fall wurde wohl bewusst nur Jesaja erwähnt, denn das Kapitel, das dieses Zitat enthält, war ein ausgesprochenes Trostkapitel und damit eine würdige Einführung des Evangeliums, der guten Botschaft. Maleachi hingegen erwähnt im zitierten Abschnitt nur das Gericht. Übrigens kommen die Worte „in den Propheten“ sonst nie bei Markus vor und dort, wo sie noch im Neuen Testament verwendet werden, bilden sie nie die Einleitung für zwei Zitate, sondern immer nur für eines (Joh 6,45; Apg 13,40).

Man sieht also, dass die Lesart „in den Propheten“ der Versuch ist, eine scheinbare Ungenauigkeit zu verbessern. Wäre die Lesart „in den Propheten“ ursprünglich, könnte man nicht befriedigend erklären, wie es zu der Lesart „in Jesaja, dem Propheten“ gekommen sein sollte, denn welcher christliche Schreiber würde eine solche Änderung vorgenommen haben?

In Markus 15,28 lesen jüngere Handschriften (und auch der Textus Receptus): „Und die Schrift wurde erfüllt, die sagt: ,Und er ist unter die Gesetzlosen gerechnet worden.‘“ Dieser sachlich zweifellos richtige Satz, der sich auch noch in früheren Ausgaben der Elberfelder Bibel findet, ist aber in den älteren Handschriften schlecht bezeugt. Ein Ausleger schreibt dazu: „Ich denke nicht, dass ein vorsichtiger Verstand die Echtheit dieser Worte behaupten kann. Sie wurden wahrscheinlich aus den Parallelstellen in Jesaja 53,12 und Lukas 22,37 entlehnt.“[1]

In Lukas 2,33 steht in fast allen älteren Handschriften: „und sein Vater und (seine) Mutter“. Jüngere Handschriften haben jedoch meist: „und Joseph und (seine) Mutter“. An solchen Stellen kann man deutlich eine spätere Bearbeitung des Textes erkennen: Offensichtlich hielten einige Abschreiber es nicht für zulässig, Joseph als den „Vater“ von Jesus zu bezeichnen, weil Christus vom Heiligen Geist gezeugt war. In Wirklichkeit war so eine Änderung nicht notwendig, und gerade im Lukasevangelium ist der Ausdruck „Vater“ so passend, denn er zeigt bewusst die vollkommene Menschheit des Herrn. „Vater“ meint dann einfach „Ziehvater“ und nicht „Vater“ im biologischen Sinn. Übrigens haben auch in Lukas 2,48 einige wenige Handschriften das vermeintlich anstößige „dein Vater“ ändern wollen, aber diese Lesart ist so schlecht bezeugt, dass niemand sie ernsthaft verteidigt. Auch in Lukas 2,43 lesen viele Handschriften nicht „seine Eltern“, sondern „Joseph und seine Mutter“.[2]

In Lukas 4,8 fügt der Textus Receptus vor der Antwort des Herrn Jesus noch die Worte ein: „Geh hinter mich, Satan!“ Diese Ergänzung wurde, wie ein Ausleger schreibt, „aus Matthäus 16,23 entlehnt und mit Matthäus 4,10 verwechselt, wo ,geh hinweg, Satan‘ zu Recht steht. Aber in Lukas 4,8 wurden diese Worte weggelassen nach der Weisheit des Geistes, der Lukas inspirierte, die Versuchung an die zweite Stelle zu setzen, die tatsächlich die dritte Versuchung war. Diese Tatsache machte die Auslassung von Lukas notwendig, denn sonst hätten wir in Lukas den Fall, dass der Herr den Feind zum Weggehen auffordert, der Feind aber direkt danach einen weiteren Angriff startet.“[3] Dass Matthäus die historische Reihenfolge hat, sieht man auch daran, dass er die drei Versuchungen mit einem „dann“ (oder „danach“) weiterführt (Mt 4,11): Lukas hat nur ein „und“ (Lk 4,13), das nicht notwendig auf eine Zeitfolge hinweist.

In Johannes 6,69 legt der Apostel Petrus dem Herrn gegenüber das schöne Zeugnis ab: „Wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist.“ Der Textus Receptus liest allerdings nicht „der Heilige Gottes“, sondern „der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“. Beide Zeugnisse entsprechen ohne Zweifel der Wahrheit, aber die alten Handschriften favorisieren deutlich die Lesart „der Heilige Gottes“. Man versteht auch leicht, dass man dieses Bekenntnis leicht an das bekannte Petrus-Bekenntnis von Matthäus 16,16 (wo dieselben Worte stehen wie im Textus Receptus von Johannes 6,69) angleichen konnte. Umgekehrt ist nicht einzusehen, warum man die Worte „der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“, wenn sie in Johannes 6,69 echt wären, geändert haben sollte. Die Bezeichnung des Herrn Jesus als „der Heilige“ ist übrigens für den Schreiber Johannes kennzeichnend, vgl. Offenbarung 3,7 und besonders 1. Johannes 2,20, siehe auch Psalm 16,10 und Apostelgeschichte 2,27; 3,14.

In Johannes 7,8 sagt der Herr zu Seinen leiblichen Brüdern: „Ich gehe nicht hinauf zu diesem Fest.“ Allerdings ging der Herr dann einige Tage später doch zum Laubhüttenfest, allerdings wie im Verborgenen. Auf den ersten Blick scheinen die Worte des Herrn ungenau gewesen zu sein – und es wundert somit auch nicht, dass man den vermeintlichen „Fehler“ zu glätten suchte, indem man das Wort „noch“ einsetzte, so dass der Herr sagte: „Ich gehe noch nicht hinauf zu diesem Fest.“ Diese Lesart findet man in vielen jüngeren Handschriften. Es ist also sehr verständlich, dass man das Wort „noch“ eingefügt hat, aber völlig unverständlich, warum man es ausgelassen haben sollte, wenn es ursprünglich gewesen wäre. Einen wirklichen Widerspruch stellen die Worte des Herrn aber auch ohne das Wort „noch“ nicht dar, denn der Herr sagte ja nicht „ich gehe nie zu diesem Fest“, sondern nur „ich gehe nicht (d.h. jetzt nicht) hinauf zu diesem Fest“.[4]

In Apostelgeschichte 3,20 sagt Petrus zu dem Volk, Gott könne ihnen den „zuvorbestimmten“ Christus Jesus senden, wenn sie Buße täten. Der Textus Receptus liest statt „zuvorbestimmt“ (griechisch prokecheirismenon) jedoch „zuvor gepredigt“ (griechisch prokekärugmenon). Die Lesart „zuvor gepredigt“ scheint in griechischen Handschriften vor dem Textus Receptus nicht bezeugt zu sein: Alle bekannten alten und jungen griechischen Handschriften (also auch der Mehrheitstext) lesen „zuvorbestimmt“[5]. Aber auch inhaltlich ist der Textus Receptus hier schwer zu rechtfertigen, denn dass Jesus Christus ihnen zuvor gepredigt wurde, ist eine oberflächliche und selbstverständliche Aussage ohne Tiefe. Dass Er ihnen vorher verheißen wurde, ist eine wichtige und tiefgründige Wahrheit, die hier genau am Platz war. Petrus betont in seinen Reden und Briefen immer wieder den Ratschluss Gottes und Sein vorherbestimmendes Walten, siehe Apostelgeschichte 2,23; 4,28; 10,41; 1. Petrus 1,20; 2,8. Die tiefe Wahrheit von Gottes Ratschluss konnte leicht mit „zuvor gepredigt“ vertauscht werden – zumal die Worte im Griechischen ähnlich sind.

In Apostelgeschichte 8,37 fügen einige wenige spätere Handschriften auf die Frage des Kämmerers „Was hindert mich, getauft zu werden?“ noch einen Vers ein: „Philippus aber sprach: Wenn du von ganzem Herzen glaubst, so ist es erlaubt. Er aber antwortete und sprach: Ich glaube, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist.“ Die Worte sind jedoch handschriftlich so dünn und variantenreich bezeugt, dass sie unmöglich ursprünglich sein können. (Auch der Mehrheitstext hat diesen Vers nicht.) Sie finden sich allerdings schon recht früh in den lateinischen Übersetzungen und sind deshalb wahrscheinlich in einige griechische Handschriften und später in den Textus Receptus eingedrungen. Vielleicht stellt der Vers einen Versuch dar, eine alte kirchliche Taufformel des Täuflings nachträglich zu legitimieren. Da die Taufe in der Kirchengeschichte schon früh zu einem pompösen religiösen Akt wurde, konnte man leicht geneigt sein, die schlichte und einfache Art der Taufe durch Philippus etwas bereichern zu wollen und wenigstens noch eine Bekenntnisformel vom Täufling fordern. Im Zusammenhang des Verses geht es aber gar nicht darum, dass Jesus der Sohn Gottes ist, sondern darum, dass Er das Lamm Gottes ist, auf das sich Jesaja 53 bezieht.

In Apostelgeschichte 9,31 steht: „So hatte denn die Versammlung durch ganz Judäa und Galiläa und Samaria hin Frieden …“ Der Textus Receptus liest jedoch nicht „die Versammlung“, sondern „die Versammlungen“. Ein Ausleger schreibt zu diesen beiden Lesarten: „Die besten Handschriften und die ältesten Übersetzungen haben ,die Versammlung‘, nicht ,die Versammlungen‘. Ich gebe völlig zu, dass es Versammlungen in allen diesen Gebieten gab, aber darin liegt nichts Besonderes. Aber das, was der Heilige Geist nach meiner Überzeugung hier schrieb, war ,die Versammlung‘. Das Verständnis darüber wurde tatsächlich schon sehr früh verwirrt. Den Gedanken einer Versammlung als einer bestehenden Einheit auf der Erde verliert man leicht aus dem Blickfeld, besonders dann, wenn wir auf verschiedene Gebiete und Länder blicken, wie Judäa, Galiläa und Samaria.“[6]

In Römer 16,5 wird ein Gruß bestellt an einen gewissen „Epänetus“. Dabei wird hinzugefügt, dass er „der Erstling Asiens ist für Christus“. So jedenfalls lesen die alten Handschriften. Der Textus Receptus liest nicht „der Erstling Asiens“, sondern „der Erstling Achajas“. Aber diese Angabe steht im Widerspruch zu 1. Korinther 16,15, wo das Haus des Stephanas als „Erstling Achajas“ bezeichnet wird – es sei denn, man nimmt zu der Annahme Zuflucht, dass Epänetus zum Haus des Stephanas gehörte. Die alten Handschriften sprechen jedoch auch für die Lesart „Asiens“.

In Römer 8,1 lesen die alten Handschriften nur: „Also ist jetzt keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind.“ Spätere Handschriften fügen jedoch am Ende des Satzes hinzu „die nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln“. Dieser Zusatz ist sicherlich aus dem folgenden Vers 4 übernommen worden, denn dort stehen diese Worte ebenfalls (Röm 8,4). In Vers 1 sind sie aber störend, da nur ein bedingungsfreier Ausruf „also ist jetzt keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind“ die Folge des Dankes aus Römer 7,25 sein kann. Die hinzugefügten Worte dagegen bilden in Römer 8,1 eine einschränkende Bedingung, die diesen befreiten Ausruf zunichtemachen würde. In Vers 4 dagegen beschreiben diese Worte sehr passend eine Konsequenz des vorher Gesagten.

In 1. Korinther 7,17 lesen die alten Handschriften: „Doch wie der Herr einem jeden zugeteilt hat, wie Gott einen jeden berufen hat.“ Jüngere Handschriften enthalten einen ähnlichen Text. Lediglich die Wörter „Herr“ und „Gott“ sind vertauscht. Es handelt sich um keinen sehr schwerwiegenden Unterschied. Trotzdem zeigt eine genaue Prüfung, dass das Neue Testament, wenn es von „berufen“ oder „Berufung“ spricht, nie den „Herrn“ als eigentlichen Urheber nennt, sondern immer „Gott“ (Röm 11,29; 1Kor 1,1.9; 7,15; Gal 1,15; Phil 3,14; 1Thes 2,12; 4,7; 2Thes 2,13.14; Heb 5,4; 1Pet 5,10). Die Lesart der älteren Handschriften ist hier also erneut aus inhaltlichen Gründen vorzuziehen.

In 1. Korinther 7,39 steht: „Eine Frau ist gebunden, solange ihr Mann lebt.“ Der Textus Receptus fügt noch hinzu: „durchs Gesetz gebunden“. Die Kraft der Anweisungen des Apostels für die Gegenwart wird aber geschwächt, wenn man hier nur eine Wiederholung von Gesetzesvorschriften sieht. Spätestens der Nachsatz, dass die Witwe sich „im Herrn“ verheiraten soll, geht aber zweifellos über das Gesetz hinaus und ist die Grundlage der christlichen Verehelichung.

In 1. Korinther 11,24 fügt der Textus Receptus vor die bekannten Worte „Dies ist mein Leib …“ noch die Aufforderung „Nehmt, esst!“ hinzu. Aber obwohl der Herr diese Aufforderung tatsächlich gesprochen hatte (siehe Mt 26,26), wurde der Apostel Paulus doch göttlich geleitet, diese Worte hier auszulassen, um die Blicke der Korinther nicht so sehr auf ihre Vorrechte zu richten, sondern ihnen ihre Verantwortlichkeit und den Ernst der Handlung deutlicher vor Augen zu führen. Der stets auf Rituale und Formalismen bedachte Mensch wollte natürlich die „Einsetzungsformel“ in 1. Korinther 11 mit der aus Matthäus in Einklang bringen und erweiterte den Vers in 1. Korinther 11,24.

In 1. Korinther 15,47 steht: „Der erste Mensch ist von der Erde, von Staub; der zweite Mensch vom Himmel.“ Der Textus Receptus fügt in den zweiten Satzteil noch „der Herr“ ein. Sachlich ist das sicherlich eine richtige Ergänzung, denn der Herr Jesus ist zweifellos der Herr. Aber es fragt sich, ob die Tatsache, dass Er „Herr“ ist, wirklich in 1. Korinther 15,47 ausgedrückt werden sollte. In 1. Korinther 15 geht es um die Tatsache der Auferstehung und im Zusammenhang von Vers 47 darum, welchen Charakter dieser zweite Mensch trug. Er war „aus dem Himmel“, dies ist Sein Ursprung und dieser Ursprung steht im Gegensatz zu „von der Erde“. Er war der zweite Mensch, weil Er nicht (wie alle Menschen vor Ihm) nur eine „Reproduktion“ des ersten Menschen Adam war. Jesus war ein Mensch von einer ganz neuen Art: aus dem Himmel. Der Gedanke, dass Er auch der „Herr“ ist, gehört nicht hierher und schwächt die wuchtige Ausdrucksweise des Apostels Paulus nur ab. Es geht um das Gegensatzpaar „von (der) Erde“ und „vom Himmel“, nicht um die Frage, ob Er Herr ist oder nicht. Selbst wenn die Lesart „Herr“ hier ursprünglich wäre, sollte man diesen Gegensatz auch entsprechend übersetzten. Also nicht „der zweite Mensch ist der Herr vom Himmel“, sondern „der zweite Mensch, der Herr, ist vom Himmel“. Nur so kommt die eigentliche Betonung, die auf dem Ausdruck „aus dem Himmel“ liegt, hervor.

In 2. Korinther 5,17 gibt es zwei Lesarten, bei denen die Entscheidung schwerfällt. Die eine Fassung hat: „Wenn jemand in Christus ist, da ist eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ Die andere Lesart liest ebenso, hat jedoch im letzen Satzteil: „Siehe, alles ist neu geworden.“ Keine der beiden Lesarten kann beim näheren Hinsehen als falsch oder ungenau bezeichnet werden, denn je nachdem ob man von dem Mensch als Ganzes ausgeht oder den Blick nur auf die von Gott verliehene neue Natur legt, kann man sagen, dass „alles“ neu geworden ist, bzw. dass „Neues“ (d.h. im Blick darauf, dass vorher nur ein Menschen ohne Gott da war) geworden ist.

In Epheser 3,9 liest die große Mehrheit der alten und neuen Handschriften und alle alten Übersetzungen: „die Verwaltung des Geheimnisses“. Der Textus Receptus liest jedoch (mit sehr wenigen jüngeren Handschriften): „die Gemeinschaft des Geheimnisses“. Doch nicht nur die schwache Bezeugung, auch inhaltliche Erwägungen sprechen klar gegen die Lesart des Textus Receptus. „Gemeinschaft des Geheimnisses“ gibt keinen klaren Sinn, die „Verwaltung des Geheimnisses“ passt jedoch sehr gut in den ganzen Zusammenhang, denn eben hiervon spricht der Apostel im ersten Teil von Epheser 3.

In Epheser 5,9 lesen einige Handschriften: „die Frucht des Lichts“, andere Handschriften: „die Frucht des Geistes“. Die Stelle ist deshalb interessant, weil beide Lesarten sich schon in den ältesten Handschriften nachweisen lassen. Man kann eine Entscheidung also nur mit inhaltlichen Gründen treffen. Beim näheren Hinsehen wird deutlich: Nur die Lesart „Frucht des Lichts“ ist als Begründung („denn“) für den vorherigen Vers 8 passend („einst wart ihr Finsternis, jetzt aber seid ihr Licht in dem Herrn; wandelt als Kinder des Lichts“). Der Textus Receptus scheint eine Anpassung an Galater 5,22 zu sein, wo die „Frucht des Geistes“ erwähnt wird.

In Epheser 5,29 lesen die alten Handschriften, dass „Christus die Versammlung“ nährt und pflegt. Der Textus Receptus liest statt „Christus“ jedoch „der Herr“. Jesus Christus ist zwar der Herr, aber ob die Versammlung nun als Leib oder als Frau betrachtet wird – in keiner Verbindung wird Er als „Herr“ der Versammlung bezeichnet. Diese Bezeichnung wäre bei einer vertraulichen Beziehung wie Leib oder Braut auch sicherlich unpassend. Sie ist die „Versammlung Gottes“ und Christus ihr Haupt.

In Philipper 3,11 steht in den alten Handschriften wörtlich: „ob ich auf irgendeine Weise hingelangen möge zur Aus-Auferstehung aus den Toten“. Jüngere Handschriften haben hier jedoch nicht „Aus-Auferstehung aus den Toten“, sondern „Aus-Auferstehung der Toten“[7]. Aber Paulus begehrte, genau wie sein Herr, der aus den Toten auferstanden war, in gleicher Weise diese Kraft zu erleben und aus den Toten aufzuerstehen, während andere noch im Grab bleiben. Die „Auferstehung der Toten“ ist zwar an sich eine biblische Wahrheit, passt hier jedoch nicht in den Zusammenhang.

In Kolosser 1,14 wird eine wichtige Wahrheit über den Herrn Jesus ausgesagt, nämlich, dass wir in ihm „die Erlösung haben, die Vergebung der Sünden“. Der Textus Receptus sagt jedoch, dass wir in ihm „die Erlösung haben, durch sein Blut, die Vergebung der Sünden“. Die zusätzlichen Worte „durch sein Blut“ scheinen auf den ersten Blick gerechtfertigt zu sein. Es ist auch unbedingt wahr, dass die Erlösung durch Sein Blut geschah. Epheser 1,7 betont das ausdrücklich: „in dem wir die Erlösung haben durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen, nach dem Reichtum seiner Gnade“. Aber daraus folgt nicht, dass die Worte auch in Kolosser 1,14 genauso gelautet haben müssen. Es ist sogar wahrscheinlich, dass ein Abschreiber, der den Text von Epheser 1,7 gut kannte, die entsprechende Formulierung (ob versehentlich oder absichtlich) auch im ähnlich lautenden Kolosser 1,14 eingefügt hat. Welchen Grund sollte ein Abschreiber gehabt haben, die Worte „durch sein Blut“ in Kolosser 1,14 auszulassen, wenn sie wirklich dort echt wären?[8] Wer den Epheserbrief und den Kolosserbrief kennt, wird wissen, dass sie viele Ähnlichkeiten aufweisen, der Kolosserbrief aber mehr Gewicht auf Christus, das Haupt des Leibes, legt. Im Zusammenhang der Stelle soll gar nicht gesagt werden, wie wir diese Erlösung erlangt haben, denn der Schreiber eilt, um dem Leser die Person Christi selbst vorzuführen, deren Herrlichkeiten er in den Versen 15-19 in wunderbarer Weise entfaltet (Kol 1,15-19). Erst ab Vers 20 spricht er von dem Werk Christi und erwähnt dann auch das „Blut seines Kreuzes“ (Kol 1,20-23). Ergänzend sei noch bemerkt, dass die Zufügung „durch sein Blut“ in Kolosser 1,14 handschriftlich sehr schwach bezeugt ist und auch im Mehrheitstext fehlt.

2. Thessalonicher 2,2 spricht in allen alten Handschriften von dem „Tag des Herrn“. Die Mehrheit der jüngeren Handschriften und mit ihnen der Textus Receptus liest stattdessen „der Tag Christi“. Wer den biblischen Gebrauch beider Ausdrücke genauer untersucht, wird bald zur Erkenntnis kommen, dass sie nicht genau dasselbe bedeuten. „Der Tag des Herrn“ meint die Zeit, wenn der Herr im Gericht mit dieser Welt handeln wird, sei es mit Nationen an sich oder mit lebenden Menschen. Der „Tag (Jesu) Christi“ wird dagegen nie in Verbindung mit dem Gericht der Ungläubigen genannt, sondern in Verbindung mit der Bewährung der Gläubigen beim Kommen Christi (Phil 1,6.10; 2,16). In 2. Thessalonicher 2,2 passt deshalb nur der Ausdruck „Tag des Herrn“.

In 1. Timotheus 3,16 lesen die meisten alten Handschriften: „Er, der offenbart worden ist im Fleisch, ist gerechtfertigt im Geist …“, die meisten jüngeren Handschriften lesen jedoch: „Gott ist offenbart worden im Fleisch, gerechtfertigt im Geist …“ Dieser Vers ist zu einem wahren Schlachtfeld unterschiedlicher Meinungen über Textkritik geworden, indem solche, die die Lesart ohne das Wort „Gott“ für ursprünglich halten, nicht selten übelster Irrlehre bezichtigt werden. Beim näheren Hinsehen erweist sich eine Auseinandersetzung aber als wenig begründet. Dieser Vers handelt gar nicht vom Geheimnis der Gottheit, sondern vom „Geheimnis der Gottseligkeit“; hier soll gar keine Aussage über das Wesen des Sohnes Gottes an sich gemacht werden. (Solche Wahrheiten stehen an anderen Stellen, zum  Beispiel in Johannes 1,14.) Die eigentliche Frage ist, ob das Wort „Gott“ in 1. Timotheus 3,16 tatsächlich das ausdrückt, was an dieser Stelle gesagt werden soll. Im Zusammenhang der Stelle geht es gar nicht darum, ob er, der offenbart worden ist, Gott ist (obwohl das an sich sicherlich wahr ist), sondern es soll gesagt werden, dass eine Person im Fleisch offenbart worden ist, die auch diese übrigen Dinge („gerechtfertigt im Geist usw.“) in wunderbarer Weise in sich vereint. Wer anders als der Sohn Gottes könnte hier gemeint sein?

Ein Ausleger schreibt im Blick auf die Lesarten in 1. Timotheus 3,16:

Wenn man die besser bezeugte Lesart abwägend betrachtet, wird man bald zu der freudigen Entdeckung kommen, dass die Verwendung des Relativpronomens in diesem Zusammenhang viel genauer ist, während sie dieselbe Wahrheit (wie die Verwendung des Wortes ,Gott‘) voraussetzt. Welchen Sinn hätte es denn zu sagen, dass Adam oder Abraham, David, Jesaja, Daniel oder irgendein anderer Mensch im Fleisch offenbart wurde? Wenn ein Engel sich so offenbarte, dann wäre es Empörung gegen die göttliche Ordnung. Für den Menschen als solchen gibt es keinen anderen Weg als das Fleisch; der Mächtigste und Weiseste, der begabteste Redner, Dichter, Soldat oder Politiker ist ebenso wie der geringste von Frauen Geborene nur Fleisch. Nicht so jedoch der eine Mittler zwischen Gott und Menschen. Er ließ sich zwar herab, Mensch zu werden, aber Er war wesensmäßig und ewig Gott.[9]

Der Unterschied der beiden Lesarten in 1. Timotheus 3,16 konnte übrigens sehr leicht entstehen, weil die alten Handschriften normalerweise Abkürzungen verwendeten und dann unterscheidet sich die Abkürzung für „Gott“ und das Wort „er, der“ nur um einen kleinen Strich. Es muss hier also noch nicht einmal eine absichtliche Änderung vorliegen.

In 2. Timotheus 2,19 steht: „Jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit!“ Der Textus Receptus liest jedoch nicht „den Namen des Herrn“, sondern „den Namen Christi“. Die Verantwortlichkeit eines Dieners – und um die geht es hier – wird viel genauer durch „Herr“ ausgedrückt, als durch „Christus“. Die Lesart „Christi“ ist außerdem äußerst schlecht bezeugt – auch der Mehrheitstext liest „Herr“.

In 2. Timotheus 4,1 lesen die ältesten Handschriften: „Ich bezeuge ernstlich vor Gott und Christus Jesus, der da richten wird Lebendige und Tote, und bei seiner Erscheinung und seinem Reich …“ Der Textus Receptus macht die Erscheinung und das Reich jedoch nicht zu einem Teil der feierlichen Bezeugung von Paulus, sondern liest „der da richten wird Lebendige und Tote bei (o. während) seiner Erscheinung und seinem Reich“. Der Textus Receptus ist wahrscheinlich ein Versuch, die lange Satzkonstruktion zu glätten. Dabei ist – wie so oft, wenn der Mensch Gottes Wort „verbessern“ will – eine unrichtige Lehre in den Text der Heiligen Schrift eingedrungen, denn „Tote“ wird Jesus Christus nicht bei Seiner Erscheinung richten, sondern erst vor dem großen weißen Thron (siehe Off 19).

In Hebräer 7,17 steht in den alten Handschriften: „Denn ihm wird bezeugt: ,Du bist Priester in Ewigkeit.‘“ Der Textus Receptus liest jedoch: „Denn er bezeugt: ,Du bist Priester in Ewigkeit.‘“ Der Textus Receptus verflacht hierbei diese Stelle merklich: Er sagt nicht mehr aus, dass die Aussage aus Psalm 110 gerade „ihm“ (d.h. dem Herrn Jesus) und keinem anderen bezeugt wird.

In Jakobus 2,18 lesen die alten Handschriften: „Zeige mir deinen Glauben ohne die Werke, und ich werde dir meinen Glauben aus meinen Werken zeigen.“ Der Textus Receptus liest hingegen: „Zeige mir deinen Glauben aus deinen Werken, und ich werde dir meinen Glauben aus meinen Werken zeigen.“ Der Textus Receptus zerstört den feinen Sinn dieser Stelle: Der Nachsatz von Vers 18 wird zu einer sinnlosen und überflüssigen Wiederholung. Es soll aber betont werden, dass der von Jakobus Angesprochene nicht überzeugend handelt: Er meint, man könne seinen Glauben auch ohne Werke sehen. Jakobus sagt darauf mit anderen Worten: Das ist unmöglich, denn wie soll man die Behauptung prüfen können, wenn man keine Werke sehen kann? Ich hingegen behaupte nicht nur meinen Glauben (der ohne die zugehörigen Werke nur leere Behauptung bleibt), sondern kann ihn durch die Werke auch zeigen, das heißt belegen. Hier liegt wieder der für Jakobus so typische Unterschied zwischen reden und tun vor.

Jakobus 4,12 sagt von Gott, er sei „der Gesetzgeber und Richter“. Der Textus Receptus lässt jedoch die Worte „und Richter“ weg. Die kürzere Lesart des Textus Receptus verflacht den Sinn, denn im ganzen Zusammenhang des Verses soll betont werden, dass alles von Gott ausgeht, sowohl die Gabe des Gesetzes, als auch das Gericht nach diesem Gesetz.

In 1. Petrus 2,2 wünscht der Schreiber seinen Lesern, dass sie nach der unverfälschten Milch von Gottes Wort begierig sein sollten und fügt hinzu: „damit ihr durch diese wachst zur Errettung“. Die beiden Worte „zur Errettung“ fehlen jedoch in den späteren Handschriften und dem Textus Receptus. Es ist auch sehr leicht verständlich, warum man diese Worte fortgelassen hat, denn „Errettung“ wurde und wird oftmals (fälschlicherweise) nur als einzelnes Ereignis in der Vergangenheit des Gläubigen verstanden[10], so dass man leicht an der Formulierung „wachsen zur Errettung“ Anstoß nehmen konnte und kann. In Wirklichkeit kennt die Bibel auch die Sicht, dass unsere Errettung noch nicht erfolgt ist, sondern erst in der Zukunft abgeschlossen wird, wenn der völlige Sieg bei der Offenbarung Christi sichtbar wird. In diesem Sinn kann man zur Errettung „wachsen“. In den Schriften von Petrus ist diese Sicht von „Errettung“ die übliche (vgl. z.B. 1Pet 1,5.9; 4,18; 2Pet 3,15) und daher auch in 1. Petrus 2,2 sehr passend. Wieder einmal erweist sich eine vermeintliche Ungenauigkeit in Wirklichkeit als eine präzise und genaue Ausdrucksweise, wie man sie in der Schrift gewohnt ist. Einmal mehr erweist sich der Geist Gottes weiser als der Verstand des Menschen.

In 1. Petrus 3,15 steht die Aufforderung: „Heiligt Christus, den Herrn, in euren Herzen.“ Dieser Vers ist eine Anspielung auf Jesaja 8,12-13; dort soll „Jahwe der Heerscharen“ in den Herzen geheiligt werden, was in der Parallelstelle in 1. Petrus 3 leicht zur Änderung von „Christus“ in „Gott“ führen konnte. So liest dann auch der Textus Receptus: „Heiligt Gott, den Herrn, in euren Herzen.“ Leider wird so durch den Textus Receptus der Bezug von Jesus Christus als Jahwe der Heerscharen im Alten Bund getrübt.

In 1. Petrus 3,21 steht: „Welches Gegenbild auch euch jetzt errettet, das ist die Taufe.“ Der Textus Receptus liest aber nicht „euch“, sondern „uns“. Hier geht es jedoch um die christliche Wassertaufe, die der Apostel Petrus nicht erlebt hat (er war nur vom Täufer Johannes getauft worden), deshalb ist das Pronomen „euch“ passender als „uns“.

In 1. Johannes 2,7 redet der Schreiber die Leser in den ältesten Handschriften mit „Geliebte“ an, im Textus Receptus benutzte er die Anrede „Brüder“. Der ganze Zusammenhang macht jedoch deutlich, wie viel passender die Anrede „Geliebte“ ist. Ein Ausleger schreibt treffend:

Aber der Apostel ist noch nicht so weit gekommen, die Anrede „Brüder“ zu benutzen. „Brüder“ sagt er etwas später, in 1. Johannes 3,13, übrigens das einzige Mal als Anrede in diesem Brief. Jetzt beschäftigen ihn nicht in erster Linie unsere gegenseitigen Beziehungen, sondern die Liebe ist zunächst der Gegenstand, über den er schreiben möchte. Seine Anrede steht damit in trefflicher Übereinstimmung. „Kinder“ und „Geliebte“ sind seine üblichen Worte und auch hier ist die richtige Lesart „Geliebte“.[11]

In 3. Johannes 5 wird der Briefempfänger Gajus mit den Worten gelobt „getreulich tust du, was irgend du an den Brüdern, und zwar an fremden, tust“. Der Textus Receptus und der Mehrheitstext lesen jedoch nicht „an den Brüdern, und zwar an fremden“, sondern „an den Brüdern und an den Fremden“. Der Textus Receptus unterscheidet also zwei Gruppen: (1) Brüder, (2) Fremde. Diese Lesart beschneidet den Sinn, denn der Zusammenhang des Briefes macht klar, dass es sich bei denen, die Gajus aufnahm, nur um Gläubige handeln konnte. Denn nur von Gläubigen kann gesagt werden „Zeugnis ablegen vor der Versammlung“, „für den Namen (d.h. den Namen des Herrn Jesus) ausgehen“ und „nichts von denen aus den Nationen nehmen“ (3Joh 6.7). Wäre die Lesart des Textus Receptus richtig, dann würde der inspirierte Schreiber Johannes „Brüder“ und „Fremde“ unterscheiden – als ob die Fremden dann keine Brüder wären! Gemeint ist vielmehr: Brüder, und zwar nicht solche, die du kennst, sondern fremde.

In Offenbarung 1,2 lesen die Handschriften fast ausnahmslos so, dass Johannes „das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi, alles, was er sah“ bezeugt. Eine andere Lesart fügt jedoch am Schluss ein „und“ ein und sagt nun, dass Johannes bezeugt habe „das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi und alles, was er sah“. Diese längere Lesart ist für den Sinn störend. Denn hierdurch würde angedeutet, dass das, was Johannes bezeugte, nicht mit dem Wort Gottes und dem Zeugnis Jesu Christi identisch ist, sondern eine weitere Kategorie bildet. Johannes möchte dagegen offenbar sagen, dass ihm durch das, was er in den Visionen der Offenbarung sah, das Zeugnis Jesu Christi offenbart worden ist. Gerade dadurch erhalten seine Worte eine besondere Autorität.

In Offenbarung 5,14 lesen die Handschriften: „Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.“ Der Textus Receptus ergänzt diesen Text am Schluss mit den Worten „… und beteten (den) an, (der) da lebt in alle Ewigkeit“. Aber die Lesart des TR kann nicht ursprünglich sein, denn

  • sie fehlt in allen (!) griechischen Handschriften vor dem 16. Jahrhundert;
  • sie ist fehlerhaftes Griechisch, weil der Artikel vor „da lebt“ fehlt;
  • sie nimmt von dem Sinn weg, denn nach Vers 13 gilt die Anbetung dem Vater und dem Sohn, nach der Hinzufügung des TR aber nur dem Vater.

Die Zufügung geht zweifellos auf Erasmus von Rotterdam zurück, der es oberflächlich aus dem Lateinischen (wo es keinen Artikel gibt) ins Griechische zurückübersetzte.

In Offenbarung 6,1 lesen die älteren Handschriften: „Und ich hörte eines von den vier lebendigen Wesen wie eine Donnerstimme sagen: Komm!“ Viele jüngere Handschriften lesen dort jedoch nicht nur „Komm!“, sondern „Komm und sieh!“, womit dann Johannes angesprochen wäre. Aber die vier lebendigen Wesen sprechen in der Offenbarung nie mit dem Seher Johannes selbst; wie in Offenbarung 15,7 sind sie aber diejenigen, die Gerichte eröffnen. Daher gilt die Aufforderung „Komm!“ nicht dem Seher Johannes, sondern den jeweiligen Reiter auf den Pferden. Dasselbe ist in Offenbarung 6,3.5 und 7 der Fall. Die spezielle griechische Form des Wortes für „und sieh“ unterscheidet sich übrigens von dem Wort im Mehrheitstext. Der Textus Receptus findet sich exakt so, wie er dort steht, in keiner einzigen Handschrift; es ist wieder eine Rückübersetzung von Erasmus aus dem lateinischen Text.

In Offenbarung 11,17 erweitert der Textus Receptus den gewöhnlichen Text der meisten älteren Handschriften („der da ist und der da war“) mit dem Zusatz „und der da kommt“. Es lag zwar nahe, diese Worte in Anlehnung an Offenbarung 1,4.8; 4,8 auch hier zu ergänzen, aber „der da kommt“ macht im Kontext von Offenbarung 11,17 keinen Sinn, weil der Herr hier als schon gekommen betrachtet wird.

In Offenbarung 15,3 lesen die alten und jungen Handschriften: „o König der Nationen!“, der Textus Receptus jedoch: „o König der Heiligen!“ Diese Lesart des Textus Receptus ist in griechischen Handschriften nicht nachweisbar. Auch hier liegt eine Neuschöpfung von Erasmus von Rotterdam vor. Theologisch gesehen muss die Lesart „König der Heiligen“ ebenfalls verworfen werden, was ein Ausleger folgendermaßen erklärt: „Die Bezeichnung ,König der Heiligen‘ ist sehr unschriftgemäß. Es ist ein sehr bedeutsamer Fehler, denn die übliche Vorstellung der Beziehung eines Königs zu seinem Volk ist die von Abstand und abgestuften Rängen, bei denen jeder seinen Platz in gewisser Nähe oder gewissem Abstand vom König hat; folglich gäbe es auch alle möglichen Formen von Unterschieden zwischen den Heiligen selbst. Aber das ist in der Kirche Gottes nicht der Fall, denn auch der geringste Christ ist nicht weniger ein Glied am Leib Christi als der größte. Die Tatsache der Gliedschaft am Leib setzt alle diese Fragen von relativen und verschiedenen Abständen beiseite. Im Reich gibt es diese Unterschiede sehr wohl.“[12]

In Offenbarung 21,10 lesen die alten Handschriften: „die heilige Stadt, Jerusalem“; der Textus Receptus liest: „die große Stadt, das heilige Jerusalem“. Der Engel zeigte dem Seher Johannes sowohl die Braut des Lammes (Off 21), als auch die große Hure (Off 17), die in auffallendem Gegensatz zueinander stehen. Aber nur die „Hure“ in Offenbarung 17 wird die „große Stadt“ genannt (Off 17,18; 18,10.16.18-19.21 vgl. auch Off 16,19), die wahre Braut ist die „heilige Stadt“ (Off 21,2; 22,19).

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Anmerkungen

[1] W. Kelly: Exposition of Mark, Seite 156.

[2] Die Lesart „Joseph und seine Mutter“ ist auch in den Textus Receptus eingedrungen. Verteidiger dieser Textfassung sagen dann manchmal, dass die Lesart „seine Eltern“ unehrerbietig sei. Diese Begründung ist jedoch für den Textus Receptus nicht stichhaltig, da genau derselbe Ausdruck („seine Eltern“) zwei Verse vorher (Lk 2,41) Verwendung findet.

[3] W. Kelly in Bible Treasury, Bd, 13, S. 302–302.

[4] Der Vorwurf, der Herr habe mit den Worten „Ich gehe nicht zu diesem Fest“ die Unwahrheit gesagt, ist ein häufiger Vorwurf, den die Verteidiger des Textus Receptus oft gegen andere Textforscher erheben. Dabei ist ihnen wohl nur selten bewusst, dass sie hierbei in dasselbe Horn stoßen wie der Christenfeind und neuplatonische Philosoph Porphyrios im 3. Jahrhundert. Auch er warf dem Herrn vor, in Johannes 7,8 eine Unwahrheit ausgesprochen zu haben. Der Hinweis auf Porphyrios ist auch deshalb bemerkenswert, weil klarwird, dass man zu seiner Zeit die Lesart mit dem eingefügten „noch“ noch nicht kannte – sonst hätte der Vorwurf von Porphyrios ja keinen Sinn gehabt. Die Lesart des Textus Receptus ist also nicht ursprünglich. Es ist andererseits verständlicher, dass man ein „noch“ in Johannes 7,8 einfügte, um Kritikern wie Porphyrus den Wind aus den Segeln zu nehmen.

[5] Der Textforscher Tischendorf sagt, dass diese Lesart in kaum einer Minuskel zu finden sei; aber die Tatsache, dass er keine einzige nennt, spricht sogar dafür, dass er gar keine entsprechende Handschrift nennen konnte. Vermutlich handelt es sich auch hier um eine Stelle, wo Erasmus aus dem lateinischen Text ins Griechische zurückübersetzt hat, denn die Vulgata übersetzt hier „zuvor gepredigt“.

[6] W. Kelly, Lectures on the Church of God.

[7] Diese Lesart bietet auch der Textus Receptus. Trotzdem hat die Bibelübersetzung „Schlachter Version 2000“ hier „Auferstehung aus den Toten“, obwohl im Vorwort darauf hingewiesen wird, dass man sich streng nach dem Textus Receptus richte.

[8] Radikale Verfechter des Textus Receptus haben hierauf freilich eine Antwort: Sie erheben den Vorwurf, man habe im Bibeltext aus ketzerischen Gründen einen Hinweis auf das Blut Christi gestrichen. Solche „Verschwörungstheorien“ können nicht erklären, warum
a) dieselben Worte in Epheser 1,7 dann nicht auch gestrichen worden sind und
b) warum sogar in demselben Kapitel (Kol 1) nur sechs Verse später von dem Frieden durch „das Blut seines Kreuzes“ die Rede ist (Kol 1,20). Läge eine planmäßige „Säuberung“ des Textes vor, hätte das nicht passieren können.

[9] W. Kelly: Exposition of the Two Epistles to Timothy, 3. Auflage 1948, S. 72–73. Zitiert nach: A. Remmers: Du aber … Eine Auslegung zum ersten und zweiten Timotheusbrief, Hückeswagen 2001, S. 102–103.

[10] Dieser Sinn liegt zum Beispiel in Kolosser 1,13 vor.

[11] W. Kelly: Was von Anfang war. Eine Auslegung der Johannesbriefe, S. 108.

[12] W. Kelly: 1 Chronicles and 2 Chronicles.


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